Alai: "Roter Mohn"
Der vorliegende Roman
ist in der Volksrepublik China im Jahre 2000 mit dem wichtigsten Literaturpreis
des Landes, dem Mao-Dun-Preis ausgezeichnet worden und hat sich neben viel positiver
Kritik allerorts längst eine Millionenleserschaft erobert. Völlig
zurecht, sei gleich hinzugefügt - es handelt sich bei "Roter Mohn"
um einen ungemein kraftvoll und aus interessanter Perspektive vorgetragenen
Abgesang auf die untergegangene Welt des alten Osttibet.
Dieses Osttibet besteht zu
der Zeit, da der Roman spielt, den Dreißiger und Vierziger Jahren des
Zwanzigsten Jahrhunderts, aus 48 Fürstentümern, die nominell zwar
unabhängig, üblicherweise aber starkem Einfluss des großen chinesischen
Nachbarn ausgesetzt sind und am Ende des Buches von dessen Roter Armee auch
faktisch (1950) unterworfen werden. In den letzten Jahrzehnten vorher ist der
chinesische Einfluss jedoch gering, der Krieg gegen Japan und danach der Bürgerkrieg
ziehen alle Aufmerksamkeit von Tibet ab, wo noch einmal, während sich für
feine Ohren die Zeichen für einen Zeitenwandel mehren, ungestört eine
fremde Welt mit all ihren Merkmalen und Besonderheiten erblüht.
Der Roman spielt ausschließlich
in einem dieser Fürstentümer, dessen Landesherr, Fürst Maichi,
durch seine Geschäftbeziehungen mit Chinesen zu einem der mächtigsten
Fürsten aufgestiegen ist, das Silber, welches sich in seinen Kellern stapelt,
ist auf den Anbau von Mohn zurückzuführen, der größtenteils
als Opium nach China gelangt. Der Fürst hat auch eine chinesische zweite
Frau und von dieser den jüngeren seiner beiden Söhne, den icherzählenden
Helden des Buches. Dieser, im Alkoholrausch gezeugt, wird zwar von seiner ganzen
Familie, manchmal auch von Dienern und Leibeigenen als Idiot bezeichnet, doch
ist seine Sicht der Dinge,
wie er sie vor dem Auge des Lesers ausbreitet, so idiotisch nicht. Vielmehr
befindet er sich in bester Tradition der berühmten Narren der Weltliteratur,
naiv und gleichzeitig den Kern der Sache erblickend erscheint er einmal als
Idiot, dann als Junger Herr, bisweilen sogar als Profet, weiß sich vermittels
seiner Idiotenrolle nicht zuletzt einige Vorteile zu verschaffen und ist, bei
allen Anklängen an andere romaneske Narren, eine durchaus einzigartige,
schlüssig in ihrer Entwicklung gezeigte Figur. Für die Nachfolge auf
den Fürstentitel ist natürlich der ältere, durchwegs normale
Halbbruder vorgesehen, doch als eines Jahres sämtliche Fürsten in
ihrer Gier nach Reichtum und Macht fast ausschließlich auf Mohn setzen,
ein früher Frost das Getreide vernichtet und Fürst Maichi als einziger
Nahrungsüberschüsse aufzuweisen hat, schickt er seine beiden Söhne
mit den Überschüssen und zahlreichen Bewaffneten an die nördliche
bzw. südliche Grenze seines Reiches, dort ein notfalls verteidigungsfähiges
Fort zu errichten und der Dinge zu harren, die da kommen werden: es scheint
so, als plane er doch noch eine Art Konkurrenzveranstaltung, welcher seiner
Söhne der würdigere Nachfolger sei. Und eines der angrenzenden, vom
Hunger geplagten Fürstentümer wird von einer Fürstin regiert,
die eine Tochter hat so schön, dass Beschreibung innerhalb einer Rezension
Frevel wäre.
