Heinrich Steinfest: "Der betrunkene Berg"


Kühler Menschen Schuld und Sühne in einer abgeschiedenen Bergwelt

Weißromantisch
beginnt er, der neue Roman Heinrich Steinfests, mit der ersten Schneeflocke des Jahres und einer kleinen Werbung für den Winter und den Wintersport. Der allergrößte Teil des Buches - von etlichen Rückblicken in die Vergangenheit seiner drei Hauptpersonen und einen noch weiter zurückliegenden abgesehen - spielt in unserer Gegenwart; wir haben Spätherbst und befinden uns an einem hochgelegenen kühlen Ort .
"Ich bin kein Hotel", sagte Katharina.
"Was sind Sie eigentlich?", fragte er und sah sich um. "Eine Buchhandlung? Oder träume ich das nur? Auf wie viel Metern sind wir?"
"Auf über eintausendsiebenhundert. Und, ja, es ist eine Buchhandlung."
(S. 19)
Katharina heißt die Herrin der "Bücherberg" genannten Buchhandlung und ist, wie bei Steinfest nicht anders zu erwarten, eine starke Frau, eine, die ihr langes dunkles Haar stets mit bedruckten Seidentüchern gebunden trägt, eine Blusen-Frau, die hart im Nehmen ist, eine (einmal noch anders) "Schönheit, von der man nicht sagen konnte, ob sie besser zu ihren Büchern passe oder besser zur Rauheit der diesen Laden umgebenden Natur" (S. 8). Von der Abfindung nach ihrer zweiten gescheiterten Ehe hat sie sich diesen exzentrischen Traum der höchstgelegenen Buchhandlung in den Alpen erfüllt, erfreut sich ihrer Bücherwelt und der Abgeschiedenheit der im oberösterreichischen Salzkammergut gelegenen Berglandschaft, die sich auch auf die anderen Romanfiguren heilsam auswirken wird und von deren Panorama es unter anderem heißt:
"In einer Welt, die aus der Höhe betrachtet immer gleich weit entfernt schien, egal, welcher Flecken der Erde damit gemeint war, egal, ob es sich um die innenpolitische Komödie handelte, ein hysterisch bejubeltes Fußballspiel oder das große Welttheater, welches letzlich immer ein zu globaler Größe aufgeblasenes Provinztheater war, wo sich alle gegenseitig beschuldigten, Bananenrepubliken und Schurkenstaaten zu sein." (S. 25)
Außerdem passt Katharina, während der Übergangszeit die Stellung haltend, auf das danebenliegende Gebäude, eine größere Schutzhütte, die ab Neujahr wieder für Wintertouristen offen stehen wird, auf.
Während sie jedoch normalerweise in der Zeit davor ihre Einsamkeit genießen kann bzw. mangels Alternativen muss, hat sie diesmal Gesellschaft bekommen. Bei einem ihrer täglichen Aufstiege zum über Hütte und Buchladen emporragenden Gipfel des Hausberges (einer der vielen Kogel der Gegend, der ganze Name wird nicht verraten) hat sie nämlich einen viel zu leicht bekleideten Mann aus dem Schnee gezogen und ihm so, fast gegen seinen Willen, wie es schien, das Leben gerettet. Dieser erweist sich indessen an einer Amnesie leidend, weiß zunächst lediglich, dass er weder Bergrettung noch zurück ins Tal, sondern den Monat bis zu Wintersaisonbeginn hier oben bleiben und sein Erinnerungsvermögen wiedererlangen möchte, und da Katharina mit den Helden ihrer Bücher - sie führt nämlich ausschließlich solche, die von Bergen und Bergbesteigungen handeln - den Mut zum Risiko teilt, lässt sie Robert, wie sie den Geretteten ob seiner Roberthaftigkeit (so jedenfalls ihr Befund) provisorisch tauft, tatsächlich bei sich wohnen. Beim Umgruppieren der Bücherregale müsse er ihr allerdings helfen und vor allem täglich - Katharina schätzt nämlich gute Küche, ohne allerdings mit dem dafür notwendigen Talent gesegnet zu sein, es kann also beinahe nur besser werden - in der geräumigen und diesbezüglich gut bestückten Küche der Schutzhütte eine Hauptmahlzeit zubereiten.

