Christian Meier: "Die politische Kunst der griechischen Tragödie"


Die Verbindungen von Politik und Tragödie im Athen des fünften Jahrhunderts vor der üblichen Zeitrechnung

Christian Meier ist das, was man mit dem griechischen Wort Koryfäe bezeichnen kann, ein ausgewiesener Kenner der antiken Welt und des klassischen Griechenlands im besonderen, zu welchem er bereits etliche Bücher verfasst hat. In "Die politische Kunst der griechischen Tragödie" geht es um die Wechselwirkung zwischen der Athener Politik des fünften vorchristlichen Jahrhunderts und einer der größten Errungenschaften der an solchen wahrlich nicht armen Stadt, der Tragödie. Es handelt von dem Niederschlag, den damalige politische Entwicklungen in den Stücken der drei großen Dramatiker Aischylos, Sofokles und Euripides hinterlassen haben, und weit mehr noch von der gegensätzlichen Richtung, davon nämlich, wie insbesondere die beiden Erstgenannten durch Aufgreifen
gewisser politischer Tendenzen und Problemfelder, durch deren sorgfältige Bearbeitung und Verquickung mit anderen Elementen ihrer Kunst auf den demos, das viel stärker als in den anderen Stadtstaaten in die Politik eingebundene Volk, einzuwirken suchten. Erzieherisch, wie schon Aristofanes meinte, wozu wiederum Christian Meier anmerkt:
"Aber entweder muß man den Erziehungsbegriff dabei sehr weit fassen, oder man muß zugeben, daß es um sehr viel mehr ging, um Diskussion, um ein Durchspielen von wichtigen Fragen, ein Einverleiben neuer Tatbestände in Vorstellungswelt, Ethos und Religion - und um deren Veränderung."
(S. 74)

Zunächst gibt der Autor den historischen Verlauf wieder, welchen Athen im fünften vorchristlichen Jahrhundert genommen hat, der außenpolitisch von der riskanten Unterstützung des ionischen Aufstandes gegen das Perserreich (500) über die erfolgreichen Perserkriege (Marathon - 490; Salamis - 480), die Gründung des Attischen Seebunds (478/77), Erlangung der griechischen Vorherrschaft und des Großmachtstatus bis zu deren Verlust durch die Niederlage im Peloponnesischen Krieg (431-404) reicht. Besonders ist es Christian Meier daran gelegen - entsprechend viele Seiten verwendet er darauf -, einen tiefgehenden Eindruck der sich rasant ändernden inneren Verfasstheit der Stadt und der ständig Neuheiten zu verdauen habenden Mentalität ihrer Bürger zu vermitteln: "Bürger-Identität", "Große Politik, radikale Demokratie und beschleunigter Wandel der Verhältnisse", "Das mentale Unterfangen des Politischen: Fragen zum Athen des fünften Jahrhunderts" lauten hierzu die beredten Untertitel.

Im weiteren entwirft der Autor ein detailreiches Bild davon, wie man sich die Dionysien in etwa vorzustellen habe, das große Fest zu Ehren des Gottes in der zweiten Märzhälfte, an dem außerdem zahlreiche Abgesandte aus den befreundeten (bzw. tributpflichtigen, was ebenfalls bei dieser festlichen Gelegenheit erledigt wurde) Stadtstaaten teilnahmen und so im Anschluss daheim gleich von der Größe und dem Wahnsinn Athens (oder neutraler der Modernität der Stadt) Kunde geben konnten. Wie zum Beispiel von den neuesten Tragödien, deren neun, drei an drei aufeinanderfolgenden Tagen - die Auswahl geschah viele Monate vorher nach genauen Regeln, wobei sowohl Abstimmungen als auch das Los eine wichtige Rolle spielten - jährlich zur Erstaufführung gelangten. Neben dem Prestige, der Unterhaltung und der frischen Nahrung für den kritikfreudigen Geist des Athener Publikums sei hierbei, so Meier, nicht zuletzt das seelische Bedürfnis nach Neuordnung in einer besonders schnelllebigen Zeit, ein starkes Bedürfnis nach Ausgleich zwischen Altem und Neuem zum Tragen gekommen.

