Mario Vargas Llosa: "Die große Versuchung"
Sag beim Abschied leise "Es lebe Peru"
"Wie Mariáteguis sieben Versuche, die peruanische Wirklichkeit zu verstehen, wie
César Vallejos Gedichte oder Ricardo Palmas Überlieferungen wird dieses Buch,
das du, lieber Leser, in Händen hältst, den Händen eines peruanischen Freundes,
der Ausgangspunkt sein für eine echte Revolution, die unsere Heimat aus Armut
und Traurigkeit herausführt und sie wieder zu einem aufstrebenden, kreativen und
wahrlich egalitären Land macht, ohne die gewaltigen Unterschiede, die ihm heute
so zu schaffen machen und es zerstören. Hoffen wir es." (S. 243)
Jedoch gewiss kein Ausgangspunkt einer neuen, die Absichten der Autoren ernstnehmenden
deutschen Übersetzungskultur, denn der
Leser von "Die große Versuchung" hält außerdem einen Roman mit ziemlich irreführendem,
wenn auch hervorragend zum Klappentext passendem Titel in Händen - eng am
Original (und nah an einem Satz, den im Roman "Tante Julia und der
Kunstschreiber" ein Schriftsteller im Bewusstsein des eigenen Ungenügens
spricht) würde er "Ihnen widme
ich mein Schweigen" lauten. Dies ist umso bedauerlicher, als es sich den Angaben des Autors zufolge
um seinen letzten Roman gehandelt haben werde; lediglich ein
Erinnerungsbuch an seinen Lehrmeister in jungen Jahren,
Jean-Paul Sartre,
solle, falls dem mittlerweilen Achtundachtzigjährigen die Zeit dafür bleibe, noch
folgen.
Es handelt sich also - selbst wenn dann doch noch
etwas Belletristisches folgen sollte - um nichts weniger als ein Vermächtnis, welches
sich in erster Linie an die Peruaner und "peruanischen
Freunde" richtet, in zweiter an alle, die eine gute Satire zu schätzen
wissen. Peru, die Heimat Vargas Llosas und häufiger Schauplatz seiner
Romane, das Land, um dessen höchstes Amt er sich 1990 als bereits
erfolgreicher Schriftsteller beworben hat, ist hier einmal das klare Hauptthema.
Einigermaßen nahe kommt dem Buch in dieser Hinsicht noch der genau fünfzig Jahre
zuvor erschienene Roman "Der Hauptmann und sein Frauenbataillon", worin die
Titelfigur den Befehl erhält, in der im Nordosten des Landes gelegenen
Amazonasprovinz inoffiziell eine Frauentruppe aufzubauen, die dafür sorgen soll,
dass die in dem feuchtheißen Amazonasklima überhandnehmenden Übergriffe der dort
stationierten Soldaten auf die in der Region ansässigen Frauen ein Ende finden.
Zwar ist der hierfür ausgesuchte Offizier ein untadeliger Familienmensch und
hervorragender Organisator, doch dem delikaten Unternehmen ist trotzdem kein
längerfristiger Erfolg beschieden. Die öffentliche Moral, eine Menge unterschwelliger Neid sowie die unkontrollierbare
Macht der Liebe nehmen, je mehr von dem Geheimzuhaltenden durchsickert, immer stärker Anstoß und
lassen das
nicht unvernünftige, in einem weiteren Sinn patriotische
Unterfangen nach beachtlichen Anfangserfolgen schließlich scheitern.
Keinem Vorgesetztenbefehl, sondern
einem inneren Auftrag -
patriotischer nicht vorstellbar, zielt er doch auf nichts Geringeres, als Peru
die lang entbehrte Einheit
und inneren Frieden zu schenken - folgt hingegen der Held von
"Die große Versuchung".
