Carlos Ruiz Zafón: "Der Friedhof der vergessenen Bücher"

Erzählungen


"'Lieber Cervantes', sagte er zum Abschied. 'Willkommen auf dem Friedhof der vergessenen Bücher.'" (S. 133)

Wieder einmal musste ein Buch für den deutschsprachigen Markt seinen Originaltitel opfern, quasi Federn lassen, und bekam einen völlig anderslautenden Titel übergestülpt. Somit wurde aus "La Ciudad de Vapor" also "Der Friedhof der vergessenen Bücher" - das klingt doch wahrlich unerhört verkaufszahlenförderlich.
Inzwischen muss der "Friedhof der ausgemusterten Originaltitel" unvorstellbare Ausmaße angenommen haben, blüht doch bedauerlicherweise beinahe jeder übersetzten Veröffentlichung im deutschsprachigen Raum eine überflüssige Titeltransplantation, was völlig zu Recht Misstrauen und Ärger bei vielen derart Zwangsbeglückten nährt.

Jedenfalls handelt es sich um einen schmucken Band mit elf fantasievollen, überwiegend tragischtraurigdunkeldüster gefärbten Erzählungen aus der vom Autor erdachten Welt, in dieser Zusammenstellung auf ausdrücklichen Wunsch Zafóns erschienen.
Man trifft auch auf altbekannte Figuren und Schauplätze und erfährt aufschlussreiche Details, die im Zusammenwirken mit den Romanen das Oeuvre vervollständigen; z.B. wieso, wann und durch wen der Bauplan für das Bücherlabyrinth ausgerechnet nach Barcelona gelangt ist. Selbstverständlich tauchen weitere Mitglieder der Familie Sempere in früheren Zeiten auf, und auch ein Vorfahre des situationselastischen Überlebenskünstlers Fermin ist mit von der Partie.

Der weltweit erfolgreiche Schriftsteller Carlos Ruiz Zafón verstarb im Alter von 55 Jahren am 19. Juni 2020 infolge einer zwei Jahre zuvor diagnostizierten Darmkrebserkrankung in Los Angeles, und dieser Band mit Erzählungen stellt daher bedauerlicherweise seine allerletzte Publikation  dar.
Wohl, weil er selbst auch als Drehbuchautor tätig war und daher die branchenüblichen Gepflogenheiten nur zu gut kannte, lehnte er Verfilmungen seiner Werke stets strikt ab. Übrigens schrieb der Katalane auf Spanisch, weil während seiner Schulzeit (Franco-Diktatur) Katalanisch verboten war.

