Heinrich Steinfest: "Amsterdamer Novelle"
Über mögliche
Einflussnahme von und auf Zeit und Schicksal: Wahrheit und Lügen, eine
Fotografie, Auftragskriminelle und märchenhafte Fügungen
"Jetzt wird man sagen, dass die vergangenen und erst recht die
heutigen Möglichkeiten, ein Foto zu bearbeiten und zu verändern, enorm
waren und sind. Aber ein solches Foto zeigt natürlich noch immer die
Wahrheit einer Täuschung
oder Lüge. Ein solches Foto offenbart den Betrug. Um das zu erkennen,
braucht es kein technisches Instrument, sondern allein die
Bereitschaft des Betrachters, die Qual des Fotos zu erkennen, das von
einem verbrecherischen Geist verunstaltet wurde.
Und so leuchtet die Wahrheit praktisch durch die Lüge hindurch. Das
gefälschte oder manipulierte oder mittels Text gefälschte oder
manipulierte Foto stellt genau genommen die Verdoppelung der Wahrheit
dar, indem es sowohl - wenn auch in Form einer Hintergrundstrahlung ;-
die tatsächlichen Verhältnisse dokumentiert als auch den von Mensch
und Maschine vorgenommenen Betrug, somit die Wahrheit einer Lüge.
Das Foto erzählt letztlich immer von dem, was wirklich geschah. Dies
gilt es zu erkennen." (S. 6,7)
Ein sechzigjähriger Mann radelt, nachdem er seine Hemdsärmel und
Hosenbeine abgeschnitten hat, von einem Tatort weg - damit erfüllt er
gewissermaßen eine viele Monate zuvor entstandene Fotografie.
Diesem durch und durch stimmigen Ende geht eine typisch
steinfestturbulente Geschichte voran: Der so oder so todgeweihte Anwalt
Willem van Dongen hat ein auf geniale Weise verborgenes
(verständlicherweise höchst begehrtes) Enthüllungsdossier über einen
einflussreichen Klienten, der offenkundig vor nichts zurückschreckt,
angelegt - und wird erschossen; seine Schwester Lia van Dongen und der
Held der Handlung finden ihr gemeinsames Glück.
Im Sommer des Jahres 2021 begibt sich der deutsche Visagist Roy Paulsen
nach Amsterdam. Auslöser ist ein geheimnisvolles, verstörendes Foto, das
ihn allem Anschein nach auf einem Fahrrad vor einem Amsterdamer Haus
zeigt. Wobei Paulsen nie zuvor in Amsterdam gewesen ist! Weitere Details
des womöglich magischen, jedenfalls bald verschwundenen wandelbaren
Fotos, das sein Sohn, der in der niederländischen Stadt an einem Zeitreisespiel
arbeitet, geknipst hatte, entfalten einen Sog eigener Art, und so stößt
der neugierige Paulsen nach einem heftigen Regenguss "zufällig" auf das
gesuchte Haus, dessen Eingangstür unverschlossen ist. Darin befindet
sich eine Anwaltskanzlei, in der sich gerade mörderische Szenen
abspielen, die durch Roys beherztes Eingreifen nicht so ausgehen, wie es
der Auftraggeber geplant hatte, und die Paulsens Leben ganz plötzlich
eine völlig neue Richtung geben ...
Aus der Fülle an Zutaten seien nur einige wenige angeführt, um an dieser
Stelle weder Spannung noch Überraschungen zu nichten: Eine "zeitliche"
Büchernische am Haus, aus der immer wieder wie durch Geisterhand ein
bestimmter Titel entfernt wird, ein schicksalhafter Zufallsgriff
Paulsens in der Bibliothek des ermordeten Anwalts, der kluge
Kriminalpolizist Dr. Tulp, Paulsens schwerkrimineller Doppelgänger, ...
Heinrich Steinfest spendiert seinen Lesern wie immer vergnügliche,
verlässlich treffsichere Kommentare zur geteilten Gegenwart sowie
verdiente Seitenhiebe auf all jene, die es betrifft; seine bezaubernden
Einfälle und Formulierungen sind einzigartig. Ein Beispiel: "Wenn
er etwa für eine Literatursendung dem Schriftsteller Martin Walser ein
klein wenig die dichten Augenbrauen zur Seite strich, damit man dessen
weise Augen besser sehen konnte (ohne wiederum den Eindruck von der
Weisheit der Augenbrauen zu schmälern oder gar den Autor zu
verärgern), so ging es nicht darum, dass in der Folge jemand auf die
Bühne trat, den die Zuseher eher für - sagen wir mal - Curd Jürgens
oder Rutger Hauer gehalten hätten, abgesehen davon, dass die schon tot
waren, sondern es sollte keinerlei Zweifel darüber bestehen, dass
trotz gestalterischer Eingriffe hier soeben Martin
Walser Platz genommen hatte." (S. 9,10)
Die kurzweilig-kompakte "Amsterdamer Novelle" bietet neben einer
rasanten Handlung und einem netten Protagonisten mancherlei
faszinierende Ansätze zu elastischen Wirklichkeiten und schicksalhaften
Ereignissen.
(kre; 06/2022)
Heinrich
Steinfest: "Amsterdamer Novelle"
Piper, 2021. 108 Seiten.
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