Milena Agus: "Solange der Haifisch schläft"


"Solange der Haifisch schläft" ist das beeindruckende Romandebüt der sardischen Schriftstellerin Milena Agus. In diesem vor lauter mediterraner Lebenslust und Lebendigkeit nur so strotzenden Buch erzählt sie die Geschichte der Familie Sevilla Mendoza. Der Vater der Ich-Erzählerin ist ein Mann, von dem die Frauen, die in seine Nähe kommen, sofort verzaubert sind:
"Auch seine Werkstatt wird immer von sehr vielen Frauen besucht. Sie fühlen sich wahnsinnig angezogen von diesem Mann, der den Motor ihres Autos repariert und dabei von Gott spricht, vom Bösen, vom Guten, von weit entfernten Gegenden, wo die Menschen verhungern, und wo es riesengroße Spinnen gibt. Trotzdem würden diese Frauen überall mit ihm hingehen, das sieht man sofort."

Ja, die fernen Gegenden und die armen Menschen sind seine wahre Leidenschaft, und so zieht es ihn auch immer wieder dorthin als Entwicklungshelfer, und schlussendlich lässt er seine Familie zurück, um für immer dort in Lateinamerika seine wahre Bestimmung zu finden.
Die Mutter geht auf in ihrer Fixierung auf das Schöne. Sie malt Bilder, verkauft auch welche. Aber sie flieht ebenfalls aus dem Leben, so wie ihr Mann, ohne allerdings ihren Weggang von der Bühne des Lebens noch entsprechend zu inszenieren.
"Wunderschön war sie in ihrem geblümten Kleid und den blonden, zu einem mädchenhaften Zopf geflochtenen Haaren, und einem mageren Arm, auf dem ihr Kopf lag, als würde sie schlafen.
Ich weiß, dass sie nicht verzweifelt oder im Zorn gegangen ist. Ich weiß, dass sie in der letzten Zeit stark wirkte, weil sie wusste, dass es bald zu Ende sein würde. Sie hatte ganz einfach begriffen, dass sie eine von denen war, die es nicht schaffen würden, und ist aus dem Leben geflohen, wie sie aus den Kinos rannte, wenn die Szenen zu hart für sie waren."


Auch die Ich-Erzählerin hat eine für mich erschreckende Vorstellung davon, wie sie ihr Leben gestalten und genießen will. Sie ist sadomasochistisch veranlagt und schildert in drastischen Worten Szenen wirklich brutaler sexueller Gewalt, die ein Freund immer wieder mit ihrem ausdrücklichen Einverständnis an ihr, mit ihr und in ihr verübt. Sie kommt das ganze Buch über nicht davon los. Diese seltsame Vorliebe für das Gequältwerden steht in krassem Gegensatz zu ihrer sonstigen Lebenseinstellung. Immer wieder ist sie in innerer Auseinandersetzung mit biblischen Gestalten, wie Jona und Hiob, und versucht, den Rat ihres Vaters zu befolgen: "man müsse aus dem Bauch des Haifischs entwischen, am besten, wenn er schläft. Und dann versuchen, wirklich bis zu einem dieser Orte auf Mamas Ansichtskarten zu schwimmen, um nachzusehen, ob der Atomkrieg etwas Lebendiges auf der Erde übriggelassen hat und man immer noch die göttliche Weisheit in der Schöpfung erkennen kann, mit der Gott sich Hiob zeigte. Von dort neu geboren werden, wo Mama gestorben war. Eine neue Genesis. Ein neues Gelobtes Land."

Auch über ihre Großeltern erfahren wir Interessantes. Der Großvater saß in einem deutschen Konzentrationslager und muss immerfort darüber reden, und die Großmutter verwöhnt die ganze Familie mit selbstgemachten Süßigkeiten.

Die Tante findet schlussendlich ihr Lebensglück mit einem Mann, der zur engen Familie gehört und den man schon vom Anfang des Buches kennt ...

