Martin Mosebach: "Krass"


Ein deutscher Waffenhändler und sein Gefolge als Spiegelbild der Gesellschaft

Kaum jemand, der ihn gelesen hat, bringt ihn nicht mit Thomas Mann in Verbindung, und wie um sicherzustellen, dass dies weiterhin so bleibe, lässt Martin Mosebach seinen neuen Roman mit einer Zauberervorführung in Italien, konkret dem Neapel des Jahres 1988 - der Kalte Krieg nähert sich seinem Ende oder so - beginnen. Auch sonst fallen manche Ähnlichkeiten auf: das abgebildete Milieu besserer, meist betuchter Kreise, verschiedene Motive, die in verändertem Zug immerwiederkehren, wie beispielsweise die auf der Einbandvorderseite abgebildeten Vögelein, welche besonders in Gefangenschaft beunruhigend aggressiv werden können und mit einem weiteren Motiv, dem des Geschlechterkampfes, verknüpft sind, oder auch die vielsagenden Namen der handelnden Personen, von denen als die beiden wichtigsten neben dem titelgebenden Protagonisten sein Kurzzeitdiener Jüngel und seine Kurzzeitbegleitung Lidewine Schoonemaker zu nennen wären.

"Was die Leute lächerlich oder unverschämt nennen, das ist für ihn kein Maßstab." (S. 113)

Bei Ralph Krass handelt es sich in der Konsequenz und Unerbittlichkeit, mit der er seinen Lebensstil - gleichermaßen vornehm und barbarisch - durchzieht, in der Tat um eine krasse Erscheinung, bei seinem kompakten Fett und seinem Reichtum, der Art, wie er sein Geld einsetzt und letzten Endes überschätzt, könnte einem womöglich auch der Politiker Marcus Licinius Crassus aus der Spätzeit der Römischen Republik in den Sinn kommen. Im Zuge der Begebenheiten scheint sich Krass beruflich überwiegend als Waffenhändler zu betätigen, obwohl der Leser davon - Privates steht durchaus im Vordergrund - nur sehr am Rand erfährt. Als Kaufmann bezeichnet Krass sich im dritten Teil selbst, durch eine Bank ist er, erfahren wir en passant im zweiten, in der Anfangszeit seiner Karriere anmaßende Vorgesetzte entschlossen abschüttelnd regelrecht durchgerauscht, und offenbar hat er zeitlebens schon so allerhand Waren verscherbelt:

"Vor undenklich langer Zeit, in einem anderen Leben, hatte er mit koreanischen Spielsachen gehandelt, billigem Zeug, das in die europäischen Kinderzimmer gedrückt werden sollte, um schon im zartesten Alter den Geschmack des Nachwuchses zu verbilden. So sahen es manche Leute, aber wie fern war das von den Notwendigkeiten des Lebens. An diesem Spielzeug hing die Wiedergeburt eines von einem grausamen Krieg beinahe gänzlich vernichteten Volkes. Er kannte solche Argumente, bei Weihnachtsansprachen in der deutsch-koreanischen Handelskammer war derlei zu hören gewesen, oberflächliches, nur zum Schein politisches Gerede. Die Gottheit, welche die Welt regierte, war genauso aus Eisen wie das glühend erhitzte Maul des Molochs, in welches die Karthager einst ihre Erstgeborenen geworfen hatten. Ein realistisches Gottesbild hatten sie gehabt, eine Handelsnation übrigens, ein modern denkendes Volk." (S. 365)