"Der Friedhof der vergessenen Bücher" bietet bereits Bekanntes sowie sieben zuvor unveröffentlichte Erzählungen in der bewährten Mischung aus Krimielementen, historischen Bezügen und Schauermomenten:
"Blanca und der Abschied" behandelt Jugenderinnerungen David Martíns an ein unglückliches Mädchen aus reichem Haus und einen erstaunlich lebensklugen Beichtvater.
In "Namenlos" wird man mit den entsetzlichen Umständen einer Geburt konfrontiert, der neue Erdenbürger wird David heißen und niemals den Namen seiner Mutter erfahren.
"Ein junges Mädchen aus Barcelona" erzählt Laias Geschichte: Früh wird das außergewöhnliche Talent des bildhübschen Mädchens, perfekt in die Rollen geliebter Verstorbener zu schlüpfen, entdeckt und jahrelang vom charaktermiesen Vater ausgebeutet, bis die junge Frau später selbstbestimmt agiert, und der gute Doktor Sentís wird durch eine Gesellschaftsintrige ins Unglück gestürzt.
"Die Feuerrose" ist eine im Jahr 1454 angesiedelte Erzählung von einer späten Läuterung und der unheilbringenden Verwandlung des unsterblichkeitsgierigen Großinquisitors Jorge de León, wobei ein Buchdrucker namens Raimundo de Sempere als Übersetzer keine unbedeutende Rolle spielt.
"Der Fürst des Parnass", eine sich über Jahrzehnte erstreckende "historische Fiktion", präsentiert nicht nur den Büchermacher Antoni de Sempere, sondern auch den schwarzmagischen Mäzen Andreas Corelli, Don Miguel de Cervantes sowie die überirdisch schöne, doch todgeweihte Francesca di Parma und enthüllt nicht nur die Hintergründe von Cervantes' spätem Erfolg als Schriftsteller.
In "Eine Weihnachtsgeschichte" vollendet sich das gerechte Schicksal des reichen verwitweten Anwalts Eveli Escrutx, der im Rahmen von weihnachtlichen Schachpartien alljährlich ein von seiner blinden Dienerin Candela ausgesuchtes Seelenopfer einkassiert, bis eine geisterhafte Auserwählte dem Spuk ein Ende bereitet.
Ein dreizehnjähriger Laufbursche im Dienst eines betrügerischen Pfandleihers erlebt in "Alicia im Morgengrauen" anno 1938 Verlockungen, Gier und ein böses Erwachen.
"Graue Männer" ist eine spannende Geschichte aus dem Geheimpolizeimileu vergangener Tage mit Überraschungsmomenten und ungebrochener Bedrohlichkeit: "Wir grauen Männer würden immer mehr werden. Bald schon werden wir Zeitung lesend neben Ihnen im Café oder im Bus sitzen. Die lange Nacht der Geschichte hat gerade erst begonnen." (S. 175)
"Die Frau aus Dunst" bietet dem Icherzähler Unterkunft in einem Haus an, mit dem es eine ganz besondere Bewandtnis hat.
Der Architekturstudent Miranda befindet sich - keineswegs zufällig - anno 1908 mit "Gaudí in Manhattan", wo der verehrte Mann für eine grauenerregende, allem Anschein nach unermesslich reiche Gestalt aus der Schattenwelt einen Auftrag annehmen soll, allerdings erliegt der Prominente nicht den Verheißungen und Verlockungen. ("Ein Wolkenkratzer ist nichts weiter als eine Kathedrale für Leute, die statt an Gott ans Geld glauben." S. 189, "Gott hat keine Eile, und ich kann den Preis nicht zahlen, den man von mir verlangt", S. 194).
"Apokalypse in zwei Minuten" erzählt auf knapp zwei Seiten vom offenbar überfälligen Weltuntergang (wo sonst als in den USA beginnend ...) und der Errettung des Erzählers durch einen gefallenen Engel, der den Sterblichen wie folgt anspricht: "Ist dir mal aufgefallen, dass die Leute immer mehr verblöden, je intelligenter die Handys werden?" (S. 199) und dem Überraschten drei Wünsche zugesteht, weil er niemals im Finanzsektor gearbeitet hat.

Der Anhang bietet u.A. einen Text von Émile de Rosiers Castellaine ("Zu diesem Buch"), eine Kürzestbiografie des Autors, die Liste seiner Romane sowie die Niederschrift eines anno 2017 stattgefundenen Gesprächs ("Auch mich hat die Literatur oft gerettet"), Zitate aus internationalen Rezensionen und Informationen über die beiden Übersetzer.

Der Schriftsteller Carlos Ruiz Zafón hat uns ein letztes Mal mit seinen wunderbaren Geschichten beglückt. Halten wir sein Andenken und sein Werk in Ehren, indem wir unbestechliche Leser mit Fantasie und Verstand, Ehrgefühl, Bekenntnismut zum eigenen Lektüregeschmack und einem besonderen Gespür für den Zauber der Bücherwelt bleiben!

(kre; 06/2021)


Carlos Ruiz Zafón: "Der Friedhof der vergessenen Bücher. Erzählungen"
(Originaltitel: "La Ciudad de Vapor")
Übersetzt von Lisa Grüneisen, Peter Schwaar.
S. Fischer, 2021. 224 Seiten.
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