Was zu Beginn aussieht wie die Beschreibung eines normalen Familienalltags mit einer durchschnittlichen Geschichte, löst sich mit jeder Seite mehr auf und zersplittert. Weitgreifende Reflexionen über die Existenz Gottes werden von der Schilderung brutaler und abstoßender sadomasochistischer Praktiken abgelöst, um schließlich in einer Meditation über sinnvolles und geglücktes Leben zu enden.
Ein Buch, das sich leicht und locker liest, den Rezensenten allerdings verstört zurückgelassen hat.

(Winfried Stanzick; 04/2007)


Milena Agus: "Solange der Haifisch schläft"
(Originaltitel "Mentre dorme il pescecane")
Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki.
Klett-Cotta, 2007. 172 Seiten.
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Milena Agus wurde als Kind sardischer Eltern in Genua geboren und lebt heute in Cagliari. Dort unterrichtet sie Italienisch und Geschichte. Vor ihrem ersten Roman "Mentre dorme il pescecane" veröffentlichte sie Kurzgeschichten.

Ein weiteres Buch der Autorin:

"Die Frau im Mond"

Die junge Frau auf Sardinien findet einfach keinen Ehemann. Aus rätselhaften Gründen nehmen ihre zahlreichen Verehrer immer Reißaus. Liegt das etwa an den leidenschaftlichen Briefen, die sie ihnen schreibt? Ihre Eltern sind alarmiert, denn eine dreißigjährige Frau gilt längst nicht mehr als gute Partie. Doch dann nimmt ihre Familie im Jahr 1943 einen besitzlosen Witwer aus Cagliari auf. Der Mann lässt sich durch nichts abschrecken und erklärt sich zum Entsetzen der jungen Frau dazu bereit, sie zu heiraten - eine Vernunftehe, denn beide empfinden nichts füreinander. Deshalb beschließen sie, ihren alten Gewohnheiten einfach treu zu bleiben. Aber ist das die heiß ersehnte große Leidenschaft?
Die Geschichte dieser romantischen Frau wird uns viele Jahre später von ihrer Enkeltochter erzählt: eine Liebeserklärung an das große Gefühl, an Sardinien und an eine einzigartige Großmutter. (Hoffmann und Campe) zur Rezension ...
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Leseprobe:

1. Die Familie Sevilla Mendoza

In Wirklichkeit sind wir gar nicht die Familie Sevilla Mendoza. Wir sind Sarden seit der Jungsteinzeit, da bin ich sicher.

Mein Vater nennt uns so, weil das dort drüben in Lateinamerika die beiden gebräuchlichsten Nachnamen sind. Er ist weit herumgekommen, und Amerika ist sein Traum, aber nicht der reiche, begünstigte Norden, sondern das arme, unglückliche Südamerika. Als junger Mann hat er gesagt, er würde wieder dorthin fahren, entweder allein oder mit seiner Ehefrau, die dann seine Ideale teilen und mit ihm das Abenteuer wagen könnte, die Welt zu retten.

Mama hat er nie gebeten, ihn zu begleiten. Er ist schon überall gewesen, wo Hilfe gebraucht wurde. Aber nie mit ihr, sie hat zu viel Angst vor Gefahren und fühlt sich immer schwach.

Bei uns zu Hause sucht jeder etwas: Mama die Schönheit, Papa Südamerika, mein Bruder die Perfektion und die Tante einen Verlobten. Ich schreibe Geschichten. Wenn die Welt hier mir nicht gefällt, versetze ich mich in meine eigene, und es geht mir prächtig.

In der Welt hier gibt es viele Dinge, die mir nicht gefallen. Ja, ich würde sogar sagen, ich finde sie hässlich, und meine ist mir entschieden lieber.

In meiner Welt hier gibt es auch einen Mann, der schon eine Ehefrau hat.

Auf keinen Fall darf ich vergessen, was er gesagt hat.

"Schwöre, dass du keine Liebesbeziehung zu mir willst."

Und ich: "Ich schwöre."

"Unsere Beziehung wird fleischlich sein, nicht pflanzlich." "Eine fleischliche Beziehung."

"Wie zwei Hunde, die mit dem Schwanz wedeln, wenn sie sich begegnen und sich gegenseitig das Hinterteil beschnüffeln."

