Arnold Stadler: "Irgendwo. Aber am Meer"


Nachwehen einer Lesung nebst einmal Lefkada und retour: Selbstvergewisserungen zu Land und zu Wasser

In Arnold Stadlers Roman begleitet man den namenlosen Icherzähler-Schriftsteller, der offenkundig nicht wenige Gemeinsamkeiten mit dem Autor aufweist, nach einer verletzend entgleisten Publikumsdiskussion im Anschluss an die Lesung aus seinem "Kilimandscharo-Buch" auf Schloss Sayn im Westerwald durch einige Monate seines grundsätzlich beschaulichen Daseins.

Diese Lesung stellt jedoch ein Ereignis dar, das ihn, weil er nun einmal wirklich nicht die umweltreisende Schwedin Greta Thunberg ist, und aufgrund einer schäbigen Anfeindung aus dem Publikum, noch lange Zeit beschäftigen und im Verlauf des Romans wiederholt abgehandelt wird: "Und gerade, als ich dabei war, endlich meinen Lösungsvorschlag in der Energiefrage vorzutragen: zuerst einmal weniger Energie verbrauchen, zweitens, sie effektiver einzusetzen und drittens ... schrie schon eine energische Stimme, eine, wie ich sie aus den Uni-Seminaren kannte: Das ist ja das reinste weiße Altmännergeschwätz!" (S. 44)
Solcherart zutiefst in der Seele getroffen, urteilt er, wie vermutlich viele Schriftsteller, die schon Bekanntschaft mit bösartigen Alltagsaufgehetzten machen mussten: "Und dass jede Lesung mittlerweile etwas war zwischen Butterfahrt, Event und Tribunal und mich erinnerte an die Zeiten der Römer in den Arenen, mit ihren Daumen nach unten." (S. 47)
Die erfahrene grobe Mitmenschlichkeit veranlasst den Autor zu folgender Aussage: "Mein Schreiben sollte von nun an erst recht nichts mehr sein als eine einzige Folge von Vogelscheuchensätzen." (S. 66)

Auch der Heimweg verläuft nicht ohne Hindernisse, vor allem technischer Natur in Tuttlingen ("Loden Se sich ne Äbb heründer!", S. 79), und die kuriose Kette misslicher Vorkommnisse führt schließlich dazu, dass der Schriftsteller seine alljährliche Reise auf die ionische Insel Lefkada, gegenüber Ithaka, um Wochen verschieben muss. Man kennt derlei ja: Strafmandate und die Post ... Die Vorfreude auf die Zeit fernab der Alltagsheimat steigern Erlebnisse wie dieses naturgemäß: "Und dann: Wie andächtig der sonst so freche Morgenmoderator in meinem täglichen Deutschlandfunk kurz vor sieben den Ausführungen des Zinsexperten von der EZB lauschte. Kein Wort passte besser als 'andächtig'. Die Geldpolitik der EU und ein Experte. - Wäre es aber ein sogenannter Geistesmensch gewesen oder auch nur ein Politiker oder eine Politikerin, oder ein Schriftsteller, den die Waffenexporte nicht glücklicher machten, dann hätte der Zeitgeistvirtuose des Nachrichtensenders angriffslustig ständig unterbrochen und wie ein Kampfhund keine Ruhe gegeben, bis, nun ja, Sie wissen es schon, das zum Abschuss freigegebene Objekt niedergemacht wäre, ob es nun Andrea Nahles war oder Annegret Kramp-Karrenbauer - nebenbei: Was waren das für Namen!" (S. 68, 69)

Arnold Stadler wurde am 9. April 1954 in Meßkirch geboren und wuchs in bäuerlichem Umfeld auf. Er studierte katholische Theologie in München, Rom und Freiburg, anschließend Literaturwissenschaft in Freiburg, Bonn und Köln. Und auch sein gebildeter Zeitfremdling in "Irgendwo. Aber am Meer" profitiert von Stadlers kenntnisreicher Wissensfülle und sinniert in einer brüllend egozentrischen, von Schlagzeilen und Bassenatratsch geprägten Menschenwelt unterhaltsam und geistreich über Natur und Umwelt, zu Verbrauchern bzw. Konsumenten degradierte Menschen, über Land und Leute von damals und heute. Einmal behutsame, dann wieder aufrüttelnde Annäherungen an Zustände und Befindlichkeiten werden ebenso geboten wie anekdotische Erkundungen, eingebettet in eine gemächliche Reisebewegung und einen ruhigen Inselaufenthalt.
Die Kapitelüberschriften lauten: "Sayn", "Auf dem Weg zum Heimatfriedhof", "Wanderer, kommst du nach Ithaka", "Kyriaki anoichta - Sundays open; Stopp bei Lidl", "Infinitypool mit Ithakablick", "Auf der Asterion II oder 'Irgendwo. Aber am Meer'".

