Josef Škvorecký: "Der siebenarmige Leuchter"


Paradigmatische Geschichten aus Böhmen während der deutschen Besatzung

Der 1924 in der nordböhmischen Kleinstadt Náchod geborene und 2012 in Toronto verstorbene
Josef Škvorecký war ein bekannter tschechischer Schriftsteller - bei uns hingegen, obwohl etliche seiner Bücher bereits ins Deutsche übersetzt sind, sicher noch zu wenig bekannt. 1969 nahm er ein Stipendium in Amerika an, ließ sich in der Folge in Kanada nieder, gründete dort einen Exilverlag für verfemte tschechische Autoren (er hatte bereits 1958, anlässlich seines ersten Romans "Die Feiglinge" persönliche Bekanntschaft mit den Zensurneigungen der tschechoslowakischen Behörden gemacht und bis 1963 Publikationsverbot gehabt) und übersetzte Schriftsteller aus dem englischsprachigen Amerika; selbst schrieb er weiterhin vorwiegend auf Tschechisch.
Das vorliegende Buch stammt noch aus seiner Zeit vor dem Exil und greift zum wiederholten Mal die Zeit Böhmens als deutsches Protektorat auf, mit einem starken Schwerpunkt auf dem Schicksal der tschechischen Juden, mit welchen Josef
Škvorecký von Kindheit an immer wieder in Berührung gekommen ist. Dies und vieles mehr wie etwa eine Vorliebe für Jazz teilt er mit dem Erzähler des Buches Daniel, einer Figur, die ihm ebenfalls als alter ego in seinen großen Romanen gedient hat.

Der altjüdische siebenarmige Leuchter steht stellvertretend für die längst Verstorbenen, längst Vergessenen, für jene, denen das Buch gewidmet ist, denen Daniel und seine Freundin Rebekka (Ohrensteinová) noch einmal Präsenz verleihen, indem sie einander Geschichten für seit der deutschen Besatzung nicht mehr lebende Mitglieder der jüdischen Gemeinde ihres Heimatstädtchens erzählen. Diese Geschichten sind vielfältig und zart ineinander verwoben, nicht nur weil es sich um eine Kleinstadt und eine entsprechend kleine jüdische Gemeinde darin handelt, wo jeder jeden kennt und mit jedem zweiten verwandt oder verschwägert ist, auch deshalb, weil Josef Škvorecký ein ausgezeichneter Schriftsteller war, der es verstanden hat, durch beiläufiges Erwähnen der Hauptfigur einer Geschichte in einer anderen zusätzlich zu seiner Schilderung von Einzelschicksalen ein Gesamtgefühl für Stadt und Gemeinde zu schaffen.

Rebekka sitzt auf einer Couch, Daniel liegt auf derselben, ihrer Beine sind ineinander verschränkt, der Kaffee duftet, der Regen trommelt sanft gegen das Fenster, in der Nähe tönen lieblich (vermutlich Prager) Straßenbahnen, Lichter des gegenüberliegenden Zinshauses und von Straßenlaternen erhellen matt die Dunkelheit des Zimmers. Eine Miniidylle (zwischen den beiden ist nicht alles eitel Wonne) während dieser Herbstsonntagstunden des Jahres 1952, eine echte Idylle aber in der Erinnerung, denn Rebekka hat zwar Theresienstadt überlebt - ihre Erinnerungsbeiträge, welche zwischen die Geschichten Daniels eingestreut werden, betreffen hauptsächlich Persönliches, ihren Gang zum Abtransport und die ersten Stunden ihrer Rückkehr nach Prag im Jahre 1945, als sie dem Roten Kreuz erfolgreich entwischt ist  -, mittlerweilen weilt sie jedoch auch nicht mehr unter den Lebenden, sodass die hier geschilderten gemeinsamen Stunden zuallererst eine Hommage an sie sind, unfreiwillige femme fatale, die seit dem Konzentrationslager den größten Genuss am Dasein in der Zeit vor dem Einschlafen findet.
"In Rebekkas trauernden Gazellenaugen hätte man all die Trauer, Beklommenheit und Angst vor Leben und Tod lesen können, hätte Rebekka nicht ausgesehen, als wäre sie geradewegs Salomos Hohelied entsprungen. So kümmerte man sich nicht allzu sehr um ihre Trauer, die übrigens fest verglast war im Schimmer ihrer Augen ..." (S. 140)

Die erzählerischen Einschübe Rebekkas handeln von dem mit einem Schlag radikal veränderten Verhalten ihrer tschechoslowakischen Mitbürger ihr gegenüber, ihrem Neid auf Mädchen mit betont slawischem Aussehen, der Auflösung ihrer Familie, dem unmenschlichen Lachen von SS-Leuten, davon, dass sie sich, seit sie den Stern hat tragen müssen, innerlich schmutzig vorkommt, vor allem aber von ihren Erlebnissen bei der Rückkehr, den Ausreden und Lügen, die tschechische Kriegsendeprofiteure gefunden haben, um sich das Eigentum ihrer Familie einzuverleiben:

