Henning Ahrens: "Lauf Jäger lauf"
Jägerlatein im Nebel des Vergessens
und Kreaturen im Zerrspiegel ihrer Leidenschaften
Eine Zerfleischung der
Richtungen
Oskar Zorrow, zumeist mit Greifzange
und Rucksack unterwegs, um überfahrene Tiere mitzunehmen und zu begraben, sitzt
im ICE und will nach Nillberg fahren, um dort neu anzufangen. Während eines
kurzen Haltes sieht er neben dem Gleiskörper einen auffälligen Fuchs schnüren
und verspürt den unwiderstehlichen Drang, dem Tier zu folgen. Als der Zug
bereits wieder fährt, betätigt Zorrow die Notbremse und verlässt hierauf nicht
nur den ICE, mitten im Nirgendwo, sondern gleichfalls sein Leben, wie er es
bisher kannte.
Und wird gewissermaßen bereits erwartet: Zwei Männer nehmen ihn recht unsanft
in Empfang; ihn, den der
Fuchs zu ihnen geführt
hat! Als Oskar Zorrow sein Bewusstsein wiedererlangt, findet er sich gefangen an einem Ort, der nun mehr als ein Jahr lang seinen Lebensmittelpunkt darstellen
wird: in Morrzow.
Das Anwesen namens "Morrzow", in einem
Gebiet gelegen, welches von einem fantastischen Nebel umsponnen ist, beherbergt
in einem oberirdischen Teil vier sonderbare Gestalten, die sich als
"Widergänger" bezeichnen (drei Männer und eine Frau), deren Lebensinhalt darin
besteht, sich für den Tag X zu rüsten, an dem der schreckliche Erk im Kampf
bezwungen werden soll. Zorrow findet das "Manifest der Widergänger": "In einer Zeit, da die Eleganz des Genitivs einer Plumpheit
weicht; in einer Zeit, die das behäbige Partizip beschleunigt und in kleinste
Teilchen zerlegt; in einer Zeit, die den tastenden Konjunktiv der Konjunktur zum
Fraß vorwirft ... in dieser Zeit schwören wir: die Schwären nicht zu vergessen,
nicht die Beulen und nicht die Wunden ... und wollen in Treue zusammenhalten und
führen den Kampf gegen alles, was droht, was blendet, verroht, was Freiheit würgt, was Schönheit
meuchelt und Freude zerstört ... gezeichnet von jenen, die widerstehen und
widersehen. Den Widergängern."
Anführer der wilden Künstlertruppe - (es
handelt sich um einige Schriftsteller mit Anfällen akuter Schreibhemmung, die
einander regelrecht zu Tode lieben) - ist der Kunstmaler John Schmutz, ein
sadistischer Waffenfetischist und Naturliebhaber.
Erk (Brandstetter) ist in
Eingeweihtenkreisen weit mehr als die Summe seiner Schandtaten, ein fliegender Teufel
geradezu, der bisweilen in den unterirdischen Gebäudeteilen von Morrzow
Unterschlupf findet, wo Götter, Satyrn, Kentauren und Heerscharen von Engeln,
mit Flammenschwertern bewaffnet, aus Deckengemälden hervortreten und sein
schlagkräftiges Gefolge bilden. Nach Morrzow ist er aufgrund einer mysteriösen
Faxnachricht mit dem Wortlaut "Morrzow. Okay? Mit Besten, No Way" gekommen, um
die Widergänger auszulöschen.
Oskar Zorrow wird brutal aus seinem gewohnten Selbstbild gerissen: Er muss ein
grünes Kleid tragen, wiederholt John Schmutz zu Willen sein und die Riten der
Widergänger mitmachen. Bald wird klar, was es mit dem Nebel auf sich hat: Darin
verbirgt sich eine verwunschene Naturlandschaft, unbehelligt von Menschen, da
jene, die sich in den toxisch wirkenden Nebel verirren, jede Orientierung sowie
Erinnerung verlieren. Wer hineingeht, weiß nicht mehr, was vorher gewesen ist.
Und wer herauskommt, kann sich nicht daran erinnern, was er im Nebel gesehen
und erlebt hat. Eine perfekte Ausgangssituation für dramatische Wendungen, Suchaktionen,
Fluchtszenarien.