Liebesgeschichten,
Palastintrigen, Kriege, leidenschaftliche Gefühle,
kluge Einfälle und der Lauf der großen Geschichte bestimmen das äußere
Geschehen. Den Hintergrund bildet eine alte, feudale Welt, in der die meisten
Menschen Leibeigene sind und auch Freie leicht - etwa durch eine Heirat - zum
Leibeigenen werden können. Diese Strukturen werden von den Menschen nichtsdestotrotz
als gleichsam ewige Gesetze hingenommen, eine große Opferbereitschaft
den Fürsten gegenüber ist nicht selten, wie man überhaupt weniger
am eigenen Leben - dieses ist schließlich rasch vorbei -, sondern stärker
an ideellen Werten hängt. Erst recht nicht hinterfragen natürlich
die Fürsten, machen mit großer Selbstverständlichkeit von den
enormen Privilegien, die ihnen ihr Status bietet, Gebrauch. Wohl sind sie gleichzeitig
bemüht, Milde, besonnenes Vorgehen und Gerechtigkeit walten zu lassen,
freilich bleibt immer ein gehöriger Gefahrenrest der Anfälligkeit
für willkürliche Entscheidungen, teure Launen und Leidenschaften bestehen,
und der Hinrichtungspfahl auf dem großen Platz wurde nicht für die
Vögel errichtet. Seit vielen Generationen halten sich die Fürsten
Maichi nämlich ihren eigenen Henker, der einzige Sohn des derzeitigen ist
übrigens der beste Freund des Idioten, sofern ein Leibeigener solches sein
kann.
Von einem anderen Beruf
bei Hof, dem des Chronikenschreibers, wurde hingegen wieder Abstand genommen,
als es der gute Mann mit dem Niederschreiben von Tatsachen zu genau genommen
hat; dank dem Idioten wird diese Funktion wiederbelebt. Zwei Missionare kommen
nämlich aus der Ferne und bemühen sich um Fürst Maichis Gunst.
Der eine, ein Engländer, versetzt den Palast mit seinen Erzählungen
vom Gekreuzigten zunächst in herzerreißende Weinkrämpfe, ist
aber, als er die Erlaubnis bekommt, in der Umgebung Steine (als da sind diverse
Edelsteine und vor allem Silber) zu sammeln, plötzlich nicht mehr sonderlich
an Religion interessiert und macht sich bald mit einem vollbeladenen Maultier
auf den Heimweg. Den anderen jedoch, einen Gelbmützenmönch aus Lhasa,
den der vorort gepflogene Buddhismus wie halbes Heidentum anmutet, wird man
nicht mehr los, sodass ihm, da er nicht aufhört, die lockeren Sitten im
Palast und bei den örtlichen Lamas anzuprangern, kurzerhand die Zunge herausgezogen
wird, eine Arbeit übrigens für den Henker mit seinen
vielen Instrumenten, die keineswegs alle zum Töten bestimmt sind. Nun,
der Stumme wird neuer Geschichtsschreiber, Freund und Vertrauter des Idioten
und verkörpert in seinem Bemühen um innere Vervollkommnung und Gelassenheit
in dem Roman die große spirituelle Kraft des Landes, was wohl als kleine
Ehrenbezeugung dem Potala gegenüber zu werten ist.
Alai kann es sich leisten,
da er, wie sein Held Sohn eines tibetischen Vaters und einer chinesischen Mutter,
die Chinesen nicht mit fremden Augen sieht und sie dementsprechend mit ausgeglichener
Freundlichkeit beschreibt, den Einmarsch der Rotchinesen als eine Art unvermeidbare
Naturgewalt darstellt, ansonsten in feinnuancierten humorvollen Wendungen über
die Eigenheiten von chinesischer und tibetischer Mentalität behutsame Brücken
zwischen den beiden Völkern schlägt. Seine besondere Leistung ist
aber das Portrait des alten Osttibet an der Schwelle zu einer neuen Zeit, welches
dank des Autors Vorstellungskraft, genauer Charakterzeichnung und nicht zuletzt
dank der zahlreichen Recherchen und Gespräche mit sich Erinnernden, die
Alai vor der Niederschrift des Romans geführt hat, eine große Wahrhaftigkeit
vermittelt.
(fritz; 09/2004)
Alai: "Roter Mohn"
(Originaltitel "Chen'ai luoding")
Aus dem Chinesischen von Karin Hasselblatt.
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Alai, geboren 1959 in der Nähe von Markang (Nord-Sichuan), begann Anfang der 1980er-Jahre Gedichte und Erzählungen in der Zeitschrift "Tibetische Literatur" zu veröffentlichen. Später zog er nach Chengdu, wo er Chefredakteur von "Science Fiction World" wurde, Chinas größtem Science-Fiction-Magazin. "Roter Mohn" ist sein erster Roman.
"Sharü"
Zur gleichen Zeit ließ die Frau des Fürsten, meine Mutter, im ganzen
Haus nach mir suchen.