"Und Ihr Onkel, Herr Doktor Ohrenstein?", fragte Madame, und in dem Augenblick war Rebekka noch nicht bewusst, dass es sich hier nicht bloß um eine Konversationsfloskel handelte. Sie sagte: "Den hat man nicht mal in Theresienstadt gelassen. Er wurde gleich weitertransportiert, nach Auschwitz. Er war schon zu alt."
"Wohin?", fragte Madame.
"Nach Auschwitz", sagte Rebekka. "Das ist ... das war so ein Vernichtungs-, ein Konzentrationslager ..."
"Und das, weil ... er war schon sehr alt?"
"Möglicherweise. Manche gingen gleich ins Gas."
"Grundgütiger!", seufzte Madame, und Rebekka hatte das Gefühl, ja die Gewissheit, es war vor Erleichterung. Und auf einmal wusste sie ganz sicher, dass diese Gnädigste den Schmuck bei sich hatte. Wie zur Bestätigung fragte Madame noch nach:
"Und Sie sind jetzt ganz alleine? Verwandte haben Sie keine mehr, oder?"
Rebekka sah ihr in die Augen. Madame wich ihrem Blick aus. Aber Rebekka war glücklich. Das erste Mal seit dem Augenblick, als man ihr einen Stern an die Stelle genäht hatte, wo ihr Herz war, hatte sie das Gefühl, mehr zu sein als jemand anderer. Sie könnte sie jetzt mit Unsicherheit quälen. Aber sie tat es nicht. Sie schenkte ihr einen ironischen Blick und sagte: "Nein. Ich bin ganz alleine."
(S. 155/156)

In seinen länger und kunstvoller gehaltenen, dennoch eine gewisse Unmittelbarkeit des Erlebens wiedergebenden Hauptgeschichten erzählt Daniel derweil von seinem Onkel Khon, dem jüdischen Ehemann seiner zwanzig Jahre jüngeren Tante, der tiefen Bindung der beiden, die es ihnen (und ihrem Hund) ermöglichte, rechtzeitig vor dem deutschen Einmarsch zu sterben, von dem aufopferungsvollen Doktor Strass, der den Knaben Daniel von einer schweren Lungenentzündung heilte (eine Rettung, die den Kleinen zu den nur teilweise gehaltenen Versprechen von hundert Dankgebeten täglich und einem Klostereintritt mit Dreißig veranlasste), dem Lehrer Katz, bei welchem er - natürlich alles vor der nationalsozialistischen Zeit - nicht nur Deutsch lernte, sondern auch so einiges über die mosaische Religion, von einem dicken jüdischen Bengel namens Quido, mit dem er sich während eines sommerlichen Ferienpensionatsaufenthalts ein Gigantenduell in der Kategorie bigottes religiöses Fasten lieferte, den drei so unterschiedlichen Löbl-Brüdern, von denen Mosche, der älteste und reichste, genannt der Schnepfenlöbl, möglicherweise einen noch schlimmeren Tod als seine im Konzentrationslager umgekommenen Brüder, der Jauchen- und der Fleischer-Löbl, erlitt, von einem für seine Ideale gestorbenen Pionier des Jazz in der Tschechoslowakei, von dem Textilhändler Hüsse, vormals Husa, dessen deutscher Ehefrau und deren nicht sehr arisch aussehendem Kuckuckskind und manchem mehr.

"So ist die Welt, wollte ich ihr sagen. Sie steht und fällt mit der Gleichgültigkeit. Rührselig wird man nur, wenn man Literatur liest. Dumme, gedruckte, sentimentale Erzählungen treiben uns die Tränen in die Augen. Aber die Wirklichkeit, das, was um uns herum passiert, hier und jetzt, das lässt uns kalt." (S. 62)

In "Der siebenarmige Leuchter" bewahrt Josef Škvorecký nicht nur etliche jüdische Schicksale und manche Täterschande vor dem Vergessenwerden, sondern bietet auch einen beeindruckend weiten Überblick, wozu Menschen unter extremen Umständen fähig sind. Trotz des schrecklichen Themas kann man sagen, dass der Autor seine wohl weitgehend authentischen Geschichten in eine ansprechende Form gebracht hat und auf geradezu kurzweilige Weise zum besten gibt; etwas Galgenhumor und Zynismus tragen das ihre zu einem intensiven und dabei gewiss um nichts weniger ergreifenden Leseerlebnis bei. So kurz das Buch mit seinen knapp 200 Seiten, so viele interessante Beispiele von Kollaborateuren, Profiteuren, Karrieristen und Fanatikern, größeren und kleineren menschlichen Schwächen, verschiedensten Arten des Rachenehmens, von Duldsamkeit und Auflehnung, Gier und Niedertracht, Schadenfreude und Skrupellosigkeit, aber auch, seltener zwar, von Auflehnung, Gewissenhaftigkeit, Hilfsbereitschaft und Mut finden sich darin. Letzteren haben Rebekka und Daniel, beide in dieser schlimmen Zeit erwachsen geworden, gleichermaßen aufs höchste schätzen, das Gegenteil verachten gelernt.

"...Und meinen Alten holten sie tags darauf, so kam der Idiot auch noch zum Handkuss, da nützte ihm auch seine arische Ehefrau nichts."
"Du redest ja schön von deinem Vater", sagte ich.
"Er war eine Memme", sagte Rebekka. "Und ich hasse Memmen mehr als - keine Ahnung - mehr als alles andere auf der Welt. Weil sie letztendlich an allem Schuld sind und weil ihnen letztendlich all das nichts nützt, nicht der Schiss, und auch nicht die arische Ehefrau."
(S. 26)

(fritz; 10/2022)


Josef Škvorecký: "Der siebenarmige Leuchter"
Originaltitel: SEDMIRAMENNÝ SVÍCEN
Aus dem Tschechischen von Hanna Vintr
Braumüller, 2022. 192 Seiten.

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