Norbert Scheuer: "Mutabor"

Selbstfindung eines jungen Mädchens bei schwieriger Ausgangslage und antiker Grundierung


"Mutabor", lateinisch für: "Ich werde mich verwandeln", wird, in welcher Sprache immer und beileibe nicht nur von Hexen und Zauberern gerne zur Bekräftigung einer Verwandlungsabsicht ausgerufen.
Verwandlung hat beziehungsweise hatte die Protagonistin des Romans bitter nötig, eine gewisse Nina, welche Norbert Scheuer, so steht es in dem Nachwort, als Kellnerin in einer Supermark-Cafeteria in seinem Heimatstädtchen Kall im Urftland kennengelernt und ihre bisherige Geschichte vernommen hat, die ihn dermaßen faszinierte, dass er sie, nach einigem Brüten über die angemessene Form (und möglicherweise mit der einen oder andren Änderung) zu dem vorliegenden Roman gestaltet hat.

Mit schlechten Voraussetzungen ist Nina in das Leben gestartet: kein Vater, die Mutter, an die sie wenige Erinnerungen hat, mit wechselnden Liebhabern und früh verschwunden, im weiteren bei deren Eltern aufgewachsen und damit bei einer Großmutter, der sie nichts recht machen konnte, Außenseiterexistenz und knapp daran, zum dauernden Sozialfall zu werden, Pech außerdem mit einer unmöglichen Sozialarbeiterin, die acht Jahre Grundschule ohne etwas zu lernen in der hintersten Bank sitzend verbracht, "... träumte, kritzelte und kleckste in meine Schulhefte und sah, wie die seltsamsten Dinge aus diesen Klecksen entstanden." (S.19)

Gerettet hat sie das Mutabor, der Wille, sich von den widrigen Umständen nicht völlig bestimmen bzw. nicht unterkriegen zu lassen, um eine Losung des Arbeitsmarktservice einmal auf einen wirklich passenden Fall anzuwenden. Hilfreich dabei die Arbeit, die sie früh annimmt (als Zeitungsausträgerin und am Abend bald als Kellnerin bei dem griechischen Wirt Evros), der Sozialhelfer Ignaz, der dafür sorgt, dass sie nach dem Tod der Großeltern nicht in ein Heim muss, sondern ihr Zimmer in dem alsbald gepfändeten Haus weiterhin bewohnen darf und für die Wintermonate sogar den Luxus einer Heizmöglichkeit erhält, eine von einem Afghanistan-Soldaten entführte Vierzehenschildkröte, für die sich Nina fortan verantwortlich fühlt, und nicht zuletzt Sophia, eine pensionierte Lehrerin, die ihr spät, aber keineswegs zu spät, Lesen und Schreiben beibringt und damit das Mittel für Reflexion, Selbstausdruck und Bewusstwerdung in die Hand gibt: "... denn Worte sind doch der einzige Zauber, mit dem ich mich verwandeln kann." (S. 184)

Das Besondere an dem Buch besteht in seiner starken antiken Grundierung. Schon der Großvater hat ihr immer wieder Geschichten über das alte Byzanz erzählt, seinen Sehnsuchtsort, den Nina und er bei ihren Ausflügen mit einem nahe der Fahruntauglichkeit befindlichen Gefährt jedoch nie ganz erreichen. Mit Evros, dem Wirt, taucht sie tiefer in die antike Welt ein, hört sich seine kleinen Lebensweisheiten an, lauscht seinen Erzählungen aus der Heimat und empfängt über seine vielen Bierdeckel mit mythischen Motiven wichtige Anregungen, die sie umgebende, verunsichernde und nicht selten verängstigende Welt provisorisch zu ordnen, woraus sich immer wieder originelle Verbindungen und Hervorhebungen zweifellos vorhandener Ähnlichkeiten ergeben.
"Perseus sitzt an diesem Abend an der Theke der Gaststätte, die Zahnprothese seiner Frau liegt vor ihm auf einem Bierdeckel. Wenn er betrunken ist und ausgehen will, reißt er seiner Frau, Andromeda, gewaltsam das Gebiss aus dem Mund und sperrt sie in den Kartoffelkeller; er fürchtet, dass sie ihn mit einem der vielen Götter betrügt. Von den Nymphen erhielt er einst Athenes Spiegelschild, die Flügelschuhe des Hermes, eine Zaubertasche und ein von Hephaistos geschmiedetes Sichelschwert; so gelang es ihm vor langer Zeit, sich des Hauptes der Medusa zu bemächtigen." (S. 73) - so lautet eine von 33 Beschreibungen dieser Bierdeckel, die neben anscheinend dazugehörigen, kaum zu erkennenden Zeichnungen in dem Roman abgedruckt sind.

