Natalie Bakopoulos: "Zikadensommer"


Zarte Liebesgeschichte nebst Berührung einiger Aspekte des heutigen Griechenlands

Natalie Bakopoulos ist eine von vielen US-Amerikanerinnen mit griechischen Wurzeln, die - wie die allermeisten Kinder ausgewanderter Griechen - den Kontakt zum Vaterland nicht verloren hat; und auch den vorliegenden Roman kann man als ziemlich griechisch bezeichnen: er spielt in Athen sowie auf einer nicht näher genannten Ägäisinsel und ist für Auslandsgriechen wie für Freunde des Landes großteils mit Gewinn zu lesen, zum Beispiel im Zuge eines solch zikadensommerlichen oder auch herbstlichen Urlaubs - erlauben doch die südlichsten Inseln, besonders die große, üblicherweise ein Baden bis weit in den November hinein.
Der Titelsommer ist übrigens einer aus der Zeit nach der sogenannten Finanzkrise, welche die Griechen bekanntlich besonders hart getroffen hat, in dem Buch jedoch überraschenderweise kaum eine Rolle spielt:

"Vor mir ging ein amerikanisches Paar. Die Frau staunte über das Nachtleben, der Mann fragte sich, ob die Gegend sicher sei. "Was für eine Krise?", fragte er mehrmals mit gespielter Ratlosigkeit. Was für eine Krise?" (S. 136/137)

Freilich wissen die allermeisten Hellenen auch in Krisenzeiten zu feiern, darüberhinaus aber gehören die meisten Personen des Romans zur besser situierten Gesellschaft, allen voran die beiden Protagonisten, die neununddreißigjährige Mirto, genannt Mira, und der etwa zehn Jahre ältere "Kapitän", aus deren Sicht abwechselnd in erster Person erzählt wird. Klugerweise mit dem etwa doppelten Anteil für Mira, da deren Emotionen, Sichtweisen und Reflexionen überzeugender wirken, die des Kapitäns geraten manchmal vielleicht ein wenig schablonenhaft.

Der nie mit Namen genannte Kapitän, vom Dienst wegen eines Vorfalls mit sogenannten Flüchtlingen suspendiert und möglicherweise kurz vor der Scheidung, und Mira, Assistentin an einer us-amerikanischen Universität, den Sommer wie üblich in Griechenland verbringend, diesmal allerdings nicht beim Freund, einem gerade so richtig durchstartenden Jung-Politiker, sondern in einer Stadtwohnung der kürzlich verstorbenen Eltern, finden einander unversehens als Nachbarn vor - gemeinsamer, durch Sichtschutz getrennter Balkon. Begünstigt dadurch, dass sich beide in einer heiklen Lebensfase befinden, sowie durch die einer behutsamen Annäherung förderliche Trennwand lernen sie einander langsam besser kennen.

Der Balkon wird zu einem Ort der Selbstbesinnung und des Rückzugs, während sich rund um sie genügend andere Dinge, die ihre Aufmerksamkeit beanspruchen, zutragen. Die Nebenpersonen in ihrem Umfeld, welche die Autorin präsentiert, zum Teil gemeinsame Bekannte, ergeben in ihrer Gesamtheit zwar kein Abbild der griechischen Gesellschaft, berühren dennoch manches, was das Land beschäftigt beziehungsweise ausmacht.

Aris, der Politiker und langjährige Freund Miras, derjenige, von dem die Trennung ausgegangen ist, hat sich in der Zwischenzeit mit der bekannten Schauspielerin Eva verlobt, will sich desungeachtet in seine eigene Entscheidung nicht fügen (während auch Mira mit ihren Gefühlen zu kämpfen hat), treibt sich mit der Verlobten und wechselnder parea, zu der hin und wieder auch der Kapitän zählt, in solchen Stadtteilen herum (in denen "... Aris, der politische Aufsteiger, sich unter seinen Leuten zeigen wollte: dem Volk, den Rebellen, den Intellektuellen, den Anarchisten."; S. 83), wo er früher oder später fast unvermeidlich auf Mira und deren Freunde treffen muss.

