Isabel Allende: "Porträt in Sepia"


"Ich suche die Wahrheit und Schönheit in der Durchsichtigkeit eines herbstlichen Blattes, in der vollendeten Form einer Muschel am Strand, in der Rundung einer weiblichen Schulter, im Gefüge eines alten Baumstumpfes, aber auch in anderen uns immer entgleitenden Formen der Wirklichkeit", sagt Aurora del Valle über ihre Berufung als Fotografin.

Die Wahrheit ihrer Herkunft zu enträtseln wird eine geraume Zeit ihres Lebens beanspruchen. An die Jahre ihrer frühen Kindheit erinnert sich Aurora nur bruchstückhaft, erst ab dem Zeitpunkt, wo sie in das Haus ihrer Großmutter Paulina del Valle in San Francisco zieht, ist ihre Erinnerung lückenlos. Ihre Großmutter, die eine sehr bestimmende Persönlichkeit und eine bekannte Dame der Gesellschaft ist, liest ihrer Enkelin jeden Wunsch von den Augen ab, doch Fragen nach ihrer Herkunft oder nach ihren Eltern werden nicht beantwortet. In den Alpträumen, die Aurora seit ihrer Kindheit quälen, tauchen aber immer beängstigende Scherben ihrer Kindheit und Erinnerungen an ihre Großeltern mütterlicherseits auf. Als der Gatte von Paulina stirbt und Paulina del Valle erkennen muss, dass sie ohne Gatten nicht über die Stellung in San Francisco verfügen kann, die sie gewohnt ist, beschließt sie ihren Haushalt in San Francisco aufzulösen und nach Chile zurückzukehren. Dort lernt Aurora den Rest der Familie kennen, unter Anderem auch Severo del Valle, einen Neffen Paulinas, mit seiner Familie, die Aurora große Zuneigung entgegenbringt. Mit einer Kamera, die sie von Severo del Valle geschenkt bekommen hat, versucht sie ausgeklügelte Mechanismen zu entwickeln, um die Mitwirkenden ihres Alptraumes auf Papier zu bannen, was letztendlich nicht gelingen kann, sie aber ihre Berufung, nämlich die Fotografie, erkennen lässt. Aurora vermag ihre Großmutter zu überreden den Beruf der Fotografin erlernen zu dürfen, und so lernt sie bei einem der bekanntesten Fotografen Chiles. Don Juan Ribero erkennt ihre große Begabung und ermutigt sie, mit der Kamera auf die Straße zu gehen und mit weit offenen Augen zu schauen, den Menschen in ihre Seelen zu blicken.

Der Wunsch, ihre Herkunft zu ergründen, wird immer zwingender, und als der Sohn Paulinas nach Chile kommt, schwer gezeichnet von Krankheit, und sich als ihr Vater zu erkennen gibt, ist das ein kleines Puzzleteilchen, um dem Bild ihrer Herkunft näher zu kommen.
Auf einer Europareise mit ihrer Großmutter und deren Gatten lernt Aurora ihren zukünftigen Mann kennen und lieben. Doch nach ihrer Hochzeit muss sie rasch erkennen, dass ihr Gatte eine Andere liebt und jegliche Bemühungen ihrerseits, ihn doch für sich zu gewinnen, erfolglos verlaufen. Sie entschließt sich, in das Haus ihrer Großmutter zurückzukehren, da diese im Sterben liegt. Auch nach dem Tod von Paulina del Valle wird Aurora dort bleiben, um endgültig Klarheit über ihre Herkunft zu gewinnen und letztendlich Liebe und Zärtlichkeit zu finden.

Das Schicksal Aurora de Valles, welches eng verbunden mit dem Schicksal ihrer Familie ist, wird von Isabel Allende eindrucksvoll beschrieben. In schillernden Farben wird die Gesellschaft zwischen 1862 und 1910 gezeichnet. Die Menschen in diesem Buch kommen dem Leser so nahe, als wären es enge Bekannte, und dadurch vermögen ihre Schicksale auch so zu berühren. Der Leser leidet, fiebert und lacht mit und spürt permanent die große Verbundenheit und Liebe zu Chile.

Mit dem Roman "Porträt in Sepia" ist der 1942 in Chile geborenen Autorin Isabel Allende eine Geschichte gelungen, die berührt, den Leser nicht zu Ruhe kommen lässt und bis zum letzten Wort fesselt.

(Margarete Wais)


Isabel Allende: "Porträt in Sepia"
Aus dem Spanischen von Lieselotte Kolanoske.
Suhrkamp.
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Ein weiteres Buch der Autorin:

"Mayas Tagebuch"

Die neunzehnjährige Maya ist auf der Flucht. Vor ihrem trostlosen Leben in Las Vegas, der Prostitution, den Drogen, der Polizei, einer brutalen Verbrecherbande. Mit Hilfe ihrer geliebten Großmutter gelangt sie auf eine abgelegene Insel im Süden Chiles. An diesem einfachen Ort mit seinen bodenständigen Bewohnern nimmt sie Quartier bei Manuel, einem kauzigen alten Anthropologen und Freund der Familie. Nach und nach kommt sie Manuel und den verstörenden Geheimnissen ihrer Familie auf die Spur, die mit der jüngeren Geschichte des Landes eng verbunden sind. Dabei begibt Maya sich auf ihr bislang größtes Abenteuer: die Entdeckung ihrer eigenen Seele. Doch als plötzlich Gestalten aus ihrem früheren Leben auftauchen, gerät alles ins Wanken.
"Mayas Tagebuch" erzählt von einer gezeichneten jungen Frau, die die unermesslichen Schönheiten des Lebens neu entdeckt und wieder zu verlieren droht. Ein unverwechselbarer Allende-Roman: bewegend, spannend und mit warmherzigem Humor geschrieben. (Suhrkamp)
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