Drago Jančar: "Als die Welt entstand"
"Die Welt, die es
noch nicht gibt und die in der von Danijel erzählten Geschichte vor
unseren Augen entstehen wird, ist von einer tiefen Stille vom Himmel
bis zur Erde durchdrungen. In diese Welt kommt eine Geschichte, die
auf so festen Fundamenten wie der Erinnerung und der Phantasie eines
Kindes beruht. Darum ist sie im Traum und in der Wirklichkeit zu
Hause, beides zugleich." (S. 12)
"Danijel ist kein gewöhnlicher Knabe. Er ist ein Seher."
(S. 191)
Drago Jančar, am 13. April 1948 in Maribor geboren, ist der vielfach
preisgekrönte hochliterarische Chronist seiner Geburtsstadt und
vermittelt in etlichen seiner Romane authentische Eindrücke von
einstigen Jahrzehnten, wie beispielsweise auch der tschechische
Schriftsteller Jiří
Kratochvil, dieser freilich für "sein" Brno.
In "Als die Welt entstand" erzählt der Ende der 1950er-, Anfang der
1960er-Jahre halbwüchsige Danijel aus zeitlicher Distanz von einigen
prägenden Monaten aus seinem damaligen Alltag, der sich ebenso brutal
wie geheimnisvoll und fantasieanregend auf der in stetigem Wandel
befindlichen Bühne Jugoslawiens abgespielt hat. Die Verwendung des
Präsens verstärkt die atmosphärische Dichte der Erinnerungen, indem
quasi das unmittelbare Leuchten der jeweiligen Ereignisse und
Augenblicke zurückgeholt wird.
"(...) allen habe ich vertraut und geglaubt, der Mutter, dem Vater
und Lena, Pepi und dem Professor Fabjan, Vasilka und meinem Freund
Franci, der Geige gespielt hat, noch am ehesten aber den Geschichten
aus der Heiligen Schrift, die uns Pater Aloisius erzählt hat."
(S. 24)
Danijel versucht sich seine Welt auf Grundlage unterschiedlicher
Informationen zusammenzuzimmern und zu erklären, dazu zählen u. A.
Abenteuerromane, Kinofilme und die prägenden, nicht selten blutrünstigen
Bibelgeschichten des Kapuzinerpaters Aloisius (z.B. über David und
Goliath und Batseba), dessen Religionsunterricht der heimlich getaufte
Bub auf Wunsch seiner Mutter, geheimgehalten vor dem kommunistisch
gesinnten Vater, dem die Religion naturgemäß überhaupt ein Dorn im Auge
ist, allenfalls Jesus lässt er als ersten Kommunisten gelten, besucht.
Die überschaubar wenigen Romanfiguren verkörpern jeweils bestimmte
typische Gesellschaftsbereiche und Geisteshaltungen, anhand derer die
Nachwehen der NS-Zeit, des Krieges und die bleibenden Brüche zwischen
den Menschen in aller Deutlichkeit zutagetreten. Danijels Mutter an der
sozusagen ewigen Nähmaschine muss regelmäßig auf der Suche nach
Dollarscheinen die Nähte gebrauchter Kleider, die ein in die USA
ausgewanderter Verwandter ihres Ehemannes in die alte Heimat schickt,
auftrennen und, da sich allerhöchstens Gebetszettel in den abgetragenen
Textilien befinden, wieder zusammennähen, wobei ein Oberteil mit typisch
us-amerikanischer Aufschrift für Provokationen sorgt.
Der Vater war vor Jahren aufgrund seiner Partisanenaktionen in einem
Konzentrationslager interniert, und wenn er jetzt mit alten und neuen
Kameraden und viel Alkohol und Nikotin in der Wohnung "Elend" und
"Radau" (so nennt Danijels Mutter diese Zusammenkünfte)
veranstaltet, geht es laut, mitunter auch brandgefährlich zu und vor
allem immer um dieselben Themen. Es sind nämlich noch viele Rechnungen
und alte Wunden offen, und im Rückblick will jeder ein wichtiger
Vaterlandsheld gewesen sein.
Der Vater erleidet bei einem auswärtigen Kameradentreffen einen
Schlaganfall, von dem er sich nie mehr erholt, und seine Schusswaffe
wird nach einem Vorfall eingezogen.