Wäre mein
Vater zu Hause gewesen, er hätte mich nicht an solchen Spielen gehindert. Doch
in diesen Tagen war Mutter für alles zuständig. Die Diener fanden mich schließlich
im Obstgarten. Die Sonne stand hoch am Himmel, sodass der Schnee blendete und
man die Augen kaum aufbekam. Ich knabberte an den kleinen Vogelknochen, und
meine Hände waren voller Blut. Mit den Kindern der Leibeigenen, deren Gesichter
und Hände ebenfalls blutbeschmiert waren, kehrte ich nach Hause zurück, wo die
Hunde uns wegen des starken Blutgeruchs besonders lautstark begrüßten. Im Haus
angekommen sah ich meine Mutter auf dem oberen Treppenabsatz stehen und mit
ernster Miene auf uns herniedersehen. Die kleinen Diener begannen heftig zu
zittern. Ich wurde hinaufgebracht, um neben dem Kohlenbecken meine feuchte Kleidung
zu trocknen.
Im Hof hörte
ich eine Lederpeitsche durch die Luft sausen. Es klang ein bisschen wie das
Niederstürzen eines Falken, der seine Beute ergreift. In diesem Augenblick hasste
ich meine Mutter, hasste die Frau des Fürsten Maichi. Als habe sie Zahnschmerzen,
hielt sie sich die Wange und sagte: "Du hast nicht die Knochen eines Unwürdigen
im Leib."
"Knochen",
das ist bei uns hier kein gewöhnliches Wort, genauso wie der Begriff "Wurzel".
Das Wort
"Wurzel" ist bei uns kurz und knapp: "Nyi."
Das Wort
für "Knochen" dagegen hat einen stolzen Klang: "Sharü."
Die Welt
besteht aus Wasser, Feuer, Wind und Luft. Menschen dagegen sind aus Knochen
gemacht oder aus Wurzeln.
Ich hörte
meiner Mutter zu, sog die Wärme der frisch angezogenen Kleidung auf und dachte
über das Problem der Knochen nach, ohne allerdings zu einem Ergebnis zu kommen
- stattdessen spürte ich die Drosseln in meinem Bauch ihre Flügel ausbreiten,
hörte die Peitsche auf die Rücken meiner zukünftigen Haustiere niederknallen.
Jugendliche Tränen begannen meine Wangen hinunterzulaufen. Die Frau des Fürsten
meinte, ihr Sohn zeige Reue, strich mir über den Kopf und sagte: "Denke immer
daran, mein Sohn, du kannst auf ihnen reiten wie auf Pferden, kannst sie schlagen
wie Hunde, nur darfst du sie nicht als Menschen ansehen." Sie hielt sich für
sehr klug, aber ich denke, selbst kluge Menschen sind manchmal strohdumm. Ich
mag zwar ein Idiot sein, doch bin ich anderen zuweilen überlegen. Deshalb konnte
ich nicht anders und lachte, noch Tränen in den Augen, laut auf.
Ich hörte
den Verwalter, die Amme und die Dienerin fragen: "Was hat der Junge Herr?" Doch
ich sah sie nicht. Erst dachte ich, ich hätte die Augen geschlossen. Doch sie
waren weit geöffnet, und so schrie ich laut: "Meine Augen sind weg!"
Damit wollte
ich sagen, dass ich nichts mehr sehe.
Der Sohn
des Fürsten hatte rot geschwollene Augen, und der kleinste Lichtstrahl schmerzte
wie das Stechen von Stahlnadeln.
Der auf Heilkunst
spezialisierte Lama der Monpa-Nationalität sagte, ich sei vom grellen Licht
im Schnee geblendet worden. Er verbrannte einen Wacholderzweig und
etwas
Medizin und räucherte mich so stark mit Qualm ein, dass man meinen
konnte, er wolle für die Drosseln Rache üben. Dann hängte er ehrfürchtig ein
Bild vom Buddha der Medizin neben mein Bett. Im Nu wurde ich, der ich eben noch
laut geschrien und getobt hatte, vollkommen ruhig.
Als ich aufwachte,
brachte mir der Monpa-Lama eine Schale sauberes Wasser. Er schloss das Fenster,
ließ mich die Augen weit öffnen und in die Schale sehen.
Ich sah Lichter
funkeln wie von Sternen am nächtlichen Himmel. Das Licht ging von Luftblasen
aus, die im Wasser nach oben stiegen. Dann sah ich auf dem Grund der Schale
dicke Gerstenkörner liegen. Sie waren es, die die glitzernden Luftblasen ausspuckten.
Im Nu fühlten meine Augen sich viel kühler an.
Der Monpa-Lama
verneigte sich, um dem Buddha der Medizin zu danken. Dann packte er seine Sachen,
um in der Heiligen Halle Gebete für mich zu lesen.