Im weiteren erleben wir mit, wie sich Robert langsam an dies und jenes zu erinnern beginnt und mit seinen Erinnerungen dabei manch vergangenes Ereignis in Katharinas Leben wieder ins Bewusstsein bringt, denn, so viel wird bald klar, beiden scheint gemeinsam, erhebliche Schuld am Tod eines Menschen auf sich geladen zu haben - in beiden finden wir für das hochentwickelte Vermögen der menschlichen Psyche zur Verdrängung sowie zur nachträglichen Beschönigung prächtige Beispiele vor. Doch mit dem Willen und Mut zur Wahrheit und nicht unwesentlichen Hilfestellungen der Natur fallen nach und nach die Schleier, und so wird schließlich auch das Geheimnis, warum Robert sterben wollte und wer er nun wirklich ist, ein Koch (seine Salate ...), ein Künstler ...
"Das nennen Sie spielen? Das ist eine irre Skulptur. Riesig! Also, ich meine nicht nur, weil sie so groß ist."
"Ja, aber ich bin trotzdem unzufrieden. So viel Spaß das macht. Aber etwas fehlt noch."
"Die Unzufriedenheit ist eigentlich ein Beweis dafür, dass das Ihr Beruf sein dürfte."
"Was? Unzufrieden sein?"
"Künstler sein."
"Nicht wirklich", meinte Robert. "Wobei ... ich habe heute Nacht von einem großen, hellen Raum geträumt. Hohe Wände, hohe Scheiben. Es stand aber keinerlei Kunst herum, nur Müll."
"Der Müll könnte die Kunst gewesen sein."
(S. 56)

... ein ehemaliger Kampfsportler (worauf manche seiner Erinnerungsbruchstücke hindeuten) oder gar ein Schauspieler (zu seinen Asylantenpflichten gehört es nämlich außerdem, Katharina in Abwechslung mit dieser aus einem Buch, worin es um die Erstbesteigung des Hauskogels geht, vorzulesen, und er steht dabei der Branchenfrau und Literaturfreundin in Ausdruck und Intonation um nichts nach), gelüftet.

Heinrich Steinfest lässt es derweilen nicht bei den inneren Spannungen bewenden - zwei weitere unerwartete Gäste werden der Bücherberg und die Schutzhütte beherbergen. Der Schauspielerei gänzlich unverdächtig, da, ebenfalls zum Vorlesen genötigt, ihre Passagen in eintönigem Norddeutsch herunterratschend, jedoch ebenfalls mit einer Last aus der Vergangenheit versehen, ist die für das Land Oberösterreich arbeitende, aus Hamburg stammende junge Lawinenexpertin Linda ("... wobei ihre Forschung so weit ging, Erkenntnisse über das Entstehen von Schneelawinen auf lawinenartige Ereignisse der Ökonomie, auf soziale Umwälzungen, regionale und globale Seuchen, den Krieg, aber etwa auch Entwicklungen der Mode oder der Sprache zu übertragen."; S. 110), die es anlässlich eines unvermuteten Naturereignisses berufsbedingt zu ihnen in die Höhe verschlägt.
Bei einem Alpendohlenmännchen wiederum, welches ähnlich wie zuvor Robert kraftlos und halberfroren im Schnee liegend aufgefunden, gerettet und langsam wieder aufgepäppelt wird,
könnte es sich um einen Romeo, der es beim Balzflug übertrieben hat, oder auch - bei seinem Gespür für Theatralik, seinem Hang zu Heldentum und Alliteration - um die gefiedert wiedergeborene Seele eines Wagner-Sängers handeln. So oder so eine temperamentvolle Erscheinung, indes seine menschlichen Gefährten durchwegs als Charaktere der kühleren Art gezeichnet werden.

Während man in "Der betrunkene Berg" nunmehr zu viert in die zweite Romanhälfte und auf ein dramatisches Finale zusteuert, geht die Hauptperson des Buches im Buch mit dem leicht verschrobenen Titel "Selbstporträt eines lächelnden Mannes auf der Spitze des Berges", der katholische Priester Simon Schindler, meist alleine seiner Wege, mit der entsprechend gewürdigten Ausnahme einer Gefährtin freilich, die ihn bei der Erstbesteigung des eineinviertel Jahrhunderte später von Katharina nahezu täglich besuchten Kogelgipfels begleiten, fotografieren und darüberhinaus bleibenden Eindruck in seiner Priesterseele hinterlassen wird. Mit dieser Geschichte in der Geschichte, in die wir während der Vorlesestunden in komprimierter Form eingeführt werden, gelangt seine Person zu einer recht ausführlichen Vorstellung: 1864 geborener Tiroler Bauernsohn, als Zweitältester vom Vater der katholischen Kirche zur Verfügung gestellt, seinen Vorgesetzten immer wieder einmal ungut auffallend, da mindestens ebenso an Wissenschaft und Kunst wie an Religion interessiert, entsprechend häufige Versetzungen, die ihn unter anderem in die besagte Salzkammergutregion und nach Wien führen, Sympathie für die unberührte Natur und die darwinistische Lehre, Interesse an Fotografie und Musik, mit Anton Bruckner bekannt, mit Hermann Bahr in Briefwechsel, bisweilen recht unorthodoxe Ansichten äußernd:

"Er fand überhaupt, dass Humor das beste Mittel sei, dem Unheil des Lebens zu begegnen, und es darum besser wäre, die Leute würden sich die Theaterstücke von Johann Nestroy ansehen als die Heilige Messe zu besuchen." (S. 71)

