Heinrich Steinfest: "Sprung ins Leere"
Alte und steinalte Meister
"Aber was alles in der Welt besaß nicht genau diese Eigenart, wie
nie geschehen zu sein? Oder so, als sei das Geschehene bloß eine
Erfindung aus einem Roman oder Film. Oder stamme aus dem Kopf eines
Träumenden." (S. 374)
Nachdem in München zufällig der künstlerische Nachlass ihrer im
September 1957 von heute auf morgen spurlos verschwundenen Großmutter
entdeckt worden ist, ändert sich das Leben der einunddreißigjährigen
kunstsinnigen Museumswärterin Klara Ingold schlagartig. Sie fühlt sich
von der ungekannten Großmutter, die inzwischen 94 Jahre alt ist, sofern
sie noch lebt, geradezu magisch angezogen und stellt kurzerhand auf
eigene Faust umfangreiche Nachforschungen an. Der Auftakt zu einer
grandiosen Schnitzeljagd!
Eine ganz besondere Fotomontage, die diese Frau, Helga Blume, von einem
Balkon springend zeigt, ist für Klara der Anstoß, ebendiesen Balkon zu
suchen. Infolge einer Verkettung glücklicher Zufälle findet Klara
besagten Balkon in Wuppertal, und nicht nur das, sondern auch Emma
Salewski, die Tochter der vor Jahrzehnten zugleich mit Klaras Großmutter
von der Bildfläche verschwundenen Lilo Wagner.
Von ihr erhält Klara eine rotsamtene Schatulle, die von Emmas Mutter
stammt und aus der sichtlich ein Objekt fehlt, sowie ein Foto, das die
beiden Vermissten nach ihrem Verschwinden im japanischen Ort Magome
zeigt, wie ein befreundeter Wissenschafter herausfindet. Somit steht
Klaras nächstes Ziel bereits fest, und schon wieder muss Urlaub
beantragt werden; ein Dienstnehmer im Hamsterlaufrad ist schließlich
nicht Herr seiner Zeit.
Auch der verarmte ehemalige Konditoreikettenmitbesitzer Georg Salzer,
ein Mann um die 60, gewesener Beinaheschriftsteller, der in jeder
Mittagspause wie gebannt vor van Ruisdaels "Großem Wald" im Wiener
Kunsthistorischen Museum, wo Klara Ingold arbeitet, steht, wird von
ebenso turbulenten wie schicksalhaften Ereignissen vorübergehend aus
seiner trägen Routine und unaufhaltsam in den Strudel dieser spannenden
Geschichte, die im Jahr 2025 spielt, gerissen.
Ein erstes Mal rettet Georg Klara mit einer fast akrobatischen Einlage
das Leben, woraufhin die beiden beschließen, gemeinsam nach Tokyo zu
fliegen. Sie lernen eine höfliche, alte Dame mit schwarzer
Nobelmarkenhandtasche kennen, allerdings treten die wahren Absichten
dieser neugierigen und erstaunlich agilen Person erst viel später
zutage. Aber wie!
Überhaupt bricht Heinrich Steinfest eine Lanze für ältere Semester, die
auch noch in hohem Alter bemerkenswerte Fähigkeiten und Interessen
besitzen und keineswegs zum alten Eisen zählen, sondern die
Nachfolgegenerationen locker in den Schatten stellen.
Kaum angekommen, entdeckt Klara in einem Museum das 1965 entstandene
(prophetische!) Gemälde "Die blinde Köchin" und ist überzeugt, darauf
ihre Großmutter zu erkennen, woraus sich die nächste logische Station
ergibt: ein Besuch bei dem betagten Maler Hashimoto Soseki. Doch zuvor
wird Klara vom berühmten Regisseur Takashi Ito in einem Café entdeckt
und als Schauspielerin für einen Film mit Ewan McGregor engagiert.
Bezaubernd, wie im Märchen!
Die Dolmetscherin des Regisseurs, sie nennt sich auf Nachfrage Svea
Castelbajac, wird für Klara und Georg bald zur unverzichtbaren
Organisatorin und Begleiterin. Takashi Itos Kontakte und Vermögen sind
für die weitere Suche nach Helga Blume von allergrößtem Nutzen. Zumal
der Regisseur zähneknirschend zur Kenntnis nehmen muss, dass Klara
Ingold nicht sofort für sein aktuelles Filmprojekt zur Verfügung steht,
weshalb er die beiden Wiener nach Kräften unterstützt, um die Sache zu
einem - vermeintlich! - schnellen Ende zu bringen. Wobei es bald
unumgänglich wird, Klara den patenten Leibwächter Osada zur Seite zu
stellen.
Klaras Großmutter ist in Japan als Künstlerin, Muse, Modell und
Handwerkerin, als Frau der guten Taten quasi, in Erscheinung getreten
und hat nicht wenige bedeutende Japaner fasziniert, eben ein weiblicher
Tausendsassa. Allerdings stehen einige Riesenüberraschungen erst noch
bevor. Und in der Tat erzählt der Maler Hashimoto Soseki dem kleinen
Suchtrupp von Helga und Lilo und seiner Vermutung, wo die beiden sein
könnten, wenn sie nicht gestorben sind, und überreicht Klara eine kleine
goldene Kapsel, die umgehend weniger friedliebende Interessenten auf den
Plan ruft. Der
Kalte Krieg ist nämlich keineswegs verstaubte Geschichte, sondern
unmittelbare Gegenwart.