Toño Azpilcueta liebt von Kindesbeinen an die traditionelle Musik seines Landes,
Huainitos, Marineras, Polkas und vor allem den peruanischen bzw. kreolischen - waren
doch Kreolen an seiner Entstehung maßgeblich beteiligt - Walzer. Dazu verfasst
er regelmäßig Konzertkritiken, mit denen ebenso wie mit ein wenig
Zeichen- und Musikunterricht an einer katholischen Schule er seine aus Frau und Tochter bestehende Familie
gerade so über die Runden bringt. Im Laufe des Romans wird allerdings immer mehr
die Frau die hauptsächliche Erwerbsarbeit bestreiten, denn Toño gerät, als er
eines schönen Abends einen
jungen Gitarristen namens Lalo Molfino spielen hört, zunächst in schiere Verzückung und im
weiteren auf idealistisch-patriotische Abwege.
Das geniale, in die Seele gehende, allen Zuhörern ein tiefes Gefühl der
Geschwisterlichkeit, wie Toño den Eindruck hat, vermittelnde Spiel des
einheimischen Genies ist für ihn der Anstoß,
ein ganzes Buch über den peruanischen Walzer und seine - so die kühne These - für das Land segensreiche,
einigende
Wirkung zu verfassen, ein Ziel, dem er bald alles andere unterordnet. Und
welches
er, von ersten Erfolgen ermuntert, immer mehr ausweitet, einerseits alle
peruanischen Eigenheiten wie schamanistische Heilpraktiken, Stierkampf- und
Fußballbesessenheit in seinem Idealentwurf der neuen Gesellschaft aufgehen zu
lassen bestrebt ist, andererseits in seiner Begeisterung bald die Grenzen
des Landes überschreitet: warum nicht auch
Einigung Lateinamerikas oder gleich die Geburt der Weltenharmonie aus dem Geist
des peruanischen Walzers? Es kommt, wie es in ähnlich gelagerten Fällen kommen
muss - die
fixe Idee wird immer allgemeiner und ätherischer und zerstiebt schlussendlich;
freilich nicht
ganz und gar, denn ein wahrer Kern und eine große Liebe waren ja auch darin
enthalten.
Der Roman ist so aufgebaut, dass zwischen die je ein paar Seiten umfassenden Kapitel, die von Toño Azpilcuetas Lalo-Molfino-Recherche, seinem idealistischen Streben und seinen steilen Thesen handeln, etwas kürzere in der ersten Person eingeschoben sind, mutmaßlich Ausschnitte aus Toños Sachbuch ("Lalo Molfino oder die stille Revolution" heißt es), wenngleich die Autorenschaft jener Seiten offen bleibt. Vor allem und zweifellos absichtlich bleibt unklar, bis zu welchem Grad hier die Romanfigur Toño, bis zu welchem der Autor selbst das Wort an den Leser richtet. In seinen subjektiveren Passagen, soweit es sich nämlich nicht einfach um Faktisches über die Entwicklung der peruanischen Volksmusik handelt, wird hier von Anfang bis Ende ein subtiles, nicht aufgelöstes Versteck- und Wechselspiel von echtem Autorenanliegen, fanatischem Sichhineinsteigern und ironischer Brechung getrieben, an welchem wohl am ehesten echte Peruaner (und eventuell die beschworenen peruanischen Freunde) ihre volle und reine Freude haben werden können, möglicherweise in Toños Streben karikierende Anspielungen auf den Autor und seine einstige Präsidentschaftskanditatur (als liberaler Kandidat und angeblich Favorit war er damals in der Stichwahl letztlich dem Gegenkandidaten Alberto Fujimori unterlegen) zu erkennen vermögen. Offensichtlich nicht in den Worten, die Mario Vargas Llosa in einem Essay verwenden würde, ist etwa die Stelle geschrieben, wo der Sachbuchautor vorsichtig um das Verständnis der katholischen Kirche, dass die Berührungen zwischen Mann und Frau beim Walzer ja nur leichte und keineswegs unzüchtige seien, wirbt. Bei den überschwenglichen Wendungen wiederum, mit denen diese Kapitel meist schließen, scheint sich der Autor ein wenig über revolutionäres Pathos lustig zu machen, ohne dabei allerdings die patriotische Grundtendenz des Gesamten zu verraten. Auch von den wenigen abgedruckten Liedtexten dürften nicht alle dermaßen nach persönlichem Geschmack ausgewählt worden sein wie hier die letzte, in Bezug auf die Vermächtnishaftigkeit bemerkenswerte Strofe aus dem Gedicht "El guardián" ("Der Wächter") von Julio Flórez:
"Jäte Tag für Tag das Unkraut,
die aufgehäufte Erde nimm vom Grab:
Und
kommt die Liebste, um zu trauern,
führ sie aus dem Friedhof ... und schließ
ab!" (S. 161)
Das emotionale, aber kenntnisreiche und
gut recherchierte Sachbuch innerhalb des Romans enthält
unter anderem Beiträge zu den Hinterhofkolonien Limas, den
sogenannten callejones, dicht bevölkert mit Armen und Ratten, wo bei tief in
die Nacht hineinreichenden musikalischen Zusammenkünften der vals criollo bzw. peruano vermutlich das Licht der Welt erblickte;
den ersten Gruppen, die daraus hervorgingen, zu denen bald aus höheren Schichten
moralisch nicht immer so hochstehende Zuhörer strömten,
wie ein gewisser Toni, ein älterer Freund des Autors, in diversen Anekdoten zu
berichten wusste; der Pampa de Amancaes außerhalb Limas - mittlerweilen längst von der
Stadt überwachsen - als Ort regelmäßiger Zusammenkünfte von
Musik- und Tanzbegeisterten verschiedenster Herkunft, wo der sagenumwobene baile
de los diablitos (weiß der Teufel, wie der gegangen ist und ob er etwas mit dem
peruanischen Walzer zu tun
gehabt hat) getanzt wurde; dem cajon, der großen Erfindung der peruanischen
Musik, einem aus der Armut geborenen und traditionell aus Zedernholz
hergestellten Perkussionsinstrument; der Musik der Inkas und der drei
Jahrhunderte der Kolonie, beides in Ermangelung von Evidenzen ziemlich
spekulativ.
Außerdem werden natürlich viele Namen von Musikern eingestreut, drei
Klassiker der peruanischen Volksmusik erhalten eigene Kapitel: Felipe Pinglo Alva
(1899-1936), der Ahnherr des peruanischen Walzers, Óscar Avilés (1924-2014), die
erste Gitarre Perus (zumindest für alle Unglücklichen, die niemals Lalo Molfino
spielen gehört haben), und nicht zuletzt Chabuca Granda, die Grandiose
(1920-1983). An letztere haben der Sachbuchautor und
Toño (möglicherweise auch Mario Vargas Llosa) recht zwiespältige Erinnerungen,
einerseits sind sie große Bewunderer ihrer Kompositions- und Gesangeskunst,
andererseits müssen sie damit leben, die Diva durch den überkritischen Einwand, das
elegante, maurisch-andalusische Lima, das sie in ihren Liedern besinge, habe es
nie gegeben, wodurch nicht zuletzt das Elend jener Zeit verharmlost werde,
irreparabel verstimmt zu haben. Selbst die späte Einsicht, dass ein fruchtbarer
Mythos für ein Volk wichtiger sei als viele Tatsachen ohne lebendigen Bezug zur Gegenwart,
konnte die große Musikerin nicht mehr versöhnen und hinterließ so eine bleibende Wunde für die
(den) unbesonnenen Besserwisser.
Der zentrale Begriff zur Einführung in
die Welt des peruanischen Walzers und, wie zumindest der Sachbuchautor
behauptet, der bedeutendste Beitrag Perus zur Weltkultur ist jener der
sogenannten "huachaferia". Je nach textlichem Zusammenhang
unterschiedlich zu übersetzen (in "Tante Julia und der Lohnschreiber" wird er
bedenklicherweise bevorzugt mit "Kitsch" wiedergegeben), de facto natürlich
unübersetzbar. Das Wort "Gefühligkeit" kann bestenfalls eine Richtung andeuten,
der Hinweis, die venezolanische "pava", wenngleich mit weniger Leichtigkeit
ausgestattet, komme ihm noch am nächsten, wird den wenigsten Europäern eine
Hilfe sein.
Im übrigen versteht es sich von selbst, dass man nicht gegen die Absicht des
Autors verstoßen würde, wenn man sich die Musik der Genannten - und warum nicht
begleitend zur Lektüre? - ausgiebig zu Gemüte führte. Wer Ohren hat, der
höre.