Schließlich werden die erhaltenen Tragödien der drei Theaterurgesteine auf ihren politischen Gehalt hin untersucht. Nicht nur in seiner Gewichtung der Besprechungen macht der Autor deutlich, dass für ihn Aischylos derjenige war, der sich am leidenschaftlichsten als "Erzieher", als Tragöde mit einem politischen Anspruch in solch einem längerfristigen, volksbildenden und psychohygienischen Sinn betätigte, während bei Euripides der Optimismus der Älteren, diesbezüglich Einfluss nehmen zu können, nahezu erloschen scheint, Helden und Götter bei diesem nur mehr ihre eigene persönliche Agenda verfolgen (wie es auch in der Athener Politik und Gesellschaft spätestens mit Fortdauer des Peloponnesischen Krieges nicht mehr zu übersehen war), während kleine patriotische Einschübe den Verdacht nahelegen, dass Euripides die Wahrscheinlichkeit eines Sieges bei den Dionysien dadurch zu erhöhen hoffte.

Aischylos indessen, stolzer, wenn man seiner überlieferten Grabinschrift glauben darf, auf seine Teilnahme an der siegreichen Schlacht von Marathon als auf seine vielfach prämierten Werke, war beseelt von Charakterbildung des Volks und der großen Aufgabe, den Athenern die großen historischen Ereignisse in ein rechtes Licht zu rücken, sie in einer allgemeinen Weltsicht, in der ebenso Mythologie, Religion, Moral, Vernunft und andere Tugenden ihren Platz fänden, aufgehen zu lassen. So in dem ältesten der Welt überlieferten Theaterstück "Die Perser" aus dem Jahr 472, in welchem er die Seeschlacht von Salamis aus Sicht der unterlegenen Perser, und zwar in einer zu Mitgefühl mit dem alten Feind nötigenden Weise, auf die Bühne bringt, gleichzeitig den Leichtsinn des Perserkönigs Xerxes - noch akzentuiert durch dessen Gegenüberstellung mit dem Geist seines viel verantwortlicher gezeichneten Vaters Dareios - tadelt, des Xerxes Kühnheit, die Dardanellen zu überqueren, als am Rande gotteslästerlichen Frevels ansiedelt und darüberhinaus unterschwellig mit der Analogie der Gegensatzpaare Land-Meer, Perserreich-Griechenland und Knechtschaft-Freiheit spielt. Die Warnung an seine Landsleute, es den Persern an leichtsinnigen Kriegsunternehmungen gleichzutun, die Hoffnung, durch sein Bühnenwerk etwas zum Erlöschen des Kreislaufs von Rache und Gegenrache beigetragen zu haben, und manches das Publikum bewusst und unbewusst Ergreifende mehr kann man in dieser Tragödie ausmachen.

Als Inbegriff des politischen Theaters (natürlich fernab der platten, stupiden Handhabung von heutzutage) erscheint Christian Meier des Aischylos Trilogie "Orestie", vor allem deren abschließende Tragödie "Die Eumeniden". Altes Recht und neues Recht treffen aufeinander, so wie zur gleichen Zeit in der politischen Wirklichkeit die alte Staatsform in ihrem Gleichgewicht von Adelsrat und Volksversammlung mit der neuen, der radikalen Demokratie - in der Tragödie sind es die Rachegöttinnen älteren Ursprungs, die mit dem jüngeren Göttergeschlecht um Zeus einen ähnlichen Konflikt austragen. Gegenstand der Gerichtsverhandlung in Athen (wo sonst könnte in Griechenland auch eine neue Wahrheit das Licht der Welt erblicken) ist Orest, Mörder der Mutter und damit Rächer des Vaters, dem sein Schutzgott Apoll nur mit Mühe und nicht auf Dauer die verfolgenden Erinyen vom Leib halten kann, weswegen nun der Schiedsspruch der Pallas Athene in Anspruch genommen werden soll. Dies führt zu einem beeindruckend aberwitzigen Finale der Orestie (übrigens der einzig erhaltenen Trilogie der griechischen Antike), stellt auch, wenn man so will, eine rührende Versöhnungsanstrengung des auf die Siebzig zugehenden Altmeisters dar, die sattsam bekannte Atridengeschichte mit der Problematik der alten und neuen Verfassung zu verbinden, beide Standpunkte mithilfe von Mehrheitsabstimmung, winkeladvokatischem Vorgehen, einer Unzuständigkeitserklärung, blanker Drohung und süßer Schmeichelrede der Schutzgöttin Athens in ein behutsames Gleichgewicht zu bringen, schlussendlich in einer heidnischen Transsubstantiation (bzw. Metousiose) die Erinyen in Eumeniden ("Wohlgesinnte") zu verwandeln und ihnen als solchen einen neuen Aufgabenbereich in der Stadt zuzuweisen.