John Schmutz nimmt für sich in
Anspruch der einzige Mensch zu sein, der in den Nebel gehen darf. Dort zeichnet
er was er sieht, um nicht zu vergessen. Als Orientierungshilfen dienen ihm ein
unter drei Tannen
aufgestellter Radiowecker und ein darauf geklebter Zettel mit der Aufschrift "Du
bist Schmutz! Vollziehe die Umkehr!"
In unmittelbarer Nähe des
Wohntraktes, auf einer Insel im Löschteich, lebt ein ehemaliger Mitkämpfer der
Widergänger, mit dem sich Oskar Zorrow anfreundet, und dem mit fortschreitender
Handlung mehr und mehr Bedeutung zukommt. Als es Luise Drechsler samt Sohn, der
- effektvoll inszeniert - im Nebel verloren geht, auf der Suche nach ihrem
Ex-Freund John Schmutz nach Morrzow verschlägt, wird sie vom gefürchteten Erk
grausam misshandelt.
Die Situation in Morrzow spitzt sich immer mehr zu, das
vereinende Wir-Gefühl kommt den Widergängern zusehends abhanden. So ist das
finale Inferno unvermeidlich, und John Schmutz muss sich seinen Dämonen stellen.
Jene Szene, in der er, schwer verwundet, bei seinem panischen Fluchtversuch
zwanghaft den Text des titelgebenden Liedes hervorstößt, ist besonders spannend
ausgearbeitet. Zuvor betrinkt sich Schmutz gemeinsam mit Erk, dem Erzfeind, dem
er bei dessen Anschlag auf sein Atelier eine Schusswunde beigebracht hat, in den
unterirdischen "Eingeweiden" des Anwesens.
Morrzow liegt in Schutt und
Asche, der wundersame Nebel um das Schlachtfeld lichtet sich.
Doch sind
die Figuren allesamt Widergänger, und so tauchen sie quasi im "Abspann" nochmals
auf, bevor Zorrow bemerkt, dass auch er, der sich in trügerischer Sicherheit
wähnte, nicht mit dem Leben davonkommen wird ...
"Lauf Jäger lauf", als
"ein Roman in sechs Folgen" konzipiert, die folgendermaßen betitelt sind:
"Zorrow in Not", "Zorrow in Morrzow", "Zorrow
umflort", "Zorrow ohne Brot",
"Zorrow kommt vor" und "Zorrow entrollt", (erinnert doch ein wenig an
Ernst Jandls "Ottos Mops
trotzt"?), besticht durch Dichte und Vielfalt. Henning Ahrens ist ein
hochsensibler Seismograf milieu- und charakterbedingter Sprachbeben. Jeder
Romanfigur ihre höchstpersönliche Wortwelt, der Natur ihre Bildersprache, und an
den Schnittstellen beschleunigt die Handlung.
"Lauf Jäger lauf" ist ein
subtiles Mosaik aus literarischen Elementarteilchen verschiedenster Färbung und
Helligkeit - (Märchen, Horror, Magie, Erotik ...) - ein bemerkenswertes
Leseerlebnis: Mit zwischenmenschlichen Verwicklungen, beinharten Konflikten,
packenden Schicksalsfügungen und theatralischen Kämpfen koloriert Henning Ahrens
manch einen der vielen weißen Flecken auf der Landkarte des menschlichen (?)
Strebens, fischt in den Untiefen zweifelhafter Motive und beleuchtet die
Gegensätzlichkeiten zwischen Denken und Handeln aus ungewöhnlichen Perspektiven,
erdrückt jedoch keineswegs die Fantasie des Lesers!
Als akustische
Untermalung zumindest eines Teiles der Lektüre könnte man das durchaus
artverwandte Lied "Hotel California" ("The Eagles") in Betracht ziehen, aus welchem ein Textauszug
diese Buchbesprechung ausklingen lassen mag:
"And she said
We are all
just prisoners here
Of our own device
And in the master's chambers
They gathered for the feast
They stab it with their steely knives
But they just can't kill the beast
Last thing I remember
I was
running for the door
I had to find the passage back to the place I was
before
Relax said the nightman
We are programed to recieve
You can
check out any time you like
But you can never leave ..."
(kre; 03/2002)
Henning Ahrens: "Lauf Jäger lauf"
Collection S. Fischer, 2002. 255 Seiten.
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Henning Ahrens wurde 1964 geboren. Er
lebt als Schriftsteller in der Nähe von Hannover.