Eine weitere berühmte Sängerin peruanischer Volksmusik wiederum, die mit Abstand jüngste aller Genannten, taucht als wichtige Nebenfigur in dem romanhaften Teil auf; es darf vermutet werden, dass Cecilia Barraza (1971 geboren) eine gute Freundin des Schriftstellers ist und ihm persönlich ihre Einwilligung dazu gegeben hat. Zumindest an der Oberfläche scheint Toño mit seinem Autor sonst aber wenig Ähnlichkeiten aufzuweisen, er wird von diesem zwar sympathisch - bei allem überbordenden Patriotismus ohne aggressive Gefühle gegenüber anderen Nationen -, jedoch mit einigen Schattenseiten, deren ausgeprägteste heilloser Ekel vor Ratten ist, gezeichnet. Unvermeidlich macht er, der nur einmal nach Cusco geflogen ist, jedoch noch nie im Ausland war, manchmal auch eine recht provinzielle Figur, wenn er etwa die Pariser als Froschbeißer, die den Peruanern ihren Surrealisten César Moro schwul zurückgeschickt hätten, bezeichnet, während dem Autor, der viele Jahre seines Lebens in Paris und Madrid verbracht hat, solche Gedanken sicher nur beim Romaneschreiben kommen. Psychologisch genau ist der unbewusste Wille Toños zur Aufrechterhaltung seiner Illusionen ausgearbeitet, so etwa im folgenden Ausschnitt mit seinen Vorzeigefreunden: weißem Mann aus gutem Haus (dem schon erwähnten Toni) und dessen schwarzer Frau aus der Unterschicht, die einander durch den kreolischen Walzer kennengelernt haben und gegen alle Anfeindungen wegen ihrer sozialen und ethnischen Grenzüberschreitung zusammengeblieben sind.
"Man müsse nur ein wenig darüber nachdenken, dann begreife man, dass allein die
Musik, der künstlerische Ausdruck die Macht habe, Mitmenschlichkeit zu
wecken, vielleicht auch das erotische Begehren zwischen den unterschiedlichsten
Personen. Toño deutete auf die beiden. Dort war der Beweis, direkt vor ihm, wer
wollte das bestreiten. Vor Begeisterung hob er die Stimme, brüllte fast,
gestikulierte so heftig, dass der Stuhl unter ihm knarrte, als würde er
auseinanderbrechen.
Toni und Lala warfen sich verstohlene Blicke zu, ein
wenig überrascht vom Ungestüm ihres Freundes. Schließlich überwand sich Toni und
sagte, dass nicht alles in ihrem Leben so perfekt sei, wie es aussehe, aber
Toño, der es mit zusammengebissenen Zähnen hörte, korrigierte ihn sofort.
"Nichts da, mein Freund", sagte er und wedelte mit dem Finger. "Ihr seid ein
Vorbild für mich und
ganz Peru."" (S. 127)
"Die große Versuchung" wartet mit etlichen satirischen Szenen solcher Art - insbesondere Toños Rattenfobie wird groß herausgebracht - und viel peruanischer Musikgeschichte auf. Neben allen Mehrdeutigkeiten, ironischen Relativierungen und regionalen Anspielungen stehen zumindest zwei Anliegen des Autors außer Zweifel: sein Wunsch, die Peruaner, Weiße, cholos (Mestizen), Schwarze und Indios mögen sich stärker als bisher miteinander vermischen, sei es durch die Zeugung von Nachkommenschaft, sei es durch den verstärkten Austausch kultureller Elemente. Darüberhinaus und weit behutsamer ergeht die Aufforderung an seine Landsleute, sie mögen - woran immer sie sonst in der großen weiten Welt Gefallen finden - daneben auch etwas Eigenes schaffen. Und das kann ruhig huachafo sein. Und gerne ein bisschen verrückt.
(fritz; 12/2024)
Mario Vargas Llosa: "Die große Versuchung"
(Originaltitel "Le dedico mi silencio")
Aus dem Spanischen von Thomas Brovot.
Suhrkamp, 2024. 304 Seiten.
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