Ich nickte
kurz ein, wurde aber vom Geräusch mehrerer Kotaus an der Tür wieder geweckt.
Die Mutter von Sonam Tserang lag vor der Herrin auf den Knien und flehte um
Gnade für ihren unwürdigen Sohn.
Meine Mutter
fragte mich: "Siehst du das?"
"Ja."
"Siehst du
es wirklich?"
"Ich sehe
es wirklich."
Nach dieser
Bestätigung befahl die Frau des Fürsten: "Bringt den kleinen Bastard hinunter
und gebt ihm zwanzig Peitschenhiebe!" Seine Mutter dankte der meinen und ging
hinunter. Wie sie so heulte, dachte man, der Sommer sei gekommen und Bienen
summten zwischen den Blumen im Kreis herum.
Ach, da ich
im Augenblick ans Bett gefesselt bin, lassen Sie mich weiter von den Knochen
erzählen. In der Gegend, aus der unsere Religion kommt, sprach man von Knochen
als "Kasten". Sakyamuni kam aus einer besonders noblen Kaste in Indien - das
Land der weißen Gewänder. In dem Land, in dem wir die Macht besitzen, China
- das Land der schwarzen Gewänder -, werden "Knochen" mit Türschwellen in Verbindung
gebracht. Dieses schwer zu übersetzende Wort meint wahrscheinlich die Höhe der
Türschwellen. Wenn dem wirklich so wäre, müsste an der Tür zum Hause des Fürsten
eine besonders hohe Schwelle angebracht sein. Meine Mutter kommt aus einer armen
Familie. Nachdem sie in die Familie Maichi eingeheiratet hatte, achtete sie
sehr auf diese Dinge. Sie wollte das Gehirn des Idioten immer bis zum Rand damit
voll stopfen.
Einmal fragte
ich sie: "Könnten wir bei so hohen Türschwellen nicht von den Wolken her ein-
und ausgehen?
Sie lachte
bitter.
"Dann wären
wir keine Fürsten, sondern Unsterbliche." So sprach ihr Sohn, der Idiot, zu
ihr. Sie lachte enttäuscht, nur damit ich mich schuldig fühlte, weil aus mir
nie etwas werden würde.
Die Festung
von Fürst Maichi war in der Tat ein hoher Bau. Mit sieben Stockwerken und einem
Dach, dazu einem Kellerverlies, ragte es mehr als sechzig Meter hoch. Die vielen
Zimmer und zahllosen Türen waren durch Treppen und Flure miteinander verbunden,
so verschachtelt und kompliziert wie der Lauf des Lebens und das menschliche
Herz. Das Gebäude stand in einer bergigen Gegend hoch über zwei Flüssen, die
dort unten zusammenflossen, sodass man einen guten Blick auf einige Dutzend
Ansiedlungen an den Ufern hatte.
Die Menschen,
die dort wohnten, nannte man "Kaba". Alle Bewohner gehörten zu demselben "Knochen"
oder "Sharü". Sie bestellten ihre Felder und arbeiteten auf dem Anwesen des
Fürsten, wenn er sie brauchte, und sie erfüllten Botendienste zwischen mehr
als zweitausend Familien in über dreihundert Ansiedlungen in einem Umkreis von
hundertachtzig Kilometern in westöstlicher Richtung und mehr als zweihundert
Kilometern in nordsüdlicher Richtung von der Festung aus. Ein Sprichwort der
"Kaba" sagt: Wenn dein Hinterteil in Flammen steht, liegt es an der Feder auf
dem Brief des Fürsten. Sobald der Gong auf dem Dach des Fürsten erklang zum
Zeichen, dass ein Brief fortgebracht werden müsse, musste sich jemand aufs Pferd
setzen, selbst wenn seine Mutter gerade im Sterben lag.
In den Bergen
und Tälern links und rechts des Flusslaufes sah man eine Ansiedlung neben der
anderen. Die Bewohner lebten von Ackerbau und Viehzucht. Ihnen standen Führer
unterschiedlicher Ränge vor. Die Führer verwalteten die Ansiedlungen, und die
Fürstenfamilie wiederum kontrollierte die Führer. Die Menschen, die von den
Führern regiert wurden, waren das einfache Volk. Sie machten den größten Teil
der Bevölkerung aus und gehörten alle dem gleichen "Knochen" an. Menschen aus
dieser Klasse konnten aufsteigen und ihrem eigenen "Knochen" durch adliges Blut
mehr Gewicht verleihen. Sehr viel wahrscheinlicher war aber der Niedergang,
und wenn das geschah, war es fast unmöglich, wieder auf die Beine zu kommen.