Anhand von Schindlers Lebenlauf werden die damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse der Region wie Österreichs insgesamt berührt, und es wird auch ein Eindruck davon vermittelt, welchen Nöten seinerzeit ein fortschrittlicher Geistlicher ausgesetzt war. Zwar verwendet Steinfest meist das zum horrendum gewordene lateinische Fremdwort "progressiv", doch ist damit natürlich mitnichten eine blindwütige Generalattacke auf das Bestehende, die heimische Kultur und gewachsene Traditionen gemeint, und gewiss kein großer Sprung in Richtung dessen, was immer die Sprachrohre der "progressiven" Führer als Ziel ihres "Vorwärts!" ausgeben, sondern ganz unschuldig der ursprüngliche Sinn von fortschrittlich (bzw. "stufenweise fortschreitend", "sich entwickelnd", wie es im Duden heißt).
E
in wenig spielt der Autor auch mit dem Begriff, indem er zum Beispiel Katharina ihr Cognacglas auf progressive Weise von den Lippen führen lässt, dies darüberhinaus mit einer wirklich in eine etwas bessere - gemessen zumindest an der Gegenwart -, weil etwas freiere Zukunft weisenden Symbolik. Und so fortschrittlich, auch an Brahms Gefallen zu finden, ist der glühende Brucknerianer Schindler dann doch wieder nicht, sondern darin ganz Kind des Entweder-Oder seiner Zeit (den berühmten Aufsatz von Arnold Schönberg "Brahms, der Fortschrittliche" aus dem Jahre 1933 bekommt Schindler nicht mehr zu lesen).

Wenn man den Autor bei einer Lesung kürzlich darüber berichten hörte, welcher Widerstandskraft es vor der Drucklegung des Romans bedurfte, um für eine beliebte Hülsenfrucht das Wort "Fisole" (gegenüber einer nördlicheren Bezeichnung, so grausig, dass sie hier unmöglich wiedergegeben werden kann) durchzusetzen, bekommt man vielleicht eine Ahnung davon, welche Kämpfe hinsichtlich des Wortgebrauchs und manch anderer Elemente derzeit auf dem Buchmarkt ausgetragen werden.
In "Der betrunkene Berg" könnte man an derartigen Auffälligkeiten allenfalls zweierlei ausmachen: das
Pflichtelement einer bisexuellen Liebesfantasie, die innerhalb der Gesamthandlung weder deplatziert noch zwingend wirkt, derzeit aber hoch im Kurs ist, sowie eine Verunglimpfung der ersten Nachkriegs-Farbfilme (deren Farbe zunächst treffend als "wie nach einem Chemieunfall" charakterisiert wird) mit den Worten "... wie schrecklich, hatte er erst später begriffen, als er um Wörter wie Kitsch, Klischee, Sexismus und Heimattümelei Bescheid wusste."; S. 85), was angesichts der begreiflichen Sehnsucht des damaligen Kinopublikums nach harmloser oberflächlicher Unterhaltung ein wenig allzu billig scheint.
Dass der Autor mit Antiheimattümelei ebensowenig zu tun hat, macht er unter anderem mit der Erwähnung Peter Roseggers und dessen Gedichts "Ein Freund ging nach Amerika" mehr als deutlich.

Wie immer erzählt Heinrich Steinfest vor allem aber seine Geschichte (bzw. Geschichten) und beschreibt seine Menschen (und seinen Vogel), mit Humor und ernsthaften - in "Der betrunkene Berg" kürzer gehaltenen - Reflexionen, ...
"... dass das wesentliche Element des Menschen die Krise sei. Die Kunst versuche, dieser Krise eine "schöne Gestalt" zu verleihen und sie mittels der Schönheit erträglich zu machen.
Und die Religion?
Die Religion, antwortete Simon, versuche der
Krise einen vernünftigen Ursprung zu verleihen. Zumindest das Gefühl. Vernunft sei bei alldem im Spiel. Vernunft im Sinne eines Plans." (S. 76)
... mit unerwarteten Wendungen, hübschen Bildern und Vergleichen, zielgenauen Bemerkungen und Sätzen
("Als würde ihr Mund näher an ihre Augen heranrücken und Mund und Augen sich gegenseitig ihren Zweifel bestätigen."; S. 15 - über eine für Katharina typische Spottgrimasse) und auch ein bisschen Zeitkritik ("Dass das dauernde Fotografieren von allem und jedem letztlich zu einer Art Auslöschung der Wirklichkeit führte." (S. 130); oder dass die Norddeutschen gut beraten wären, an ihrer Sprachmelodik und Wertschätzung der Kulinarik zu arbeiten). Kurzum, als der geborene Erzähler, der er ist.

(fritz; 08/2022)


Heinrich Steinfest: "Der betrunkene Berg"
Piper, 2022. 224 Seiten.
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