Fady (vermutlich ein Fadil), jedenfalls ein schon länger in Athen lebender Syrer, von Beruf Geigenbauer und in Arabisch und Persisch als Übersetzer für Flüchtlingshilfe engagiert, ist mit Dimitra, freischaffende Journalistin, liiert. Gemeinsam ziehen sie Leila, ein sich dreisprachig und auch sonst prächtig entwickelndes Mädchen auf und haben sich seit neuestem eines gewissen Rami, eines im Zuge des dortigen Krieges geflohenen jungen Syrers (eines begabten Burschen, der schon weiß, dass er Schriftsteller werden will) angenommen. Häufige Treffen Miras mit Fady und Dimitra, ein besetztes Haus mit Syrern, Irakern und Afghanen, ein Zusammenstoß mit griechischen Nationalisten mit Hang zur Gewalt und Miras Sprachunterricht für Rami, der sich ähnlich schwer zu tun scheint, Griechenland zu verlassen (und zu bereits in Deutschland gelandeten erwachsenen Verwandten zu ziehen) wie Mira, die es nicht gerade zu ihrer Assistentenstelle zurückzieht (nicht nur, weil sie in akademischen E-Mails allzu jovial mit "Hey, Mira" angeredet wird, ihre männlichen Kollegen dagegen Professor genannt werden), bestimmen diesen Teil des Geschehens.

Eine gemeinsame  Bekannte des Paares und Miras ist Nefeli, Malerin und Konzeptkünstlerin, die mit Charoula, der Tante Miras, eine langjährige Beziehung hatte und nicht nur in sexueller Hinsicht von der Regel abweicht: "Nefeli aß kein Fleisch und weigerte sich, mit Menschen am Tisch zu sitzen, die es taten." (S. 51) Nefeli ist einerseits Freundin und Trinkkumpanin, andererseits die geniale, unverstandene Künstlerin mit menschlichen Schwächen, ihre Vernissage mit zwölf Megafonen und Kameras, die Straßenszenen ins Museum übertragen, ihre von der griechischen Künstlerin Jenny Marketou inspirierten Kunstinstallationen, die Berichte darüber in den Medien und die Reaktionen von Gegnern ergeben eine zentrale Stelle des Romans.
Sein großes Finale, etwa das letzte Viertel umfassend, findet dann auf der Insel statt, wohin die meisten Figuren nach einem zu kühlen Mai und einem umso heißeren Juni vor dem Athener Sommer flüchten.

Wenig überraschend folgt die Behandlung der Migrationsproblematik ganz den üblichen über die Medien transportierten Klischees und Schlagwörtern: man kann somit großzügig darüber hinweglesen oder, weiß der Teufel, sich zum x-ten Mal bestätigt fühlend auf die Schulter klopfen, man kann sich aber auch in der finalen Danksagung genau anschauen, von welchen Vereinen und Institutionen die Autorin Unterstützung erfahren hat.
Dass der geldgierige, ebenfalls zum US-Bürger gewordene Bruder des Kapitäns leidenschaftlicher Wähler der Republikaner
ist, passt wunderbar dazu.

Partnerbeziehungen, Rollenbilder, Familienprobleme, Zugehörigkeiten und die Veränderungen, die die Zeit so mit sich bringt, sind weitere der mit leichter Hand aufgegriffenen Nebenthemen in dieser zarten Liebesgeschichte.
Am meisten in die Tiefe gehend und wohl auf eigenen Erfahrungen und Beobachtungen basierend wird dabei das Thema Auswanderung ausgeführt. Jene Griechen, die in letzter Zeit, nicht zuletzt im Zuge der Finanzkrise,
nach Westeuropa und Nordamerika ausgewandert sind, hätten laut Natalie Bakopoulos diesen Schritt im Gegensatz zu früheren Generationen ungern, gleichsam vorübergehend gesetzt und schienen darüber alles andere als glücklich. Was vereinzelt natürlich schon in früheren Zeiten vorgekommen ist, wie das Beispiel ihrer Mutter, der sie eine eingehendere Schilderung zuteil werden lässt, zeigt. "Meine Mutter existierte an zwei Orten, lebte aber an keinem, während mein Vater an zwei Orten existierte und überall lebte." (S. 59)

(fritz; 07/2022)


Natalie Bakopoulos: "Zikadensommer"
Aus dem amerikanischen Englisch von Katharina Förs
Insel TB, 2021. 286 Seiten.

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