Welche Bewandtnis es mit der wundersamen Kapsel hat, wird natürlich erst
gegen Ende des Romans von einem finnischstämmigen hochbetagten
Wissenschafter mit extrem abwechslungsreichem Lebenslauf und
unermesslichem Vermögen enthüllt. Jedenfalls geht es um eine Waffe und
wegweisende Bilder aus Vergangenheit und Zukunft, wobei trickreiche
Agenten und offene alte Rechnungen die Mischung aus Information,
Spannung, Tempo und Unterhaltung bereichern, nicht zu vergessen ein
Unheilvolles verheißender Orakelspruch ...
Rasante Schauplatzwechsel und Verfolgungsjagden fehlen ebensowenig wie
interessante Impressionen von österreichischen, deutschen und
japanischen Orten, hübsche Alltagsszenen und tragische wie komische
Wendungen. Auch ein trinkfreudiger japanischer Schriftsteller mit
unvollendetem opus magnum und typisch japanische Spezialitäten wie
Sumo-Ringen sowie eine geheime, edle Messertradition sind Teil der
Geschichte, außerdem prägen wunderbar geschilderte Träume manche
Szenerien, hinzu gesellen sich Kunst in vielfältigen Spielarten, Magie
und Technik - all das hat im großen Ganzen seine Bedeutung und volle
Berechtigung. Jede Episode ist ein wichtiger Teil einer schicksalhaften
Kette von Ereignissen, die schlussendlich auf den Semmering führt, wo
sich sozusagen Augen, Ohren und Geldbörsen öffnen müssen.
Wie immer hat Heinrich Steinfest seinen Romanfiguren mit viel Liebe zum
Detail Leben eingehaucht, ihnen außergewöhnliche Biografien und
Eigenschaften, die nach und nach zutage treten und ergründet werden, auf
die Leiber geschneidert.
Übrigens wird häufig mit Genuss und absoluter Überzeugung geraucht, man
erfährt allerlei über bedeutende Kunstwerke, und selbstverständlich
beinhaltet der Roman treffende Kommentare und kluge Anmerkungen des
Autors zum Zeitgeschehen und zum Menschsein an sich. Zwei Beispiele
dazu:
"Wieso auch sollte ein Wesen, das sich unfähig zeigte, aus der
Vergangenheit zu lernen, fähig sein, etwas aus der Zukunft zu lernen?"
(S. 457)
"Man darf hier vielleicht anfügen, dass hinreichend fortschrittliche
Kunst weder von Magie noch von Technologie zu unterscheiden ist."
(S. 464)
"Sprung ins Leere" ist also Genusslektüre mit wunderbarem
Unterhaltungswert!
(kre; 02/2024)
Heinrich
Steinfest: "Sprung ins Leere"
Piper, 2024. 493 Seiten.
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Ergänzende Buchtipps:
"Japanische Märchen"
Spannende, exotische, berührende Geschichten, die den Märchensammlungen
in der "Manier der Brüder
Grimm" in nichts nachstehen - und doch aus einer völlig anderen
Erzähltradition stammen. Häufig geht es regelrecht gespenstisch
zu.
Es treten auf: die Yukki-Onna, die als "Schneefrau" in die Popkultur und
ihre Horrorfilme eingegangen ist, und die Hone-Onna, die als Knochenfrau
auch Sanyutei Encho zu der unheimlichsten Episode seiner
"Pfingstrosenlaterne" inspiriert hat. Die Grenze zwischen Wirklichkeit
und Fiktion, Leben und Tod scheint ungleich fließender als in ihren
europäischen Entsprechungen - auch vor Erotik haben die japanischen
Erzähler keine Scheu. (Die Andere Bibliothek)
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Wolfgang Kos: "Der
Semmering. Eine exzentrische Landschaft"
Die spannende Geschichte einer Kulturlandschaft, erzählt vom
Semmering-Neuentdecker Wolfgang Kos.
Als erste Gebirgsbahn stellt die 1854 eröffnete Strecke über den
Semmering ein technisches und ästhetisches Monument von Weltrang dar.
Ein entlegenes Gebiet wurde zur Bühne effektvoller
Landschaftsinszenierungen, der Semmering zur Elitemarke des
mitteleuropäischen Tourismus. Auf dem "Balkon von Wien" traf sich eine
moderne großstädtische Oberschicht zwischen Villen und Grandhotels. Der
Glanzzeit um 1900 folgten zahlreiche Krisen und Auferstehungen. Heute
stellt sich die Frage nach Zukunftschancen jenseits der Nostalgie. Der
Kulturhistoriker Wolfgang Kos erzählt die konfliktreiche Geschichte
einer exzentrischen Landschaft, die Reichenau und die Rax ebenso umfasst
wie die steirische Seite des Semmering-Gebiets. (Residenz)
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