Paul Auster: "Baumgartner"
Tragisch, heiter,
ergebnisoffen: Wie ein verwitweter Intellektueller mit Alter, Verlust
und Endlichkeit umgeht
"Baumgartner hat noch Gefühle, er liebt noch, er begehrt noch, er
will noch leben, aber sein Innerstes ist tot. Er hat es die ganzen
zehn vergangenen Jahre über gewusst, und die ganzen zehn vergangenen
Jahre hat er alles getan, dieses Wissen zu verdrängen." (S.
57)
Werner Schmitz hat Paul Austers kleinen Roman über den emeritierten
Philosophieprofessor Seymour Tecumseh Baumgartner trefflich ins Deutsche
übersetzt, wobei Schmitz seit langer Zeit in Austers Erzählkosmos
beruflich quasi zu Hause ist und also Stilmittel und Figurenzeichnung
des 1947 geborenen us-amerikanischen Schriftstellers kennt. Man vermutet
auf Anhieb einige autobiografische Parallelen zwischen dem
melancholischen Protagonisten in Endzeitstimmung mit dem
außergewöhnlichen Namen und seinem Schöpfer, dessen Ehefrau Siri
Hustvedt im März 2023 die Öffentlichkeit über Austers
Krebserkrankung informierte.
Kein Wunder also, dass Endlichkeit und Erinnerungsschmerz diesen Roman
prägen - jedoch nicht ausschließlich bestimmen, denn sehr wohl gibt es
ebenso Humor, Ironie und Tatendrang aufgrund einer zutiefst empfundenen
Berufung.
Paul Austers achtzehnter Roman beginnt grandios mit sich überstürzenden
Missgeschicken voller Komik und Schmerzen, gelangt danach in ruhigeres
Fahrwasser, und gelegentlich meldet sich ein allwissender Erzähler zu
Wort.
Existenziell und bewegend, unterhaltsam und tiefgründig erschließen sich
Baumgartners Vergangenheit und Gegenwart dem Leser nach und nach anhand
von aktuellen Szenen und nostalgischen Rückblicken, wovon
selbstverständlich an dieser Stelle nicht viel verraten sei, um die
feinen Lektüreüberraschungen nicht zu schmälern.
Am 16. August 2008 ist Baumgartners große Liebe, seine Frau Anna Blume,
Übersetzerin und Dichterin, bei einem Badeunfall ums Leben gekommen.
Nach einer langen Phase der Lebensvernachlässigung und einem traumhaften
spirituellen Erlebnis im Juni 2018 krempelt der unerschütterliche
Grübler und Sprachliebhaber Baumgartner seinen Alltag entschlossen um,
aller Vergesslichkeit zum Trotz, und entdeckt neue Aufgaben, darunter
sein Buchprojekt mit dem Titel "Rätsel des Steuers".
Bevölkert wird die Szenerie u.A. von der verlässlichen Bücherpaketebotin
Molly, der hilfreichen Familie Flores, dem spätberufenen Gärtner Ed
Papadopoulos und der immerhin vorübergehend liebreizenden Judith Feuer.
Als sich die junge Studentin Beatrix Coen brennend für Annas
literarischen Nachlass interessiert, verfällt Baumgartner in
Hochstimmung und Vorbereitungswonnen. Dass dann naturgemäß wieder alles
anders als erwartet kommt, versteht sich beinahe von selbst.
Paul Auster hat, bei aller Kürze des Romans, ein beeindruckendes Netz
aus Gegenwarts- und Erinnerungsgeschichten gewebt. Lebensläufe von
Vorfahren und Rückblicke auf bedeutsame Vorkommnisse in Kindheit und
Jugend des Protagonisten finden sich darin ebenso wie vor langer Zeit
entstandene literarische Texte, aufschlussreiche Schilderungen von
Einwandererschicksalen und Auslandsaufenthalten. Dies alles bereichert
Baumgartners mitunter sprunghafte Spurensuche und notgedrungene
Pionierarbeit in eigener Sache mit überzeugender Wahrhaftigkeit.
Vielleicht ein bisschen unerwartet ist das offene Ende.
Aber man weiß ja, dass es erst zu Ende ist, wenn es vorbei ist. Und so
dürfen wir vorsichtig hoffen, doch früher oder später "das letzte
Kapitel der Saga von S.T. Baumgartner" serviert zu bekommen.
(Felix; 12/2023)
Paul
Auster: "Baumgartner"
(Originaltitel "Baumgartner")
Übersetzt
von Werner Schmitz.
Rowohlt, 2023. 204 Seiten.
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Ein weiteres Buch des
Autors:
"Bloodbath Nation"
Dies ist Paul Austers sehr persönliche Abrechnung mit der Vergottung des
Waffentragens in der us-amerikanischen Kultur und Gesellschaft. Er
erzählt davon zunächst in biografischen Vignetten, beginnend bei den
Spielzeugcolts der Kindheit und den Western im Fernsehen. Es folgen die
ersten Einschläge im näheren Umfeld, der von der Großmutter erschossene
Großvater - lange Zeit ein Familiengeheimnis, von dem Auster nur durch
Zufall erfuhr. Von da aus geht er zurück in die us-amerikanische
Geschichte und erklärt, warum die Waffe in der Hand des freien Bürgers
in direkter Linie aus der Gewalt der Sklavenhaltergesellschaft
hervorgegangen ist.
Der Streit ums Waffentragen führt ins Zentrum der aktuellen
Auseinandersetzungen um die Gestaltung des us-amerikanischen
Gesellschaftssystems. Auster zeigt sich hier als ebenso polemischer wie
klarsichtiger politischer Beobachter und Kommentator.
Der Text wird begleitet von Fotos des US-Fotografen Spencer Ostrander -
in ihrer Stille gespenstisch eindrückliche Schwarz-Weiß-Aufnahmen der
Schauplätze bekannter Massaker. (Rowohlt)
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