Salman Rushdie: "Sprachen der Wahrheit"

Texte 2003-2020


Salman Rushdie ist nicht nur ein verlässlich fleißiger Schriftsteller, der die Frequenz seiner Romane mit zunehmendem Alter noch erhöht hat, er findet darüberhinaus immer wieder Zeit für Vorträge, Essays und Beiträge der verschiedensten Art. Solche Texte aus den Jahren 2003 bis 2020 versammelt der Band "Sprachen der Wahrheit"; eine Einteilung in vier Teile bietet eine gewisse Strukturierung, man kann sich jedoch ebensogut von den einzelnen Titeln leiten lassen.

Wie nicht anders zu erwarten, drehen sich die meisten Texte ums Schreiben und Lesen, wobei zunächst eher das Allgemeine im Vordergrund steht: die menschliche Leidenschaft des Erzählens und Zuhörens, die großen Mythen, Fabeln und Sagen. So wird der enormen Wirkkraft des Mahabharata, von Tausendundeiner Nacht und vergleichbarer Werke nachgegangen (selbst dem eines Heraklit, von welchem, obwohl ihn die klügsten Köpfe der Antike sehr schätzten, nur mehr wenige Fragmente auf uns gekommen sind), den heftigen Konflikten, die sich immer wieder an ihnen entzünden (Islamisten, Nationalisten etc.; über in alte und neue Texte eingreifende Moralapostel beliebt Rushdie zu schweigen), genauso jedoch der anregenden Kraft, die unter Umständen mehr noch von Erzählungen einer fremden Tradition oder Religion ausgeht und den Leser bzw. Hörer in ungekannte Schwingungen versetzen kann - Salman Rushdie verweist in dem Zusammenhang auf seinen Vater, der, obwohl kein Hindu, deren Mythen geschätzt und deren Feste bis zu einem gewissen Grad mitgefeiert hat. Rushdie junior tritt derweilen vehement für die Macht des Fiktiven und damit für eine Literatur ein, die auch das Irrationale in der Welt zu beschreiben imstande ist, und beruft sich dabei auf den antiken Gestaltwandler "Proteus".
Der längste Text des Buches,
"Die Anfänge eines anderen Schriftstellers", berichtet über den eigenen Werdegang, das frühe Inspiriertsein vom Elternhaus und der großen Erzähltradition des Orients, dem zunächst eingeschlagenen falschen Pfad in London und der Versuchung, der es dort zu widerstehen galt, nämlich als ganz und gar nicht schlechtbezahlter Werbetexter sein Brot zu verdienen, ehe er schließlich auf die richtige, die ihm gemäße Bahn gelangte.

"Ich behaupte schon den Großteil meines Schriftstellerlebens, dass der Zusammenbruch der alten Übereinkunft, was Realität ist, heute die bedeutendste Realität ist und die Welt sich vielleicht am besten durch widersprüchliche und oft unvereinbare Narrative erklären lässt." (S. 289)

Im zweiten Teil referiert Rushdie über literarische Strömungen sowie die Besonderheiten bekannter Zunftkollegen, ältere wie Shakespeare, Cervantes oder den von ihm hochgeschätzten Märchendichter der besonderen Art Hans Christian Andersen bis hin zu Zeitgenossen. Samuel Beckett, Kurt Vonnegut, Harold Pinter, David Remnick, Gabriel García Márquez (den er zwar nicht persönlich kennenlernen, aber mit ihm ein ausgiebiges Telefongespräch in einem wüsten Kauderwelsch aus Französisch, Englisch und Spanisch führen durfte), Philip Roth, von welchem er unter anderem die Lust am Tabubrechen gelernt habe (zumindest in Teilbereichen, allzu viele Lehrstunden wird Rushdie diesbezüglich nicht nötig gehabt haben), und andere bekommen eine ausführliche Besprechung.
Wenn ein Schriftsteller heutzutage mit der deutschsprachigen Literaturwelt nicht sonderlich vertraut ist, kann man mit einiger Sicherheit erwarten, dass zumindest Günter Grass (und selbstverständlich Kafka) erwähnt wird. Bei Rushdie fällt dieser Name zwar auch wiederholt, doch zeigt er sich dabei über die Kenntnis dessen Werks hinaus mit dem Verstorbenen befreundet und erzählt eine kleine Anekdote, worin ein hoheitsvoller Saul Bellow den Augenblicksbösewicht gibt.
Im übrigen ist zu sagen, dass Rushdie die allermeisten Texte für angloamerikanische Blätter verfasst hat, woraus sich ein ausgeprägter englischsprachiger Schwerpunkt ergibt, an den fallenden Namen, Zitaten, Anspielungen usw. deutlich zu bemerken, besonders stark bei häufigen Bezugnahmen auf Filme - mit "Adaption" hat gleich ein ganzer Aufsatz die Frage nach gemäßer Romanverfilmung zum Thema. "Autobiographie und Roman" beschäftigt sich mit dem Übel der weitverbreiteten Gleichsetzungen von alter ego und Autor, "Nun gut, so widersprech ich mir selbst" mit den allem innewohnenden Paradoxien, womit indes gerade der Roman wie keine andere Kunstform umzugehen weiß.

