Peter Handke: "Zwiegespräch"

Im Erspüren einer wahrhaftigeren Zeit


Dreierlei scheint Pate gestanden zu sein bei dem neuen, wenige Dutzend Seiten umfassenden Büchlein Peter Handkes.
Zuallererst: ein Theaterkulissenhaus, welches den kindlichen Zuschauer bei einer Schulaufführung (vermutlich Stadttheater Klagenfurt) in den Bann schlug, indem es in ihm die Ahnung von etwas gänzlich Neuem, Unerhörtem weckte und ihn bis zum Ende des Stücks in gebannter Erwartung, wer sich da wohl in dem Fenster zeigen könnte oder aus diesem Kindertheaterhaus treten und vielleicht, vor allem, dann kundtun würde, verharren ließ. Zwar ist damals nichts derartiges passiert, es blieb bei der reinen Kulissenfunktion, doch stieß der Erzähler später immer wieder einmal auf ein Haus wie jenes, zwar nie mehr auf Theaterbühnen und ebensowenig auf Filmleinwänden, vielmehr auf wirkliche und bewohnt scheinende, zuallermeist etwas abseits gelegene Häuser bzw. Behausungen.
Manch kleine Erzählung davon, wie und wo er an ein solches geraten ist und was er dabei erlebt hat, findet sich in "Zwiegespräch".

Außerdem hat die Tatsache, spät, aber doch Großvater geworden zu sein, recht deutliche Spuren hinterlassen. Keine Geschichte jedoch vom konkreten Enkel, nichts dergleichen "Rührendes". Vom Großvatersein im allgemeinen ist zu lesen, aber auch vom auf seine Enkel Gedichte verfassenden Victor Hugo ("L'art d'être grand-père"), vom ganz und gar natürlichen Ahnenkult mit den dazugehörigen Idealisierungen wie von der Verfehlung, mit der Kriegsgroßvätergeneration nicht kritischer verfahren zu sein.
"Heilende Verklärung: recht so, nichts Lichteres. Keine hellere Kunst. Solch Verklärung dagegen: heillos - heillos - heillos."
(S. 28/29)
Offensichtlich ist Peter Handke der Meinung, dieses Thema sei von der Literatur, insbesondere vom wirkmächtigen Theater, nicht befriedigend behandelt worden: "Das Idealisieren der Ahnen ist Teil der Materie - ist Sache. Mich zu dieser Sache zu befragen, im Bezug auch zu anderen "Enkeln", im eigenen Land wie in anderen Ländern, in meiner Generation oder in einer späteren, läßt mich, im Relativieren und eben In-Beziehung-Setzen, da und dort, dann und wann, etwas wie ein paar Grundzüge eines im übrigen, es sei denn, Friedrich Schiller kehrte zurück, wohl unverfaßbaren Dramas erahnen." (S. 15)
Außerdem werden einige Geschichten von einem und über einen anscheinend wirklichen, wenn auch längst verstorbenen Großvater, Teilnehmer des Ersten Weltkriegs, Spielernatur, vom Familienspiel, wo er sich bisweilen brav, aber erkennbar marionettenhaft mitdrehte, abgesehen, erzählt.

"Ja, die Engel, Brüder, und das einfache Land." (S. 61)
Ein dritter Anstoß zu dem Text erfolgte wohl über die Erinnerung an die beiden Schauspieler Otto Sander und Bruno Ganz, denen "Zwiegespräch" gewidmet ist. Große ihrer Zunft waren sie und Engel in dem Film "Der Himmel über Berlin". Engel braucht es freilich auch heute, vielleicht sogar ganz besonders heute, zum Beispiel wenn einen Lebensekel oder schwerer Verdruss über den Zustand der Welt, der Menschenwelt, anwandeln und man in eine misanthropische Stimmung gerät, um daraus befreit zu werden,
wie mit einem zarten, unmerklichen Stupser, wenn es denn gelingt, feinstofflich, um es mit einem Begriff asiatischer Spiritualität zu sagen.
Die Berührung, ob durch Engel oder Enkel oder anderswie, ist nicht nur eine Befreiung von negativ getöntem Blick, sie ist in "Zwiegespräch" vielmehr eine fundamentale, missglückte Inszenierungen auf der Weltenbühne hinter sich lassende, Nur-Irdisch-Vergängliches überschreitende - Transzendenz, noch mehr zwischen den Zeilen als darin, ist durch das ganze Büchlein hindurch spürbar, frohgemutes Eingebundensein in
"eine seit jeher sich erneuernde ewige Schöpfung" (S. 16).

Was sonst? Von mancherlei Giebeln ist die Rede, dem Opfertod einer Sündenschlange, zum langsamen Sterben aufgespießt auf einem verkehrt ins Gras gerammten Rechen, vom schreibenden Sterben des Opferers, dem besonderen Brummen eingemauerter Hornissen, dem schandbaren Umgang mit der Muttersprache im Dritten Reich und in der Gegenwart, den ihres Momentums verlustig gegangenen Kunstformen Theater und Film, solchen und solchen Straßenszenen und nicht zuletzt vom sogenannten (meist generationenübergreifenden) Äugeln, all das in der innerlichkeitsversierten, der Wahrhaftigkeit verpflichteten Sprache des Autors; ob die beiden das Zwiegespräch Führenden, einander fragend, erzählend und Stichwörter zuspielend, als Hervorbringungen eines Selbstgesprächs aufzufassen sind, oder hinter dem einen oder anderen Text der Geist eines der genannten Schauspieler steht, tut nicht viel zur Sache. 
"Ein wenig Geduld fürs Erzählen, bittschön. Und dann Geduld durch das Erzählen!" (S. 10)

(fritz; 04/2022)


Peter Handke: "Zwiegespräch"
Suhrkamp, 2022. 72 Seiten.
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