Reinhard G. Kratz: "Die Propheten der Bibel"

Geschichte und Wirkung


Theologisches und Literarisches am Schnittpunkt von Judentum, Christentum und Islam

Der Ursprung der biblischen Prophetie liegt in der altorientalischen Mantik, der Wahrsagung, die auf zahlreichen Keilschrifttafeln überliefert ist. Wo die Zukunftsdeutung die erwartete Endzeit der Welt betrifft, wird sie zur Apokalyptik.

Die Propheten und auch Prophetinnen des Alten Orients standen in geheimnisvollem Kontakt zur Götterwelt, deren Botschaften sie übermittelten. Im Übergang zu dem einen Gott der monotheistischen Religionen, zuerst zum Judentum, hat sich am Mystischen und an der Rätselhaftigkeit der Prophetie nichts verändert. Die Aussagen eines Prophetenbuchs - z.B. die alttestamentarischen Bücher Jesaja, Jeremia, Ezechiel (Hesekiel) und Daniel - können historisch nicht beim Wort genommen werden.

Die Aufgabe der Prophetenforschung besteht darin, die manchmal verdeckten Wege von ursprünglich mündlichen, selten schriftlich weitergegebenen Sprüchen zu einem Prophetenbuch zu rekonstruieren. Schließlich bildet kaum ein Prophetenbuch eine literarische, konzeptuelle oder dramatische Einheit. Dies gilt für frühe Werke der altorientalischen Mantik auf Tontafeln aus Ninive ebenso wie für die Zitate alttestamentarischer Propheten im Neuen Testament und die in den paulinischen Briefen und in der Apostelgeschichte erwähnten Propheten. Ob mit expliziter Berufung auf eine biblische Überlieferung oder ohne gehörten sie im Osten wie im Westen der antiken Welt zum damals üblichen Geistesleben. Sie waren Teil des religiösen Brauchtums in Zeiten, als sich das Christentum konsolidierte, sich das Judentum nach der Zerstörung des Tempels (70 n. Chr.) ins ganze Römische Reich und teils darüber hinaus zerstreute und schließlich am Beginn des siebten nachchristlichen Jahrhunderts der Islam entstand.

Der Autor Reinhard G. Kratz ist Theologe und Gräzist und lehrt seit 1995 als ordentlicher Professor für Altes Testament an der (evangelischen) Theologischen Fakultät der Universität Göttingen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Literatur- und Redaktionsgeschichte des Alten Testaments sowie das Judentum in persischer und hellenistischer Zeit, also vom sechsten vorchristlichen Jahrhundert bis zur Etablierung der römischen Provinz Palästina im ersten Jahrhundert nach der Zeitenwende, zur Lebenszeit von Jesus Christus und seiner ersten Jünger. Daraus ergibt sich eine feste historische und biblische Brücke zwischen Judentum und frühem Christentum.

Nahezu zeitgleich mit dem hier rezensierten Buch, im Februar 2022, erschien von Reinhard G. Kratz "Qumran. Die Schriftrollen vom Toten Meer und die Entstehung des biblischen Judentums". Mit beiden Werken gelang dem 1957 geborenen Deutschen der Sprung vom akademischen Publizieren zu qualitativ hochwertigen populärwissenschaftlichen Sachbüchern: die Vermittlung von akademisch orientierten Forschungsfragen und wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen in gut lesbarer Sprache und mit zweckmäßigen erläuternden Darstellungsmitteln wie Karten, Abbildungen und Zeittafeln, die allesamt geeignet sind, das Interesse der Leserschaft nachhaltig anzusprechen.

Wer mit profundem biblischen Wissen ausgestattet ist und / oder Freude daran hat, Stellen in den biblischen Büchern nachzuschlagen, findet in dieser Einführung in die biblischen Prophetenbücher eine reiche Quelle zum kulturellen und literarischen Verständnis von Texten der drei großen monotheistischen Religionen.

(Wolfgang Moser; 04/2022)


Reinhard G. Kratz: "Die Propheten der Bibel. Geschichte und Wirkung"
C.H. Beck, 2022. 236 Seiten, mit zehn Abbildungen und zwei Karten.
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Ein weiteres Buch des Autors:

"Qumran. Die Schriftenrollen vom Toten Meer und die Entstehung des biblischen Judentums"

Die Schriftfragmente und Ruinen, die 1947-1956 am Toten Meer entdeckt wurden, geben bis heute Rätsel auf. War die Gemeinschaft, die hier lebte, eine Art Kloster, eine absonderliche Sekte oder eine Schreibwerkstatt? Kam Johannes der Täufer oder Jesus hierher? Der renommierte Bibelwissenschaftler Reinhard Kratz verabschiedet in seinem bahnbrechenden Buch viele der gängigen Hypothesen und zeigt, dass wir in Qumran Zeugnisse des entstehenden "biblischen Judentums" vor uns haben, das sich von anderen Jahwe-Verehrern abgrenzte und bis heute in Judentum und Christentum lebendig ist.
Die Fragmente von rund tausend hebräischen, aramäischen und griechischen Handschriften, die in Höhlen nahe der Siedlung Hirbet Qumran zutage gefördert wurden, sind eine der spektakulärsten Entdeckungen des 20. Jahrhunderts. Die Texte geben Einblick in die Lebens- und Vorstellungswelt einer bis dahin völlig unbekannten Gruppe des Judentums der hellenistisch-römischen Zeit. Reinhard Kratz erklärt die Geschichte der Funde und ihrer Erforschung, rekonstruiert die Organisation der Gemeinschaft und erläutert, wie und warum hier so viele Texte entstanden. In einem souveränen Durchgang durch die wichtigsten Schriften macht er deutlich, dass die Gemeinschaft Teil einer Bewegung war, die sich auf die biblischen Schriften, besonders Tora und Propheten, berief und vom traditionellen jüdischen Opferkult distanzierte. Klar und anschaulich entsteht so ein neues, plastisches Bild von der Vielfalt des antiken Judentums und der frommen Bewegung, aus der auch das Christentum hervorging. (C.H.Beck)
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