Der dritte Teil ist den gesellschaftlich-politischen Stellungnahmen Rushdies vorbehalten, umfasst unter anderem fünf Texte für den PEN-Club sowie zwei Reden vor Uni-Absolventen. "Wahrheit" handelt von Relativität und Objektivität, von der Abnutzung der Worte und Begriffe und deren Wiedererweckung durch die Literatur. Mit "Der Freiheitsinstinkt" und "Mut" führen weitere Essays große Begriffe schon im Titel, indes der Autor recht flott und ungeniert zwischen innerer Leidenschaft für die Sache und höchst einseitiger - da mit bemerkenswerter Ausschließlichkeit gegen aus seiner Sicht missliebige Erscheinungen und Personen polemisierend -, bisweilen geradezu unverfrorener Stimmungsmache pendelt, und der hehre Zweck zum unziemlich profanen Mittel greift. So heißt es beispielsweise zu moralischem Mut, dessen die Welt dringend (wer möchte es bezweifeln?) bedürfe: "Wenn politische Anführer mutige Schritte tun - wie sie Frankreichs damaliger Präsident Nicolas Sarkozy in Lybien unternahm, als er militärisch einschritt, um den Anti-Gaddafi-Aufstand zu unterstützen -, gibt es ebenso viele Zweifler wie Befürworter." (S. 293)
Ebenfalls in diesem dritten Teil findet sich ein Text über Werk und Person des chinesischen Künstlers und Dissidenten Ai Weiwei. Dass es die Gruppe Pussy Riot nur zu mehrmaliger kurzer Erwähnung bringt, liegt möglicherweise an der künstlerischen Leichtgewichtigkeit der Russinnen.
"Der Halbfraugott" ist, ausgehend vom antiken Hermafroditen, den heutigen indischen Hidschras, Grenzgängern des Geschlechts, gewidmet.
In "Der Freiheitsinstinkt" spricht Rushdie unter anderem über die us-amerikanische Eigentümlichkeit, dass sich Freiheit und Religion nicht wie in der Alten Welt zueinander in Widerspruch oder mindestens einem starken Spannungsverhältnis befinden, da für die ersten europäischen Einwanderer Freiheit zuallererst religiöse Freiheit bedeutete. Gleichzeitig vertritt er die These, dass erst, wenn man den Göttern entwachsen sei, der Beginn echter Individualität (und, warum immer, leider führt er das nicht näher aus, sozialer Freiheit) möglich werde. Sein leidenschaftlich vorgetragener Atheismus, ganz entgegen seiner sonstigen lockeren Behandlung metafysischer Dinge, hat ihm in Amerika und Asien sicher mehr Gegner als Freunde beschert; die Vermutung liegt nahe, dass diese Radikalität, abgesehen von ihrer (nicht neuen) existenzialistischen Pointe, mit Negativprägungen durch religiöse oder vielmehr dogmatische Fanatiker während seiner Adoleszenz zu tun hat.
Ebenfalls in selbstbewusstem Widerspruch zu einer mächtigen Bewegung in den USA  befindet sich Salman Rushdie, wenn er vehement gegen Grenzen der freien Meinungsäußerung eintritt und Argumente von der Art, dass man Gefühle anderer Menschen (wobei auch diese Strömung scheinheiligerweise so gut wie immer nur bestimmte andere Menschen meint) nicht verletzen dürfe, nicht gelten lässt. Dies klingt freilich idealisch-wuchtig, doch offenbaren sich bei entsprechendem Lichteinfall unvermeidlich Schattenseiten, wenn man sich zum Beispiel nur an Rushdies aggressive Reaktion auf die Literaturnobelpreisvergabe an jemanden, der in jüngerer Zeit erfolgte historische Abläufe grundanders bewertet, erinnert.
Viele Unterschiede ergeben sich im übrigen fast notwendigerweise aus der jeweiligen kontinentalen Perspektive; wenn der Autor etwa sagt: "Ich glaube, in dieser Zeit, in der die Idee eines besseren Amerika, divers, offen, tolerant und kultiviert, überall unter Beschuss steht, fällt uns die Aufgabe zu, uns allen, den Schriftstellern, Verlegern, Buchhändlern, Lesern, Bürgern, Wächter der Kultur zu sein." (S. 321), so mag es ja sein, dass der Satz durch die Wahl eines gefürchteten Präsidenten (einige Male fällt das Schmähwort "Trumpistan") ausgelöst wurde, und manche dieser Ängste mögen durchaus aufrichtig empfunden gewesen sein. Vielen Europäern, besonders deutschsprachigen, wird es dabei jedoch ob der Missbrauchsanfälligkeit dieser Aussage und eingedenk der Angewohnheit, us-amerikanische Probleme und Vorlieben willfährig zu übernehmen, kalt über den Rücken laufen, geht bei uns doch die Tendenz seit einiger Zeit dahin, mehr und mehr Bereiche des Lebens einer sich allgemeingültige Moral anmaßenden Wächtertätigkeit unterworfen zu sehen. Bei einer solchen, ob diese nun offiziell in Diensten us-amerikanischer Kultur, schiitischer Sittlichkeit oder einer vermeintlich universalistischen Moral ausgeübt wird, drängt sich zum einen die Frage auf, die auch Salman Rushdie stellt, zwar nur in Zusammenhang mit schon erwähnter Überempfindlichkeit, dafür aber gleich im einprägsamen Latein des Juvenal:
"Quis custodiet ipsos custodes? - Wer wird über die Wächter ihrerseits wachen?" Zum anderen bedarf es keines Profeten, um voraussagen zu können, dass das solcherart Überwachte und Geförderte mitnichten über kurz oder lang in einem einzigen Kulturellen, Sittlichen und Universalen (bzw. Schönen, Guten und Wahren) zusammenfallen, sondern sich in eine völlig andere Richtung hin entwickeln würde. Im übrigen sollte jedes Land (jede Gesellschaft, jeder Kontinent) seine eigenen Diskurse führen, wie auch ein jeder seine moralischen Kämpfe tunlichst nicht in fremden Seelen austragen sollte.

