Christoph Ransmayr: "Der Fallmeister"

Eine kurze Geschichte vom Töten


Schöne neue Wasserwelt: Der überforderte Mensch in seiner Paraderolle als Dornenkrone der Schöpfung

Der für den Leser namenlos bleibende Icherzähler, ein privilegierter Hydrotechniker und von eindringlich in Rückblicken geschilderten Kindheits- und Jugenderlebnissen in gebirgiger Abgeschiedenheit am Großen Fall in der Grafschaft Bandon geprägter und wohl auch emotional nicht unbeschädigter Mann, berichtet von seinen Lebensumständen, seinen Befindlichkeiten sowie seinem Brotberuf und hält zudem mehr oder weniger zeitgeistige Beobachtungen fest.

Es ist eine zerstörerische und zerstörte Welt: Der steigende Meeresspiegel raubt den Küstenbewohnern Lebensraum, Trinkwasser stellt vielerorts ein umkämpftes Gut dar, immer wieder flammen kriegerische Auseinandersetzungen auf.
"Im Labyrinth europäischer Kleinstaaten hielten die Hydrotechniker als eine Kaste neuer Aristokraten eine Ahnung von verlorener Größe wach, gehörten sie doch selbst in Grafschaften wie Bandon zu jenen privilegierten gesellschaftlichen Schichten, die über Dutzende Grenzen hinweg gültige Reisepässe, manchmal sogar Pässe von globaler Gültigkeit besaßen. Ein Netz von Wassersyndikaten, das die Kontinente umspannte, beförderte die Entstehung neuer Eliten. Wem es gelang, sein Leben im Dienst dieser Syndikate an Wasserläufe und Ströme zu binden, der erreichte irgendwann nicht bloß das Meer, erreichte Wohlstand, wenn nicht Reichtum, sondern oft auch eine Freiheit, die für den Rest der Küsten- und Binnenlandbewohner utopisch war." (S. 48)

Der Roman beginnt quasi mit einer Schlagzeile: "Mein Vater hat fünf Menschen getötet."
Zunächst will der Sohn, getrieben von diffusen dunklen Gefühlen, seinen Vater, von dem es heißt, er habe einige Zeit nach einem tragischen Bootsunglück mit mehreren Toten am Großen Fall wegen unerträglicher Schuldgefühle Selbstmord begangen, woran der Icherzähler Zweifel hegt, aufspüren und zur Rede stellen: War es ein Unfall oder doch ein Verbrechen?
Der Icherzähler kehrt nach vielmonatiger Abwesenheit aus Amazonien nach Bandon an den Weißen Fluss zurück und wendet sich einer vermeintlich alles überschattenden Bestimmung zu, weil er seinen Vater für einen Mörder hält. Er wandelt sich aufgrund unverrückbarer Vorstellungen und erprobter Ignoranz gewisser Aspekte der Wirklichkeit vom mehr als theoretischen Fanatiker pharaonischer Geschwisterliebe zum Praktiker des Schreckens (siehe Untertitel des Romans!).
Wobei er nach und nach schmerzlich erfahren muss, dass er als Einziger seiner Familie weder Gegenwart noch Zukunft und weder sich selbst noch seine Angehörigen wirklich kennt.

Der Vater, ein vom Sohn als wortkarg, rückwärtsgewandt und impulsiv erlebter und beschriebener Mann, gezwungenermaßen als Freilichtmuseumskurator am Weißen Fluss tätig, beherrscht immerhin die bedeutungsschwangere Kunst, täuschend echt wirkende Lehmabbilder von Lebewesen herzustellen. Die Mutter Jana, eine von der Insel Cres stammende Fremdgebliebene in Bandon mit einem reichen Repertoire an Geschichten vom Meer, muss aus gesellschaftspolitischen Gründen die Familie verlassen, als die Kinder noch klein sind.
Mira, die an der Glasknochenkrankheit weniger leidende als wachsende ältere Schwester des Icherzählers, ist und bleibt für diesen das erotische Nonplusultra.
Er studiert in Rotterdam und arbeitet danach an den großen Strömen der Erde, seine Schwester heiratet an die Nordsee. Das vergangenheitsbesessene erotische und eifersüchtig vereinnahmende Begehren des Icherzählers, den die Erinnerungen an die inzestuöse Vereinigung mit seiner Schwester ungebrochen erregen, und sein Desinteresse an Veränderungen in den Lebensläufen seiner Mitmenschen bilden die Grundlage verhängnisvoller Ereignisse, auf deren Höhepunkt er in einem Leuchtturm ein Menschenleben auslöscht.