Ebenfalls nur auf zwei Werke des Sofokles sei hier eingegangen (Christian Meier geht sie alle durch). In der Tragödie "Ajax" treffen, ähnlich wie in den Eumeniden und wenige Jahre später als jene zur Aufführung gelangt, altes und neues Recht aufeinander, anders als bei Aischylos allerdings gänzlich unversöhnlich. Im Streit darüber, wie mit der Leiche des verdienstvollen, aber in Ungnade gefallenen Troja-Helden Ajax zu verfahren sei - Ajax' Bruder Teukros beruft sich auf altes göttliches Recht (bzw. ungeschriebenes Naturrecht), Agamemnon auf das politische des Befehlshabers, der Ungehorsam zu bestrafen hat -, bedarf es der solchen Absolutheitsanspruch transzendierenden Weisheit des Odysseus, den Konflikt beizulegen. Die moderne - allzu moderne - List,  die er anwenden muss, um seinen lieben Freund Agamemnon letztendlich doch zum Einlenken zu bewegen (damit mutmaßlich viel Unheil abwendend), weist schon auf die des großen Ganzen verlustig gegangene Welt des Euripides hin.
Die vielleicht letzte künstlerische Einflussnahme des Sofokles auf das politische Geschehen seines Stadtstaates stellt nach Dafürhalten des Autors der die zum Untergang führende Hybris anprangernde Chor in "König Ödipus" dar, welcher am Vorabend des Peloponnesischen Krieges der außenpolitisch wenig Skrupel zeigenden Stadt Athen eine indirekte (das Stück spielt in Theben), aber umso eindringlichere Warnung zukommen lässt, während Kreons Vorwürfe an Ödipus (... Ö: "Doch gehorchen musst du mir." K: "Dem ungerechten Herrscher nie!" Ö: "Oh Stadt, oh Stadt!" K: "Teilnahme gönnt auch mir die Stadt, nicht dir allein." ...), dem in seiner Eigenschaft als König trotz seines grausamen Schicksals keine übermäßige Willkür nachgesagt werden kann, an keinen Geringeren als den ziemlich selbstherrlich regierenden Hyper-Demokraten Perikles gerichtet sein könnten.

Christian Meier bietet ausführliche Beschreibungen, offenbart klare Zusammenhänge, zeigt Wahrscheinlichkeiten an, gibt Vermutungen und vorsichtige Interpretationen ab und muss notgedrungen auch vieles im Dunkeln lassen. Das vielleicht Beeindruckendste an dem Buch, das nun in einer erweiterten Auflage vorliegt, geht indes von seiner Tiefenwirkung aus, von einer Prosa, die in prächtigem altem Deutsch ihre Gegenstände umkreist, dabei die lange, intensive Beschäftigung des Autors mit dem antiken Athen spürbar und uns diese immerhin zweieinhalb Jahrtausende zurückliegende Welt bis zu einem gewissen Grad erlebbar macht. Freilich gilt:
"Vieles an der Tragödie bleibt uns verborgen. Von an die 900 im fünften Jahrhundert aufgeführten (und gewiß weit mehr noch produzierten) Tragödien sind uns ja nur 31 überliefert. Und es waren vornehmlich philologische, nicht politische Gesichtspunkte, nach denen man 28 davon der Überlieferung für wert hielt." (S. 276)

(fritz; 10/2022)


Christian Meier: "Die politische Kunst der griechischen Tragödie"
C.H.Beck, 2022. 285 Seiten.

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