"Findest du mich schön?" frage ich.

"Die Schönste hier."

"Aber hier bin doch nur ich."

"Na und?"

"Bitte sag mir, ob du mich schön findest."

"Du hast den tollsten Arsch der Welt."

Aber meine Vorstellung von der Liebe kann nicht nur aus dem Arsch bestehen.

"Mein Gesicht, gefällt dir mein Gesicht?"

"Was kümmert mich das Gesicht bei so einem Arsch. Im übrigen: wenn es etwas gibt, was mir auf den Sack geht, dann ist das, Komplimente auf Bestellung zu machen."

Also höre ich auf, denn ich will es nicht so machen wie Mama.

Großmutter erzählt, dass Mama schon immer ein bisschen nervtötend war. Als kleines Mädchen verabschiedete sie sich vor dem Zubettgehen mit einem Kuss und einem Gutenachtgruß von den Eltern. Die waren manchmal müde und antworteten zerstreut: "Gute Nacht."

"Ich will einen schönen Gutenachtgruß!" flehte das Mädchen.

"Gute Nacht", wiederholten sie leicht verärgert.

"So nicht, so nicht! Das ist noch schlimmer als vorher!" Sie jammerte und weinte, bis die erschöpften Großeltern ihr ordentlich eins hinter die Ohren gaben. Erst dann, erst wenn es keinen Ausweg mehr gab, schlief sie ein.

Sie steht im Morgengrauen auf und geht mit einem Eimer Chlorwasser und einem Besen auf die Terrasse, um die "Kackhäufchen" der Tauben wegzuwischen. Aber auch zu den Tauben ist sie freundlich. Sie fordert sie auf, wegzufliegen, indem sie an den Seiten eine Barriere aus stacheligen roten und weißen Pflanzen errichtet, farblich abgestimmt auf die Fliesen der Terrasse. Oder sie hängt Plastiktüten an die Wäscheleinen, die mit ihrem Knistern die Tauben erschrecken sollen. Auch alle anderen Blumen sind rot und weiß: der Jasmin, die Rosen, die Tulpen, die Freesien, die Dahlien.

Farben sind selbst beim Wäscheaufhängen wichtig für sie. Aber ich glaube, hier geht es nicht um Schönheit. Für die Unterwäsche von uns Kindern, zum Beispiel, benutzt sie immer grüne Klammern: die Hoffnung. Für die Laken von ihrem und Papas Bett die roten: Leidenschaft. Ich habe bemerkt, dass sie die gelben, Verzweiflung, meidet. Wenn sie welche in der Packung findet, lässt sie sie verschwinden.

Mama hat nicht nur Angst vor gelben Wäscheklammern, sondern vor der ganzen Welt. Selten schaut sie einen Film bis zum Ende an, meist rennt sie erschrocken aus dem Kino, bei der ersten etwas härteren oder einfach nur realistischen Szene.

Sie hat auch Angst vor den Sternen, denn sie versteht etwas von Astrologie, darum studiert sie besorgt deren Bahnen und Positionen. Unentwegt gibt es am Himmel einen Grund zur Beunruhigung.

Sie sagt, sie wird sich nie verzeihen, dass sie meinen Bruder nicht ein paar Stunden später geboren hat: Dann hätte es am Himmel einen wunderbaren Aspekt zwischen Venus und Mond gegeben, die beide in Exaltation waren, was ihm Glück in der Liebe gebracht hätte. Auch für den Zeitpunkt meiner Geburt fühlt sie sich schuldig, in meinem Fall hätte es nur eine Stunde früher sein müssen.

"Ich musste zeigen, dass ich tapfer war", erzählt sie dann immer. "Die Wehen hatten schon eingesetzt, und ich wollte nicht stören. Alle waren sicher, dass ich noch nicht soweit war, aber das stimmte nicht. Darum habe ich das Mädchen in einem Augenblick geboren, in dem der Mond im Quadrat mit allen Planeten stand! Meine arme Tochter."