Zuflucht findet Danijel gern und häufig bei dem pensionierten Professor
Fabjan, dem eigenbrötlerischen Gelehrten, der ihn mit seinen Geschichten
inspiriert, bis er eines Tages "verreist", wie auch die deutsche Familie
Rainer, deren Oberhaupt im Krieg als Panzerfahrer ein Bein verloren hat
und aus Deutschland eine Rente bezieht, was viele Zeitgenossen anhaltend
empört. Danijels Halbbruder, der als Held verklärte Fußballer, Boxer und
Marinesoldat in seiner strahlend weißen Uniform, verlässt die Welt nach
einer üblen Rauferei und existiert fortan als Fabelwesen in Danijels
Fantasie weiter.
Die nachbarschaftliche Gerüchteküche brodelt in der angespannten
Situation bei Tag und Nacht, und nicht wenige der Vorkommnisse kann sich
Danijel erst viel später erklären, manche jedoch auch dann nicht.
Weitere Zutaten in der "erzählerischen Ursuppe" sind Danijels
romantische Erlebnisse und vertrauliche Gespräche mit seiner Freundin
Vasilka, für die das nur selten gnädige Schicksal tatsächlich eine
Wendung zum Guten bereithält, Konfrontationen mit der politisch
überkorrekten Lehrerin Tovarišica Benedetič,
zauberhafte Schilderungen der Natur und märchenhafte Momente aus der
Perspektive kindlicher Wahrnehmung, z. B. die Montage eines
Blitzableiters auf dem Kirchendach.
Als erzählerische Klammer dient eine auf Tatsachen beruhende
Dreiecksgeschichte um die neu zugezogene Hausbewohnerin Lena, zunächst
eine anständige, keksebackende Kirchgängerin, den braven Handwerker Pepi
("Patagon", Schuhgröße "mindestens 48") und einen auf
seinem Motorrad in der Weltgeschichte herumknatternden, gewalttätigen
Gecken namens Ljubo, dessen Auftauchen das letzten Endes mörderische
Geschehen ingangsetzt ...
Drago Jančar formuliert Danijels Berufung, die ja auch seine eigene ist,
folgendermaßen: "Du bist auserwählt zu sagen, was du gesehen hast.
Du bist auch erwählt, Träume zu sehen und sie zu lesen. Du wirst die
Träume Verliebter und die Träume Verratener lesen, die Träume von
Helden und Feiglingen, von Mörder und Opfer, von Häftling und
Herrscher, von Vater und Bruder, von Mutter und Schwester, von David
und Goliath, von Pepi und Guido, Lena und Vasilka, wirst selbst
träumen und wirst reden im Traum, weil du denkst, dass du verstehst
und erklären kannst. Viele Träume, viele Leben, viele Geschichten
wirst du erzählen und erklären." (S. 191, 192)
Der fesselnde, traurig-schöne Roman vermittelt auf kunstvolle Weise
keinerlei Hoffnung auf bessere Zeiten. Zu niederschmetternd sind seit
jeher die sich in veränderter Kostümierung wiederholenden
Verhaltensweisen gieriger Menschen in ihrem Hang, vermeintlich immer
noch bessere, jedenfalls "moderne" Gesellschaftsmodelle und vor allem
den endlich genehmen "neuen Menschen" zu erschaffen, ohne dabei
ernsthaft auf Ursachen und Auswirkungen oder gar auf die nachfolgende
Generation Rücksicht zu nehmen.
Nach dem Krieg ist immer vor dem Krieg, diese ernüchternde Feststellung
lastet auf der Menschheit. Allenfalls die Macht der Träume, die Kraft
der Fantasie und die Schönheit der Natur öffnen dem Einzelnen die Sicht
auf zeitweiliges Glück, und in jedem von uns verbirgt sich ganz gewiss
ein Kind vergangener Jahrzehnte, das höchstwahrscheinlich auch etwas
erzählen möchte, sofern man das zulässt.
(kre; 09/2023)
Drago
Jančar: "Als die Welt entstand"
(Originaltitel "Ob nastanku sveta")
Übersetzt von Erwin Köstler.
Zsolnay, 2023. 272 Seiten.
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