Tschingis Aitmatow: "Der Schneeleopard"
Kampf
zweier Ausgestoßener um einen Platz in ihrer Welt
Hoch in den kirgisischen Bergen, unweit der Grenze nach China, erlebt
der älter gewordene Schneeleopard Dschaa-Bars eine
Tragödie: Sein Weibchen hat sich einen jüngeren
Gefährten gesucht, den Dschaa-Bars nicht besiegen kann, er
vermag überhaupt keine Konkurrenten mehr zu besiegen. Und
nicht nur das, aufgrund seiner zunehmenden Kurzatmigkeit gelingt es ihm
auch nicht mehr, größere Beutetiere zu schlagen. Es
scheint, dass es für Dschaa-Bars keinen Platz mehr gibt in
seinen Bergen. Verzweifelt versucht er immer wieder, über
einen Pass ins benachbarte Tal zu gelangen, doch die dünne
Luft hält ihn stets zurück.
Ein anderer, für den es in seiner angestammten Welt keinen
Platz mehr gibt, ist Arsen Samantschin, ein Journalist, der es unter
Gorbatschow zu Ansehen gebracht hat. Er hasst den entfesselten
Kapitalismus, die Konzentration von Macht und Geld in den
Händen weniger Oligarchen in seinem Land. Der Sog hat auch
seine Geliebte erfasst, mit der er einst hochtrabende Pläne
schmiedete, denn die erfolgreiche Sängerin hat sich mit einem
knallharten Produzenten zusammengetan, der ihr bessere
Erfolgsaussichten bieten kann als der Journalist mit seinen
romantischen Träumen.
Arsen spielt mit dem Gedanken an Selbstmord, als sein Onkel im
kirgisischen Heimatdorf seine Hilfe als Dolmetscher benötigt:
Zwei arabische Prinzen haben beim geschäftstüchtigen
Onkel einen Jagdausflug gebucht, sie möchten Schneeleoparden
erlegen. Also fährt Arsen in die heimatlichen Berge.
Alles wirkt trefflich durchorganisiert, seine Sippe empfängt
Arsen hoch erfreut, und dann lernt er auch noch unerwartet die Liebe
seines Lebens kennen und stürzt sich in eine derart atemlose
Beziehung zu ihr, dass es scheint, als müsse er ein ganzes
Leben nachholen - oder vorwegnehmen?
Doch es zeigt sich, dass im Dorf nicht alles eitel Sonnenschein ist.
Unter der zur Schau getragenen Gemeinschaft gärt es, und
einige von Arsens alten Schulkameraden können sich nicht damit
abfinden, die Verlierer der
Globalisierung
zu sein, wie sie es sehen.
Sie wollen ihren Anteil vom Kuchen abbekommen, deshalb haben sie einen
in Arsens Augen völlig verwerflichen Plan ausgearbeitet, zu
dessen Ausführung sie den Journalisten unbedingt
benötigen. Arsen gerät in eine Zwickmühle,
der er nicht entkommen kann.
Geradezu zwangsläufig treffen die beiden
Ausgestoßenen, Arsen Samantschin und der Schneeleopard
Dschaa-Bars, auf dem Höhepunkt der dramatischen Entwicklung
aufeinander.
Dschaa-Bars und Arsen Samantschin repräsentieren jeder auf
seine Weise eine dem Untergang geweihte Welt. Sie haben ausgedient,
ihre jeweilige Gemeinschaft kann sie nicht mehr gebrauchen, schlimmer
noch, ihr Aufbegehren gegen das ganz offensichtlich unabwendbare
Schicksal stört ihre Nachfolger, die sich hastig ihre
Pfründe sichern müssen, bevor auch sie unter die
Räder der rasant fortschreitenden Entwicklung der Gesellschaft
geraten.
Beide waren einmal machtvoll, Dschaa-Bars als
Schneeleopardenmännchen und geschicktes Raubtier, Arsen durch
seine Aufsehen erregenden Zeitungsartikel, die den Nerv der Zeit
trafen: zu zielgenau, zu empfindlich für den Geschmack der
neureichen Oligarchen.
Als Arsen jedoch in seinem Dorf den zornigen, vor keiner Gewalttat
zurückschreckenden Verschwörern in die Hände
fällt, verteidigt er das System leidenschaftlich, weil er
einsieht, dass Unrecht nicht durch Unrecht überwunden werden
kann.
Was bleibt, ist die Liebe, die sein Herz ganz ausfüllt und ihm
eine ebenso selbstlose wie mutige und weise Tat ermöglicht,
mittels derer er das Dilemma, in das ihn die Verschwörer
gedrängt haben, überwinden kann.
Tschingis Aitmatow beherrscht die Erzählkunst meisterlich.
Reale, mit unbarmherziger Genauigkeit geschilderte Szenen wechseln mit
aquarellhaften Traum- und Sagenwelten, in denen jedoch Anspannung und
Melancholie jederzeit spürbar bleiben. Zahlreiche
Perspektivwechsel zwischen Arsen und dem Schneeleoparden treiben die
packende Handlung voran, auf den tragischen Höhepunkt zu,
dessen Natur und Auflösung bis zuletzt offen bleiben, und der
schließlich auf verstörende Weise zu einem
Zusammentreffen der beiden auf den ersten Blick so grundverschiedenen
Protagonisten wird.
Die Charaktere wurden kraftvoll und authentisch entworfen, und der
Autor, ein vortrefflicher Beobachter, versteht es darüber
hinaus, auch die Orte so anschaulich darzustellen, dass der Leser sie
wie in einem Gemälde oder Film vor sich zu sehen vermag.
"Der Schneeleopard" ist ein leidenschaftlicher, dramatischer und
poetischer Roman, allerdings ohne überdosiertes, verlogenes
Pathos, kunstvoll angelegt und mitreißend ausgeführt
- unbedingt zu empfehlen.
(Regina Károlyi; 04/2007)
Tschingis
Aitmatow: "Der Schneeleopard"
Aus dem Russischen von Friedrich Hitzer.
Gebundene Ausgabe:
Unionsverlag, 2007. 314 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
Unionsverlag, 2008.
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Hörbuchausgabe:
Jumbo Neue Medien, 2008.
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