Weitere Bücher des
Autors:
"Tiertage"
Es ist ein heißer Sommer, im Dorf kennt jeder jeden. Man sucht Abkühlung im
Baggersee. Da entsteigt Miranda Schmid den Fluten, die mit ihrer Familie ins Grüne
Haus gezogen ist, und die Welt ist auf einmal eine andere - für Rudolf Wolters,
den Stilllebenmaler, Viktor Hoppe, den Englischlehrer, und auch für Asta Frey,
die im "Roadster" quer durchs Land von Coaching zu Training saust. Da wird aus
Nachbarschaft schnell Leidenschaft, und Treue wird zur Tragik. Als dann der
Wilde Mann auftaucht und wahllos Tiere tötet, muss endlich gehandelt werden.
Die Hilfe naht von unerwarteter Seite: von Mr. Allyours, dem Hasen, und seinem
Freund, dem Reiher Fledgling McFeather. (S. Fischer)
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"Glantz und Gloria"
Ein wilder Reigen, ein irrwitziger Traum, eine deutsche Geschichte.
Rock Oldekop kehrt nach Glantz im Düster, in seine alte Heimat zurück, um
herauszufinden, was sich wirklich zugetragen hat, damals, in der Nacht, als
seine Eltern bei einem Brand umkamen. Tiefer und tiefer gerät er in einen
wahnwitzigen rasenden Albtraum. Fürchterlich und barbarisch geht es zu in diesem
fiktiven Mittelgebirge. Radikal fantastisch, mit einer zärtlichen Absolutheit
und virtuosen Wucht erzählt Henning Ahrens von der Suche nach der Herkunft,
einer Identität, einer Lebensgeschichte. (S. Fischer)
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"Provinzlexikon"
Alles, was Sie schon immer über die Provinz wissen wollten, in genau 274
Stichworten:
Dieses Buch von Henning Ahrens ist ein Lese-, Entdeckungs- und
Erinnerungsbuch für die vom Land und die aus der Stadt. Denn Provinz ist nicht
nur ein Ort, sondern auch eine Haltung.
Provinz - ein Begriff, der viele Assoziationen weckt und mit endlos vielen
Klischees behaftet ist. Von den Einen wird sie verachtet und hämisch verlacht,
von den Anderen trotzig verteidigt und gelobt. Hier die geistige, dort die
geografische Provinz. Letztere mit klaren Grenzen, erstere keineswegs, denn sie
ist leider überall zu finden, ob auf dem flachen Land oder in der großen
Stadt.
Der Lyriker und Romancier Henning Ahrens, auf dem Bauernhof aufgewachsen, zog
als junger Mann in die Stadt und lebt heute freiwillig wieder auf dem Land. Er
hat sich zu verschiedenen Stichworten Gedanken über die Provinz gemacht. So
schreibt er über die Geduld erfordernde Bahnschranke ebenso wie über die
Dorfschönheit oder das Schützenfest. In seinem Buch sind aber nicht nur wie in
einem herkömmlichen Lexikon Definitionen zu finden, sondern auch seine
Ansichten, Analysen und persönlichen Erinnerungen.
Die in der Großstadt beheimatete Illustratorin Jana Cerno hat sich von diesen
Texten inspirieren lassen und das Lexikon gestaltet. (Knaus)
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"Langsamer Walzer"
Leise rieselt der Schnee auf eine Stadt, die in Trümmern liegt. Während alle
Zivilisten auf das Kriegsende warten, sucht der "Ghostwriter" Schadhorst seine
Liebste, sucht Commander Coeursledge seine Barbie, suchen zwei Reporter einen
Interviewpartner, sucht Dr. Krock einen Rucksack, und Meta Jobst, Ex-Ikone des
Infotainments, sucht mit ihrem Mann eine Herberge, in der sie ihr Kind zur Welt
bringen kann. Die Wege all dieser Gestalten kreuzen sich im Schnee oder im
"Terrain
Taboo", der letzten Bar der Stadt. Henning Ahrens führt den Leser durch dieses Labyrinth
aus Thttps://www.sandammeer.at/cgi-bin/linkplex/tanzanz und Rausch, aus Verrat und Überlebenskampf - bis hin zu den Mündungsfeuern
menschlicher Leidenschaften. (S. Fischer)
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