Botho Strauß: "Das Schattengetuschel"
"Meine Sätze bieten Asyl dem vielsagenden Deutsch." (S. 221)
"Tuscheln" bedeutet, jemandem heimlich etwas in flüsterndem Ton
zuzuraunen. Womöglich raunt der deutsche Dramatiker und
Schriftsteller Botho Strauß, Jahrgang 1944, seiner Leserschaft gar
Vertrauliches zu? Wie man es nimmt.
"Das Schattengetuschel" beinhaltet eine angenehm zu lesende Fülle von
Kurz- und Kürzesttexten in Gestalt auf den Punkt gebrachter Prosaskizzen und Dialoge: wohltönend formulierte Darstellungen von Gedanken, Aussagen und
Handlungen altgedienter Paare und gewohnheitsmäßiger Einzelgänger in mehr oder
weniger alltäglichen Szenen, bisweilen angereichert mit traumgeborenen und nicht zuletzt
wohl auch autobiografischen Elementen. Weiters wortgewandte Beobachtungsschilderungen und kluge Schlussfolgerungen, die erst in der
Niederschrift Ruhe finden, Sentenzen und Aphorismen.
Gegliedert ist das Buch in drei Teile: "Um uns im Raum ein ruhloses Flüstern, als käm es von tuschelnden Schatten", "Der allzeit Unzeitgemäße" und "Auch einer: der Sätzemacher".
Ein aparter Strauß aus Figuren und Motiven also, darunter
Verflossene und Gebliebene, Monologisierer und Schweigekünstler, Täuscher,
Blender und Besserwisser, Vergessene und Anpassungssüchtige, überraschende
Abseitsorte, verwegene und unterbliebene Anbahnungen, Zurückweisungen, Verluste
und Abschiede, Begehren und Beleidigungen - eben Welttheater.
Als Leselustentfacher mögen nachstehende Zitate dienen:
"Gleichzeitig spottet sie über den amerikanischen Gesundheitswahn, der über die Erde greift und der offenkundig
einhergeht mit fortschreitender geistiger und seelischer Invalidität. Wozu ein leeres Körpergestell in Schuß halten?" (S. 113)
"Man muß eine Menge Welt malen, bis eines Menschen Verlorenheit darin zum Vorschein kommt." (S. 108)
"Zuerst entwich die Luft aus der Neugier füreinander, dann schrumpfte die Verzwungenheit, falsche Rücksichten
erschlafften, die Enttäuschung war bald flach, und jeder von ihnen legte eine
wundersam lasche Selbstbeherrschung an den Tag." (S. 85)
"Der allzeit Unzeitgemäße suchte noch einmal zur Größe seiner Vorbilder sich
aufzurichten. Wie ein Blitz wollte er zwischen die Heute-Anbeter fahren,
Schrecken verbreiten, die bittere Schelte über sie bringen. Wollte ihnen das
Leid-Wesen wiederentdecken, sie zwingen aufzublicken statt scheel aufs Display." (S. 147)
"Wenn wir wieder unter uns sind ... Schreiben und Lesen Sache der wenigen wie zu den besten Zeiten des Abendlands. Wie werden wir in
Entdeckungen schwelgen, nach dieser Dürre der Vergangenheitsentbehrung! Wie werden wir mit Wiedergefundenem unsere Tage verlängern. Sobald also die Schrift
nur noch ein Medium der Hinterlassenschaft und Lesen ein Ritus des Vermissens sein werden ..." (S. 161)
"Unzeitgemäß herrisch erzwingt sich Geduld die gedruckte Schrift. Noch das Blödeste steht darin fest, wie es einst in
Marmor gemeißelt feststand. Die Schrift scheint alles begleiten zu wollen, von
der Sintflut bis zur Künstlichen Intelligenz. Sie will überall dabeisein, sich
rühren und mittun, auch wenn sie zugleich als ein verstaubtes Utensil
vergangener Bildungsprozesse gilt." (S. 176)
"Gleichzeitig gingen nun die meisten Menschen auf eine etwas schablonenhafte Weise freundlich
miteinander um. Man lächelte ununterbrochen, aber es war ein stereotypes
Lächeln, das oft gefärbte Zähne zeigte. Denn alle, ausnahmslos alle waren nun
bei künstlicher Gesundheit, künstlichem Verstand und künstlichem Selbstgefühl."
(S. 181)
"Im Gegensatz zu den Geistesgewaltigen des ausgehenden neunzehnten
Jahrhunderts sieht heute trotz neuer Kriege und bedrohlicher Konfrontationen
niemand mehr einen Epochenbruch voraus. Das Digitalium kennt keine Vision von
der Überwindung seinerselbst. Man rechnet fest mit einer weltlichen
Fortschreibungsewigkeit." (S. 189)
"Das Modewort 'Narrativ' benutzen ausschließlich Menschen, die zum Erzählen nicht die geringste Begabung
besitzen." (S. 198)
Wer verfiele nicht zumindest gelegentlich ins Grübeln, ob und inwieweit wir alle als nicht selten verdrossene Laienselbstdarsteller in
immergleichen Bühnenbildern unter immergleichen Regisseuren unsere Rollen spielen?
"Das Schattengetuschel" ist immerhin eines jener Bücher, die dem Leser
glaubhaft vermitteln, mit lebenslänglichem Wankelsinn und Selbstwehmut nicht allein zu
sein. Schließlich ist Botho Strauß kein Debütant auf dem nur scheinbar polierten
Parkett des aktuellen mitteleuropäischen Menschlichkeitstheaters. Dass seine
keineswegs aus der Luft gegriffene Bestandsaufnahme samt Darstellung zeitgenössischer zwischenmenschlicher und sonstiger
Schattenflüstereien nicht allzu schmeichelhaft ausfällt, werden vermutlich nur
immerzu Überglücklichgemachte Botho Strauß ernsthaft ankreiden wollen.
(Irmgard Ernst; 10/2024)
Botho Strauß: "Das Schattengetuschel"
Hanser, 2024. 230 Seiten.
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Ein Buchtipp:
Philipp Theisohn: "Denken nach Botho Strauß. Begegnungen in einer anderen
Zeit"
Botho Strauß, seit einem halben Jahrhundert eine der bedeutendsten wie
berüchtigtsten Stimmen der deutschsprachigen Literatur und immer noch einer
ihrer meistgespielten Dramatiker, ist kein "Gegenwartsautor". In der
Überzeugung, dass die Dichtung stets dazu bestimmt war,
eine bereits verlorene
Welt zu verteidigen, ist ihm der Rückzug hinter den Vorhang der Geschichte nicht
nur zum poetischen Programm, sondern auch zum Lebensprinzip geworden. Wie aber
begegnet man einem Schriftsteller, der so selbstgewählt aus unserer Zeit
gefallen ist?
In einem sehr persönlichen Essay begibt sich Philipp Theisohn
auf die Suche nach einem Menschen und seinen Denkspuren - auf eine Reise durch
verlassene Texte, Landschaften und Republiken.
Philipp Theisohn, 1974
geboren, ist Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der
Universität Zürich. (Matthes & Seitz)
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