Vielleicht sind einige der Namen ebenfalls der Verquickungstendenz Ninas anheimgefallen, neben Sophia und Evros stößt man zum Beispiel auch auf eine Theresa und eine nicht ganz treue Helena. Orlando, so der Name der Schildkröte, ist zwar nicht griechisch, harmoniert aber hervorragend mit Virginia Woolf, neben Sapfo die Lieblingsautorin Ninas, wohingegen der Satz "Ich habe Träume, in denen ich mal ein Junge und dann wieder ein Mädchen bin." (S. 47) nicht so recht zu Nina passen will und wohl einen Literaturpreiswahrscheinlichkeitserhöhungs- oder allgemeinen Anbiederungsversuch darstellt.

Bei der Dramaturgie des Romans greift Norbert Scheuer auf antike Muster zurück, verbindet den Normalisierungsprozess Ninas eng mit der Aufklärung bezüglich der vielen die verschwundene Mutter betreffenden Unklarheiten, Selbstbefreiung und Vergangenheitsdurchdringung gehen Hand in Hand. Doch just bei den Fragen nach ihrer Mutter wird sie von allen, die es sonst gut mir ihr meinen, im Stich gelassen. Diese Mauer des Schweigens und gleichzeitig den antiken Chor in modernen Zeiten versinnbildlichen ideal die sogenannten Grauköpfe, wie jene Bürger Kalls genannt werden, die regelmäßig Evros' Lokal aufsuchen, sich über dies und jenes unterhalten (vorzugsweise über das neueste Zubehör in ihren blankpolierten Autos, um deren Unversehrtheit sie in ständiger Sorge sind; aber auch über alle anderen Einwohner möchten sie auf dem Laufenden bleiben), über anderes wiederum hartnäckig schweigen, zum Beispiel unsittliche Lebensfasen nunmehriger ehrbarer Frauen und Mütter:
"Sie freuen sich auf zweierlei Weise: einerseits über des Schicksals Gnade und die Macht der Liebe, andererseits über ihr schreckliches Schweigen, mit dem sie die Mädchen tatsächlich zu schonen glauben." (S. 139)

Zur Verdeutlichung des ganz im unmittelbar Gegenwärtigen Gefangenseins spricht Nina zuallermeist im Präsens. Erst spätere Seiten wechseln hin und wieder ins Präteritum und in die dritte Person, wenn Vorgänge, bei denen Nina nicht anwesend war, die aber dennoch zu ihrer Geschichte gehören, geschildert werden. Die verwendete Sprache ist freilich nicht die Ninas, sondern die des Berufsschriftstellers Norbert Scheuer, sodass das Mädchen manchmal ziemlich unglaubwürdige Worte kundtut, nach ihrem ersten Opernbesuch bereits annähernd Druckreifes oder Sätze wie "Auf der Heimfahrt schweigen wir beschämt, wie Menschen, die zu viel voneinander wissen, sich dies aber nicht eingestehen wollen." (S. 127) äußert.
Nach mancher Kritik an Land und Leuten zeigt sich der Autor auch von seiner lokalpatriotischen Seite, indem er für die Aufklärung entscheidende Sätze im Ripuarischen (dem starken und uralten, zur Not jedoch verständlichen Dialekt der Gegend; die Medusa bleibt im übrigen die Medusa, und damit ist keine Qualle gemeint) sprechen lässt.
Am Ende spült die Hochwasserkatastrofe, welche 2021 nicht nur schöne Autos mit tollem elektronischen Tingeltangel vernichtet hat, unbezweifelbare Beweisstücke an die Oberfläche, und ganz am Ende sieht man die befreite Nina beim Übersetzen nach Rhodos, wo auch Orlando seine Freiheit wiederbekommen soll und, wenn von seinem Deutschland-Aufenthalt nicht völlig verunsichert, vielleicht mit einer griechischen Landschildkröte (oder einem Landschildkrot) eine neue Art begründen kann.

(fritz; 07/2022)


Norbert Scheuer: "Mutabor"
C.H. Beck, 2022. 192 Seiten.
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