Die Überschriften der elf Kapitel illustrieren den Weg des Icherzählers: "Der Große Fall", "Im Wasserstaub", "Mesopotamien", "Strömungsumkehr", "Pharao und Pharaonin", "Zwischen viertausend Inseln", "Erniedrigung", "Töten", "Den Atlantik im Rücken", "Durch die Scherbenwelt", "Vergebung."

Dem Motiv der Strömungsumkehr kommt im gesamten Romangefüge besondere Symbolik zu, weshalb es im vierten Kapitel angesichts des kambodschanischen Flusses Tonle Sap ausführlich erörtert wird. Übrigens erinnert dieser Abschnitt nachhaltig an Christoph Ransmayrs bekannte Reiseerzählungen.
"Seit ich am vorläufig letzten meiner Baulose an der Einmündung des Tonle Sap in den Mekong im kambodschanischen Phnom Penh gesehen habe, wie selbst mächtige Ströme unter dem Wasserdruck der Regenzeit ihre Laufrichtung umkehren und wieder in ihr Quellgebiet zurückzufließen scheinen, habe ich mir vorgenommen, mir nicht allein über die Beweggründe der Tat meines Vaters Klarheit zu verschaffen, sondern Klarheit vor allem über die rätselhafte Geschichte der Verwandlung eines von der Vergangenheit geradezu besessenen Mannes in einen von seinen Nächsten und Liebsten und allen guten Geistern verlassenen Menschen, der am Ende bereit war, zu töten." (S. 24)
Dass sich der Icherzähler mit diesen Zeilen nicht zuletzt auch selbst charakterisiert, zeigt sich bald.

Was er im Lauf seiner strapaziösen Spurensuche und aufgrund des Rollenwandels vom Jäger zum Gejagten, (man ist mehrmals verblüfft, was so ein scheinbar biederer Hydrotechniker alles weiß, kann und aushält, wenn er sich plötzlich als in Ungnade Gefallener und zudem Krimineller im erstaunlich gut organisierten Untergrund durchschlagen muss!), - auch in sich selbst - vorfindet und anrichtet, führt zu einer überraschenden Entdeckung am Schluss, als er endlich doch in der Gegenwart ankommt. Andere haben nämlich in dieser vergifteten, feindseligen, beinahe totalüberwachten Welt ja doch im verborgenen Refugium ihr Glück gefunden!
Falsche Fährten, das Rätsel des Lebens und die individuellen (Wahn-)Welten eben ...

"Der Fallmeister. Eine kurze Geschichte vom Töten" wartet mit einer brisant-interessanten Charakterstudie, grandios beschriebenen Szenen und Kulissen einer stellenweise vertrauten und doch (noch?) überwiegend sehr fremden Welt sowie naturgemäß einigen erwartbar gewesenen Pflicht- und Kürelementen zeitgenössischer Schriftstellerei und prachtvollen Naturschauspielschilderungen auf.
Eine wohlkomponierte, kraftvolle Geschichte aus einer düsteren Parallelwelt, die einigen Interpretationsspielraum bietet und dabei unterschwellig mit nicht immer allgemein verbindlicher, daher mitunter kratzbürstig wirkender Romantik unterfüttert ist. Ein zweifellos ungeheuer intensives Lektüreerlebnis!

(kre; 03/2021)


Christoph Ransmayr: "Der Fallmeister. Eine kurze Geschichte vom Töten"
S. Fischer, 2021. 220 Seiten.
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