Denn der Fürst zog es vor, möglichst viele freie Bürger zu unfreien Sklaven
werden zu lassen. Sklaven waren Haustiere, die man nach Belieben kaufen, verkaufen
und zur Arbeit antreiben konnte. Und es ist leicht, freie Menschen in Leibeigene
zu verwandeln - man braucht nur Gesetze zu erlassen, gegen die jedermann leicht
verstößt, das ist alles. Das ist noch sicherer als die Fallen, die erfahrene
Jäger aufstellen.
So auch die
Mutter von Sonam Tserang. Sie war die Tochter einfacher Leute und damit selbst
eine Frau aus dem Volk. Der Fürst konnte nur über einen Führer Arbeit und Tribut
von ihr einfordern. Aber sie bekam ein uneheliches Kind, verstieß damit gegen
ein Gesetz und verurteilte so ihren Sohn und sich selbst zu einem Leben als
rechtlose Leibeigene.
Ein Gelehrter
sagte einmal, der Fürst habe keine Gesetze. Es stimmt, wir hatten kein geschriebenes
Gesetz, aber wir hielten uns an Vorschriften, die uns in Fleisch und Blut übergegangen
waren. Sie waren wirkungsvoller als so manches Gesetz, das heute niedergeschrieben
wird. Ich frage: "Ist das tatsächlich so?" Eine Stimme aus der fernen Vergangenheit
antwortet dröhnend: "So ist es, so ist es."
Jedenfalls
waren unsere damaligen Gesetze geeignet, Menschen von Freien zu Leibeigenen
werden zu lassen, nicht umgekehrt. Die Künstler, die diese Gesetze schufen,
waren Leute mit schweren, adeligen "Knochen". "Knochen" teilen die Menschen
in oben und unten.
Der Fürst.
Unter dem
Fürsten die Führer.
Die Führer
verwalten das einfache Volk.
Danach kommen
die "Kaba" (Boten, keine Kuriere). Zum Schluss die Familienleibeigenen. Und
dann gibt es noch Menschen, die ihre Position beliebig verändern können. Dazu
zählen Mönche und Priester, Kunsthandwerker, Magier, gute Unterhaltungskünstler.
Diese Leute lässt der Fürst gewähren, solange sie ihm nicht das Gefühl geben,
nicht zu wissen, was er mit ihnen tun soll.
Ein Lama
sagte einmal zu mir: "Die Tibeter, die in ihren von schneebedeckten Bergen umschlossenen
Gebieten leben, können angesichts des Bösen Schwarz und Weiß ebenso wenig unterscheiden
wie die stillen Chinesen;
und wenn sie nichts zu lachen haben, wirken sie dennoch fröhlich wie die
Inder."
China heißt
in unserer Sprache "Gyanag". Das bedeutet so viel wie "Reich der schwarzen Gewänder".
Indien heißt
"Gyagar". Das bedeutet "Reich der weißen Gewänder".
Der Maichi-Fürst
bestrafte den Lama später, weil er sich um Fragen Gedanken machte, über die
niemand tiefer nachdenken sollte. Ihm wurde die Zunge abgeschnitten, und er
starb aus Qual darüber, nicht sprechen zu können. Ich denke darüber so: Die
Zeit vor Sakyamuni war die der Propheten, seitdem aber brauchen wir nicht mehr
so viel nachzudenken. Wenn Sie sich für einen besonderen Menschen halten, aber
nicht als Adeliger geboren wurden, dann werden Sie Lama und zeichnen den Leuten
Bilder von ihrer Zukunft. Wenn Sie das Gefühl haben, über das Jetzt und das
menschliche Leben etwas zu sagen zu haben, dann tun Sie es schnell. Denn wenn
Sie keine Zunge mehr haben, können Sie überhaupt nichts mehr sagen. Sehen Sie
doch all die verrotteten Zungen, die einmal etwas sagen wollten.
Einfache
Leute haben zuweilen etwas zu sagen, warten aber bis kurz vor ihrem Tod damit.
Dies wären geeignete letzte Worte:
- Reich mir
etwas Honigwein.
- Bitte leg
mir einen kleinen Jadestein in den Mund.
- Es wird
gleich Tag.
- Ama, sie
sind da.
- Ich finde
meinen Fuß nicht.
- Himmel,
Himmel.
- Geister,
Geister!
und so weiter.