Christoph Ransmayr: "Egal wohin, Baby"
Mikroromane
Christoph Ransmayr reiste und verweilte, fotografierte und
notierte: der poetische Erinnerungsjournalist in eigener Sache verortet abermals das Große im Kleinen
"Wie die Sammlung meiner siebzig, im Vorübergehen und ohne gestalterischen und technischen Aufwand entstandenen Fotos enthalten auch meine Mikroromane ausschließlich Tatsachen und Fragmente meines
Lebens. (...) Indem hier einer sein Leben als Lorcan zur Sprache bringt und
Szenen und Augenblicke daraus mit Schnappschüssen sichtbar macht, befreit er
sich vom Gewicht seiner Erinnerungen und verwandelt einen erschöpften Touristen
oder einen von Neugier und Fernweh erfüllten Reisenden in einen gelassenen
Erzähler." (S. 7, 8)
Während der 1954 geborene Autor in seinem "Atlas eines ängstlichen Mannes"
(erschienen anno 2012) siebzig Seh-Episoden anschaulich festgehalten hat, wirkt
"Egal wohin, Baby" (im Original übrigens ein Grafitto an einer Ingolstädter Bahnhofsmauer)
wie ein ernüchternder Aufguss aus dem zweifellos umfangreichen
Reiseerlebnissefundus dieses einmal erstaunlich waghalsigen, dann wieder
sympathisch zaghaften Menschen.
Für diese von ihm so genannten "Mikroromane"
schlüpfte Ransmayr in seine Kunstfigur "Lorcan" (Gälisch: "wilder Kämpfer") aus
einem noch ungeschriebenen Roman, was jedoch zumindest dem Leser keinen
erkennbaren Mehrwert beschert und ihn daher auch nicht weiter kümmert.
Offenbar fühlte sich der unverzagt weltsuchende Edelnomade
infolge einer solcherart vermeintlich oder tatsächlich erzeugten
Distanz immerhin weniger (von sich selbst?) eingeengt, was man ihm von Herzen
vergönnt.
Nun kann man
zwar die Fotos getrost als "Schnappschüsse" bezeichnen, Ransmayrs felsenfeste Art des
Schreibens verunmöglicht freilich - glücklicherweise! - sprachliche
Schnellschüsse.
Jeweils von schwarzweißen Bildzeugnissen ausgehend
werden also kunterbunte Kurzgeschichten aus aller Welt geboten. Sei es über
einen Nebelhut, Eissäulen, die Sonnenpyramide, Hirnkorallen, ein Elefantenfest,
den Wilden Fall, der schon in Ransmayrs Roman "Der
Fallmeister" als beeindruckende Kulisse dient, Zeichen in
Steinbrüchen, Erdbeben, Amselspuren im Schnee, lebende Käfer als Schmuck, einen
Garten Eden, die Beobachtung der Venus, die Isla Robinson Crusoe, telefonierende
Japanerinnen, den Berg der Kreuze, einen Brillenpinguin, den jüdischen Friedhof
in
Czernowitz, Krokodilmumien, ein Tor zum Ozean, Fruchtfliegen, eine
Gebissdiebin, Eisbären, Gorillas, Große Musik - um nur einige "Zutaten" zu nennen.
An den vielleicht geglücktesten Stellen mancher Mikroromane, keineswegs
ausschließlich im Kapitel "Trachila", fühlt man sich schlagartig an Ransmayrs
Meisterwerk "Die
letzte Welt" erinnert (bessere Zeiten in vielerlei Hinsicht).
Mythen,
Legenden, allerlei Geschichten sowie Götter, Helden, Außenseiter und Nachspürer - derlei
Motive und Gestalten wecken
erfreulicherweise ungebrochen Christoph Ransmayrs Interesse und regen seit jeher
seine Fantasie an, ist er doch selbst ein begabter Nachspürer (u.A. im
Mikroroman "Im Edelweißbett"), der über zauberhafte sprachliche Bindemittel und
ein besonderes Assoziationsvermögen verfügt.
Ransmayrs stabile Formulierungskunst
war und ist stets in jenen Passagen, die unmittelbare Eindrücke fassen, ebenso
hochliterarisch wie authentisch. Als Anlassfallmoralist oder auch
Teilzeitsoziologe überzeugt er hingegen keineswegs, wie die überwiegend so hilflos
wie aufgesetzt wirkenden Kurztiraden gegen Artgenossen anderer Zeiten und
Kulturen sowie Ausrutscher in massenmedienübliche Diktion bekunden.
Erwähnt
sei weiters der stellenweise deutlich zutagetretende Hang zur Morbidität (z.B.
in "Liebende").
Lesungen aus diesem Buch finden übrigens zu Gitarrenmusikvariationen von Wolfgang Muthspiel nach Georg Friedrich Händels Arie "Lascia ch'io pianga" sowie Lichtbilderprojektionen statt.
Bleibt zu hoffen, dass Christoph Ransmayr weiterhin neugierig und fantasievoll
interessanten Menschen und Begebenheiten sowie sich selbst rund um die Welt
nachspüren und immerfort Sprachschätze für seine wohlwollende Leserschaft
anhäufen möge!
"Denn so wie uns ein einziger Satz, ja ein einziges Wort
eines geliebten Menschen lebenslang begleiten und die Erinnerung an diesen
Menschen wachhalten könne, hatte dieser Lehrer gesagt (er ging Jahre später am
Alkohol zugrunde), sei vielleicht schon eine einzige Zeile aus einem Gedicht,
das uns bewegt oder erschüttert habe, geeignet, uns den Zauber der Verwandlung
von etwas in Sprache, in Poesie, als die größte und tröstlichste Kunst erkennen
zu lassen, zu der ein Mensch fähig sei." (S. 216)
(kre; 12/2024)
Christoph Ransmayr: "Egal wohin, Baby.
Mikroromane"
S. Fischer, 2024. 256 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Digitalbuch bei amazon.de bestellen