Im letzten Teil von "Sprachen der Wahrheit" geht es um Diverses, vor allem um Künstler anderer Sparten wie Kara Walker, Amrita Sher-Gil, Bhupen Khakhar, Franceso Clemente und Sebastião Selgado. In die Richtung respektvoller Klatsch schlägt Rushdies Text über die mit ihm befreundet gewesene Schauspielerin Carrie Fisher aus, der ihren eigentümlichen Charakter und ihre Krankheit der letzten Jahre anhand einiger Erlebnisse dezent und humorvoll zur Sprache bringt.
Als großer Kenner des indisch-persischen Kulturkreises erweist sich Salman Rushdie in "Der vielhändige Künstler. Der Mogulkaiser Akhbar und die Entstehung des Hamzanama", worin er den Leser mit dem Hamzanama, einem faszinierenden künstlerischen Großprojekt bekannt macht, einer von Kaiser Akhbar Mitte des 16. Jahrhunderts initiierten breit angelegten Sammlung abenteuerlicher Texte nebst dazugehörigen Bildern
und einem mythischen Onkel des Profeten Mohammed als Protagonisten, die eineinhalb Jahrzehnte lang zahlreiche versierte Künstler beschäftigt und in ihrer Eigendynamik die asiatische Kunstgeschichte maßgeblich beeinflusst hat.
Den Abschluss bildet ein Fragebogen an den Autor, dessen letzte, ein wenig ungebührliche Frage, wie er denn gerne sterben würde, eines atheistischen Literaten würdig mit dem Bartleby-Zitat beantwortet wird.

(fritz; 08/2022)


Salman Rushdie: "Sprachen der Wahrheit"
(Originaltitel "Languages of Truth")
Übersetzt von Sabine Herting und Bernhard Robben.
Bertelsmann, 2021. 480 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen
Digitalbuch bei amazon.de bestellen