Mein Vater nennt sie ein Kaninchen, das kleine runde Kaninchenköttel kackt. Oft flüstert er ihr ins Ohr, wie es klingt, wenn sie Mohrrüben isst. "Gna gna gna gna gna."

Dann lacht Mama und blickt ihn hingerissen an, denn er ist das Gegenteil von ihr. Ihm ist herzlich egal, was die anderen denken. Und er entschuldigt sich nie, für nichts. Nie fühlt er sich jemandem unterlegen und schämt sich nicht einmal dafür, dass er keinen Universitätsabschluss hat. Im Gegenteil, wenn jemand seine Titel zur Schau trägt, sagt er, das sei keine Bildung, Bildung sei etwas anderes, und Leute, die mit ihren Titeln prahlen, seien furchtbare Ignoranten.

"Deine Mutter", hat Papa mir einmal anvertraut, "ist eine Ehefrau zum Herumalbern. Wir müssten allen, die mit ihr zu tun haben, einen Waschzettel mitgeben. Eine Gebrauchsanleitung. Wenn ich je Probleme haben sollte, sie zum Lachen zu bringen, weil ich selbst zu traurig bin, würde ich lieber am elendsten Ort der Welt sein und im Müll wühlen."

Darum verheimlichen wir ihr alles und bilden einen Filter zwischen ihr und der Welt.

Ich dagegen habe einen robusten Magen. Wie mein Großvater mütterlicherseits, der im Krieg bei der Marine gewesen ist, dreimal Schiffbruch, zwei Jahre Gefangenschaft bei den Deutschen, davon die letzten Monate sogar mit der SS, Tag und Nacht bei Eiseskälte marschieren, auf dem Rückzug mit den Deutschen, die jeden erschossen, der nicht mehr weiterkonnte. Er hat mit Hunden um ein paar Kartoffelschalen im Müll gekämpft, während einer, der "Splitter" genannt wurde, belustigt zuschaute. Er ist marschiert, ohne je anzuhalten, darum haben sie ihn nicht erschossen, und er hat es geschafft.

Er ist zurückgekommen und hat wieder zu leben begonnen. Er war nur immer sehr nervös. Fiel jemandem eine Gabel vom Tisch, explodierte er. Er hat sehr bald aufgehört, Mama von den Schrecken des Krieges zu erzählen, denn das Kind hatte nachts Albträume und sah sich mit Großmutter in einer langen Menschenschlange vor dem Internierungslager stehen, während Großvater gefoltert wurde.

Als Reaktion auf Hitlers Schlechtigkeit wurde sie als junges Mädchen Kommunistin. Aber dann las sie von den Verbrechen Stalins und Maos und davon, wie schrecklich das Leben auch in Russland und in China ist. Sie stürzte sich auf die Kirche, aber auch dort gab es in der Vergangenheit und Gegenwart böse Menschen: zum Beispiel die Inquisitoren oder die bigotten Weiber ohne Erbarmen. Also blieb nur die Demokratie. Die war perfekt. Obwohl Papa sagt, dass die westlichen Demokratien mit ihrer Wirtschaftsdiktatur die Dritte Welt umbringen.

Er ist verheiratet, aber diese Anrufe verzaubern mich.

"Ich bin’s, wie geht es dir?"

Ich weiß nicht mehr, wie es mir geht. Ich fange sofort an, ihm einen Weg durch die Menschenmassen zu bahnen, höchst verwickelte Pläne zu ersinnen, damit er zu mir kommt, wenn bei uns niemand zu Hause ist. Vor allem Mama nicht, die immer da ist, wenn sie nicht arbeitet. Ich überrede sie zu langen Spaziergängen für ihre Gemälde und setze sie mit ihrer Staffelei an immer entlegeneren Stellen ab: am Hügel von S. Michele, der die ganze Stadt überragt, wo Mama aber traurig wird über den Tod der armen Violante Carroz im Jahr 1511, oder am Leuchtturm von Calamosca vor dem unendlichen Horizont. Dann verabreden wir eine Uhrzeit, und ich hole sie mit meiner roten Vespa wieder ab. Es ist undenkbar, dass Mama sich in der Stadt alleine einen Bus nimmt.

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