Thomas de Padova: "Alles wird Zahl"
Wie sich die Mathematik in der Renaissance neu erfand
Renaissance ist mehr als
Kunstgeschichte!
Wer heutzutage an einer deutschen Universität Mathematik studiert, ist
mit einer vollkommen ahistorisch präsentierten Disziplin konfrontiert -
so der deutsche Naturwissenschaftler, Sachbuchautor und
Wissenschaftsjournalist, der schon 2016 die Auszeichnung "Wissensbuch
des Jahres" für "Allein gegen die Schwerkraft" (Piper, 2017) über Albert
Einstein erhielt.
In "Alles wird Zahl", einem Buch, das nicht minder die Chance hätte, zum
naturwissenschaftlichen Verkaufsschlager zu werden, wird die historische
Dimension deutlich: Wo stand die Mathematik vorher, bis zur Mitte des
15. Jahrhunderts, und was war erst nach 1600 möglich? Und warum?
Materielle Erfindungen, geistige Impulse aus dem Orient und neue
Möglichkeiten der Wissensverbreitung ergänzten sich kongenial.
Die inhaltliche Eingrenzung auf den (süd-)deutschen Raum und Italien,
besonders auf Nürnberg, Venedig und Rom veranschaulicht den regen
Austausch über die Alpen durch Reisetätigkeit und die gemeinsame Sprache
der Wissenschaft, Latein.
Nur wenige Jahrzehnte zuvor verbreitete sich in Europa von Süd nach Nord
die Herstellung von Papier;
das neue Schreibmaterial ersetzte bald das zuvor um ein Vielfaches
teurere Pergament. In Notizen und Briefen war endlich leistbarer Platz,
um ausführlich zu argumentieren, zu rechnen und Experimente zu
beschreiben. Wenig später erleichterte der Buchdruck - ab 1450 in Mainz
- die Reproduktion des Geschriebenen. Die Zentren des Buchdrucks Rom und
Venedig waren Wirkungsstätte für geflohene griechische Gelehrte aus
Byzanz, zum Beispiel für Kardinal Bessarion (um 1400-1472) und seinen
deutschen Übersetzer Regiomontanus (1436-1476), dessen präzise
astronomische Zeitbestimmungstabellen für die Seefahrer seiner Zeit
unverzichtbare Hilfsmittel wurden - vor allem wegen der Zuverlässigkeit
seiner Berechnungen und der Druckqualität.
In dieser Zeit verbreitete sich langsam, fast zögerlich, der Gebrauch
der arabischen Ziffern, später auch der bis dahin unbekannten Null.
Nicht allen - auch nicht den viel rechnenden Kaufleuten! - war der
Vorteil des Zehnerstellensystems sofort deutlich, obwohl die Rechenkunst
aus dem Orient Abakus und Rechenbrett überflüssig machte, denn mit ihr
wanderte das Rechnen hinüber in das Medium der Schrift.
Erst auf Papier wurden Verbindungen zwischen den Zahlen sichtbar, die
beim Rechnen mit Fingern, Abakuskugeln oder im Kopf verborgen blieben:
Rechenschritte und Zwischenergebnisse sind für jedermann
nachvollziehbar. Adam Ries, heute als Riese bekannt, veröffentlicht in
Erfurt 1522 sein berühmtes Rechenbuch, die "Rechenung auff der linihen
vnd federn". In der Geometrie, die nach der zeitgenössischen Auffassung
nicht Teil der Mathematik war, wurden die Zentralperspektive, die
Geometrie der griechischen Antike und der Goldene Schnitt entwickelt und
rasch von Künstlern in Italien (Leonardo
da Vinci) und Süddeutschland (Albrecht Dürer) angewandt.
Die Stärke des Buchs liegt in der Konzentration und der lebendigen
Schilderung herausragender Biografien in Wissenschaft und Kunst. Der
Dokumentationsanspruch von Kunst und die Konstruktionsfreude eines
Leonardo da Vinci machen deutlich, dass fortschrittliche Kunst der
Renaissance kein Widerspruch zur Wissenschaft war, sondern Anwendung und
Ergänzung! Gerade Dürer, Autor bahnbrechender mathematischer Werke,
verstand seine Lebensspanne als eine Zeit der "widererwaxsung" von Kunst
und Mathematik.
Thomas de Padovas lehrreiches Buch ist faktensicher, gut belegt und
anschaulich. Man muss weder Geschichtsexperte noch Mathematik-Aficionado
sein, um den spannenden Erzählungen über den wissenschaftlichen
Fortschritt vor einem halben Jahrtausend zu folgen.
(Wolfgang Moser; 06/2021)
Thomas de
Padova: "Alles wird Zahl. Wie sich die Mathematik in der
Renaissance neu erfand"
Hanser, 2021. 381 Seiten.
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