Der Icherzähler konfrontiert sich mit aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen, dem "Exportweltmeister" Deutschland und einigen Politikdarstellern, hegt dabei nicht selten Zweifel an fast allem und empfindet "Rückspiegelschmerz". Er grübelt tiefschürfend über Heimat, Heimweh, verblendete Zeitgeister, Sehnsüchte und Enttäuschungen, Kindheits- und Jugenderinnerungen, Reime, Lieder und Melodien, Waffenexporte und Krieg ("Umweltfreundliche Kriegsführung, bitte!" S. 128), eigene Ängste und verlässlich quotensteigernde Katastrophen, Hoffnung und Liebe, Lebensentwürfe, sein neues Dieselkraftfahrzeug, plötzlich ergrünte Atomkraft und allerhand mehr.
Häufig ist dem Autor Sprache bzw. Wortwahl Zuflucht, Trost oder eben einfach für sich genommen Thema: "Das entscheidende Wort war auch hier 'lecker': Das Wort verfolgte mich. Ich hatte es in der Lodge am Kilimandscharo gehört, wie bei fast jedem Essen, zu dem ich geladen war; nur hier im Schloss hätte das die Fürstin nicht durchgehen lassen. Nicht einmal 'Guten Appetit!' durfte man sich in Adelskreisen wünschen, bei der Strafe der Exkommunikation. Die Fürstin würde aber wohl gar nicht kommen, wahrscheinlich nicht deswegen, weil ich es war, sondern eher, weil sie es und das Wort 'lecker' nicht ertragen hätte. Also würde sie niemals erfahren, dass auch ich das Wort 'lecker' scharf missbilligte. Sie ekelte sich vor diesem Wort vielleicht genauso wie ich." (S. 19) Was für eine eloquente Einladung, wunderschöne Wörter wie "köstlich", "erstklassig", "fabelhaft" in den Mund zu nehmen! Geradezu unerträglich erscheinen dem Icherzähler übrigens auch die typisch deutschen Floskeln "Druck machen" und "liefern müssen".

Speziell in Mitteleuropa kann ja bekanntlich auch der Mildeste längst nicht mehr in Frieden leben, weil es den zeitgeistmissionarisch aufgestachelten Nachbarn nicht gefällt, und so zieht sich der Autor in sein Refugium auf Lefkada zurück, wo er eigentlich sein Buch fertigstellen soll, vielleicht sogar will. Doch wie es so ist, wenn einem die Umgebung plötzlich wohlwollend erscheint, es zudem viel anzuschauen gibt und der Zeitdruck endlich abfällt, geraten vormals so dringliche Ansinnen ins Hintertreffen, man ist damit beschäftigt, (viel selbstbstimmter als daheim) zu leben.
Allzu schnell verfliegt diese weitgehend mit behaglichen Eindrücken ausgefüllte Zeit, und schon befindet sich der Autor auf der Fähre nach Triest, wo er im Verlauf seines Grübelns und Schreibens (womöglich auch die eine oder andere Flasche leerend) zu seinem großen "Ja" zurückfindet.

"Irgendwo. Aber am Meer" ist ein erfrischend geruhsames Buch, das unterhaltsame Momente ebenso wie kritische Reflexionen und Denkanstöße bietet. Und das im besten Fall bewirken kann, dass zukünftig eine größere Schar von Lesungsbesuchern respektvoll und freundlich auftritt, sich also nicht von omnipräsenten, verantwortungsbefreiten Selbstdarstellern als Wegwerfsprachröhrchen missbrauchen und anhaltend manipulieren lässt. "'Wir' war ein Wort, hinter dem wir uns, in dem wir uns alle verstecken konnten und untergehen." (S. 57) Wie schreibt Arnold Stadler so treffend: "Und doch war ich immer noch einer, der 'ich' sagte." (S. 89) Höchstpersönlich, höchstversöhnlich!

(kre; 04/2023)


Arnold Stadler: "Irgendwo. Aber am Meer"
S. Fischer, 2023. 224 Seiten.
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