Die drei Teile des Romans tragen musikalische Charakterisierungen, der erste ("allegro imbarazzante") spielt in Neapel sowie auf Capri und zeigt Krass, wie er mit einem regelrechten Gefolge, einem kleinen Hofstaat, unterwegs ist, drei befreundeten Paaren und dem für regelmäßige erlesene Mahlzeiten in feinen Restaurants, ein etwas weniger anspruchsvolles Kulturprogramm und insgesamt einen reibungslosen Tagesablauf zuständigen Organisator Jüngel. Diesem obliegen auch die finanziellen Angelegenheiten, die Ausgaben sind bar aus einem Geldkoffer, den Jüngel zu seinem Leidwesen immer mit sich herumzuschleppen hat, zu begleichen, nur die größeren Ausgaben - mit Kleinkram gibt sich Krass nicht ab, wie er auch Geld nicht selbst in die Hand nimmt - sind zu notieren und Krass beim Frühstück im Bewusstsein, dass dessen Zeit das Kostbarste sei, womit er während der Reise in Berührung komme, vorzulegen. Darüberhinaus muss Dr. Jüngel hin und wieder ja nicht langweilende kunstgeschichtliche Vorträge halten, möglichst unauffällig die sich auf Deutsch, Französisch und Italienisch abspielende Konversation der Reisegruppe als Übersetzer unterstützen und diverse sonstige Wünsche seines Brötchengebers erfüllen, etwa, eine junge (neunundzwanzigjährige, Jüngel ist dreiunddreißig, Krass dreiundfünfzig) selbstbewusste Frau in einer Hotelhalle zu ihnen an den Tisch zu bitten und ihr bald darauf das Angebot zu unterbreiten, für großzügige Bezahlung in der nächsten Zeit Begleiterin der Schar zu werden. Die Flämin Lidewine muss dabei allerdings die Bedingung annehmen, während dieser Zeit nicht nur mit Herrn Krass, sondern auch anderen Männern keine körperliche Beziehung einzugehen, womit ein kleines dramatisches, die Szenerie bereicherndes Spannungselement wirksam wird. Mit Lidewines Erscheinen wird nun außerdem ein klein wenig mehr vom Innenleben und den Wertvorstellungen des Titelhelden preisgegeben:
"Er hatte das Bedürfnis, ein Glacis von Respekt um sie herumzulegen, mehr noch: sie durch den ihr entgegengebrachten Respekt, den sie kaum gewohnt sein konnte, zu leiten und zu formen. Führen, erziehen, befehlen, ohne es in Worte umsetzen zu müssen, das war sein Ideal." (S. 125)
Lidewine, zwar auch nicht aus armen Verhältnissen, jedoch zu freiheitsliebend-flatterhaft und unstetig für systematische Vermögensmehrung und überhaupt eine andere Kategorie, vermag bald festzustellen:

"Richtig reiche Leute unterschieden sich von den anderen keineswegs nur durch das Geld; der Besitz hatte sie verwandelt, sie waren zu Menschen eigener Art geworden, unvergleichbar den Armen, mit gänzlich anderen Bedürfnissen." (S. 71)
Fast alles wird in der krassen Gesellschaft in Geld verwandelt, was der dunkel-gebieterischen Ausstrahlungskraft der kleinen Sonne, um welche die anderen acht Personen kreisen, keinen Abbruch tut; eine wortkarge, aber zweifellos beeindruckende Persönlichkeit. Gerade bei den Italienern, die für professionelles Spektakel viel übrig haben, erzielt er damit einige Wirkung, erst recht natürlich, wenn diese zusätzlich finanziell von ihm profitieren.    

"Un signore", das war der ältere Architekt, "un vero signore", der jüngere - "ecco", der Makler fand die Konklusion: "Un signore-signore." (S. 162)

Neben den prägnanten, das Wesentliche hervorhebenden Dialogen und der wohldurchdacht und hintergründig durchkomponierten Gesamtstruktur hat die Prosa Martin Mosebachs ihre große Stärke vor allem im Deskriptiven. Das beschriebene Verhalten der Personen, aus der Distanz, nüchtern und detailreich, gehört zu den Vorzügen des Romans; ob nun Sprechweise und Gesprächsthemen, Manieren und Manierismen der Privilegierten, die hierarchische Struktur der Gruppe oder die spezielle Beziehung des jeweiligen Paares - es wird auf den Punkt gebracht. Meist hebt der Autor dabei das Typologische hervor, manchmal geht es ins Individuelle, selten nur ins Psychologische, in welchen Fällen die Distanz schwindet und kurze Nahaufnahmen der Gedanken und Beweggründe, vor allem der drei Hauptfiguren, erfolgen, beispielsweise Lidewines Vorstellung, eine Frau solle immer ihren Instinkten vertrauen, selbst wenn ihr dies manchmal gravierende Nachteile einbringe, erläutert und veranschaulicht wird.

"Zur Inbesitznahme eines Menschen gehörte immer auch, sich von ihm zu entfernen, unversehens weg zu sein, nachdem man schon die Enterhaken in dessen Herz geworfen hatte, und wiederzukommen, wenn der andere - die andere - es nicht mehr vermutete." (S. 132/133)

Bekam man im ersten Teil hin und wieder Kurzberichte von Jüngel über sein neues Um- und Betätigungsfeld via Fax an seine Freundin daheim in Deutschland zu lesen, ergreift er nun im zweiten Teil ("andante pensieroso") - wir befinden uns in den letzten Monaten des Jahres 1989 - durchgehend selbst das Wort, berichtet, von Krass gleichsam verstoßen, ohne Geld und voller privater Probleme, tagebuchartig in der ersten Person und im Präsens von seinem Rückzug in das leerstehende Landhaus eines Freundes in der tiefsten französischen Provinz, seinen dortigen Begegnungen mit einfachen Menschen ("Alle Menschen sind gleich, gewiss, aber Bequemlichkeit, reichliche Nahrung, das Verschontwerden von Schmerzen und Kälte haben doch eine neue Art gezüchtet, die sich vom Grundrißmodell, wie Toussaint es für mich verkörperte, weit entfernt hat."; S. 245) und seinen Erfahrungen mit einfachen Aufgaben, die ihn langsam aus seiner Lebenskrise herausholen.

Etwas wenig herausgeholt hat Mosebach allerdings aus dieser Jüngel-Perspektive, insofern die peinlichen Selbstbloßstellungen, die sich sein Antiheld laufend leistet, kaum von den bereits aus Autorenperspektive geschilderten abweichen. Es wird zwar der Versuch, Fehler der Vergangenheit zu klären, breit geschildert und das unbewusste Feilen an einem erträglichen Selbstbild angedeutet, sonst bringt der Autor jedoch trotz der vielen Seiten in erster Person kaum etwas von den inneren Konflikten, Antriebskräften, Erwägungen und Hoffnungen Jüngels zur Sprache, der nicht nur eine fast übertrieben kläglich und erbärmlich gezeichnete, sondern in der Kombination einer dürftigen Selbstreflexion mit einer genauen Beobachtung Anderer nicht gänzlich überzeugende Figur darstellt.

Dass der Autor in diesem Roman die Psyche und deren gewundene Wege weitgehend beiseite lässt, hängt indessen nicht zuletzt mit dem Schwerpunkt, den er darin auf die ursprünglichen Kräfte der Natur legt, zusammen. So verfolgt jede der Romanfiguren mehr oder weniger unbeirrbar den von ihr als gemäß betrachteten Weg (Jüngel ist lediglich in seiner Entwicklung noch nicht abgeschlossen), Krass vertritt recht rigoros ein paar Maximen, die er unter veränderten Umständen jedoch ohne mit der Wimper zu zucken adaptieren kann, es wird in der illustren Gesellschaft zwar einigermaßen ernsthaft der Einfluss der Sterne diskutiert (Krass und sein Schöpfer wurden übrigens beide im Zeichen des Löwen geboren), Moral ist bei ihnen hingegen überhaupt kein Thema.
Und der Autor tut es ihnen darin gleich, indem er streng sachlich bleibt und dem Beschriebenen keine eigenen Wertungen hinzufügt (beim Leser freilich voraussetzt, dass dieser um den stark unmoralischen - 
Menschenblut vergießenden, Menschenunglück verursachenden etc. -  Aspekt des Waffenhandels Bescheid weiß). Wer das Gold hat, bestimmt die Regel, wo ein Wille, da ein Weg, Frechheit siegt, nicht immer, aber oft, wer sich selbst hilft, fährt am besten - es ist eine ziemlich sozialdarwinistische Welt, die da vor einem ausgebreitet wird und keine Begriffe dafür, dass sie ist, wie sie ist, nötig hat.
Gerne wird zur Verdeutlichung des fundamentalen Kräftespiels der Natur die Tierwelt herangezogen. Gegen die Bitten von Lidewine greift Krass, der sich kurz zuvor erst selbst gegen eine starke Naturkraft bewähren musste, nicht in den Kampf zweier Insekten ein, und Jüngel, von Krass auf seine Art schwer beeindruckt, schützt während seiner französischen Episode zwar zwei Wellensittiche vor einem blutdürstigen Kater, kann aber nicht umhin, sich in letzteren hineinzufühlen, dabei zu vermeinen, das Raubtier betrachte die Sittiche als für ihn von einem sinnvollen Universum vorbestimmte Beute, und vermutlich zutreffend zu sinnieren, dass sich die vom Menschen an Katzen und Vögeln so bewunderten Eigenschaften und Fähigkeiten ohne Überlebenskampf nicht dergestalt entwickelt hätten.

"Etwa so Banales wie die Sehnsucht nach Aufstieg kannte er bei sich nicht, und das wollte er auch der Frau, die er liebte, nicht zutrauen." (S. 312)
Auch dieser Satz über einen Dorfbewohner, mit dem sich Jüngel im zweiten Teil ein wenig anfreundet, hat weniger den Charakter eines moralischen als vielmehr eines ästhetischen, als solches allerdings geradezu konträren Werturteils. Moral findet sich, wenn überhaupt, in einem nahegelegenen, einen völligen Rückzugsort versinnbildlichenden Kloster, vielleicht auch bei
dem mit dem bezeichnenden Namen Toussaint schon Erwähnten, einer Art Dorftrottel.

Auf Moral, auf eine spezielle Variante davon nämlich, stößt man hingegen im dritten Teil ("marcia funebre"): Kairo 2008, das Jahr der sogenannten Finanzkrise, die freilich ebensowenig mit einem Sterbenswörtchen erwähnt wird wie die üblicherweise mit dem Neunzehnhundertneunundachtzigerjahr assoziierten Geschehnisse. Geldprobleme (klassisch damals: die gesperrte Bankomatkarte) machen dem in Kairo weilenden und auf den Anruf eines ägyptischen Generals hoffenden Krass zu schaffen, doch hat er in dieser misslichen Lage das Glück (bzw. die richtige Ausstrahlung), einen Einheimischen kennenzulernen, der große Sympathie für ihn empfindet, Anwalt von Beruf ist und ein Ehrenmann, auf seine Weise:
"Und in diesen zwei Stunden, die sie im Teehaus verbrachten, lernte Ralph Krass seinen neuen Freund besser kennen, diese Neigung zur Repetition, diese ständigen Versicherungen, ein Mann von Ehre und hohen moralischen Werten zu sein, der allein durch das Leben gehe, weil er nur Gott brauche und sonst nichts, von gelegentlichen Exzessen mit Bier, Gin und Whisky und unehrenhaften käuflichen Frauen abgesehen, wovon er reuevoll aber wieder zur guten Ordnung zurückkehre, indem er die vorgeschriebenen Waschungen vollziehe und sich zum Gebet niederwerfe." (S. 396)
Mohammed, so heißt der neue Freund, nimmt sich des in Not geratenen Krass wie eines Vaters an, und wie es der Zufall, der keinen Grund hat, sich über eine zu kleine Rolle in dem Buch zu beschweren, so will, weilen auch Jüngel und Lidewine gerade in der Megalopolis am Nil.

Mit einigem Humor gestaltet Mosebach das Aufeinandertreffen der unterschiedlichen Kulturen, manchmal plakativ, doch keineswegs unrealistisch, wenn Lidewine einer Malerin, für die sie eine Ausstellung organisieren soll, angesichts eines Davidsterns auf einem Gemälde eindringlich klarzumachen versucht, die Zeit für das Toleranzthema sei noch nicht angebrochen, oder wenn Mohammed aus ehrlicher Überzeugung, nicht nur um seinem deutschen Schützling ein Kompliment zu machen, Karl Marx und Adolf Hitler als die beiden größten Männer der Geschichte neben dem großen Profeten, dessen Namen er trägt, bezeichnet. Aber auch in feinen Anspielungen erweist sich der Autor als Kenner islamisch geprägter Denkweisen im allgemeinen, ägyptischer im besonderen, während ein Schlüssellochblick in ein Schlafzimmer das Thema Sitten gut zwei Jahre vor dem Beginn des sogenannten arabischen Frühlings in dem Land der Pyramiden abrundet.

In einem Spiel der Ähnlichkeit, Gegensätzlichkeit, Andersartigkeit und Allgemeingültigkeit ("cras" kann im übrigen auch "morgen" heißen) seiner Figuren führt Martin Mosebach seine Geschichte konsequent an ihr Ende und behandelt darin auf unscheinbare Weise gewichtige Themen: des Menschen primäre Bedingtheit durch die Natur, seine Abhängigkeit von, Verführbarkeit, Prägung und Beherrschung durch den Mitmenschen, durch Handel, Konsum und das die Gesellschaft weitgehend bestimmende, die Gesellschaften, nicht nur nördlich und südlich des Mittelmeers, verbindende Geld. Er weist auf einen Raum der relativen Freiheit hin und verbannt, indem er das Geschäftliche auslässt und seine Personen größtenteils frei von Zweifeln und Gewissensbissen scheinen, den der thematisierten Welt inhärenten Zynismus zwischen die Zeilen, sich selbst als Autor nur ausnahmsweise und flüchtig an dessen Rand begebend.
"Die junge Frau belebte ihn, der er sich immer nach jüngeren Frauen umgesehen hatte, bis er schließlich von der grausamsten aller Strafen, der Wunscherfüllung, ereilt worden war." (S. 55)

(fritz; 04/2021)


Martin Mosebach: "Krass"
Rowohlt, 2021. 528 Seiten.
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