Patrick Modiano: "Unsichtbare Tinte"
Das fremde Leben als das intensivere und Besonderheiten der Erinnerung
Wie sie einander ähneln, die
Romane des Patrick Modiano, getragen von Anfang bis Ende von der
eigentümlichen Persönlichkeit des Autors und anscheinend daher gewisse
fixe Zutaten benötigend,
um in Gang zu kommen: weit
zurückliegende Ereignisse (ein beliebtes Zeitmaß des späten Modiano: um die 50 Jahre),
ein Dossier mit spärlichen Notizen,
das dem Ich-Erzähler, dem alter ego des Autors, mehr oder weniger
zufällig in die Hände fällt und ihn schließlich zu Recherchen anregt,
wenn nicht sogar treibt. Diese Nachforschungen betreffen dann bald auch den Erzähler persönlich und gestalten
sich sehr individuell, indem sie eng mit Modianos Art, sich dem
Schreiben und Leben zu nähern, zusammenhängen.
Der Erzähler überrascht sich dabei hin und
wieder selbst, zeigt vereinzelt
Unsicherheiten bezüglich des
unmittelbaren Vorgehens, seiner
Eigenheiten ist er sich in Summe wohlbewusst:
"Natürlich, ich hatte schon immer Spaß daran, mich ins Leben anderer
einzuschleichen, aus Neugier und auch aus dem Bedürfnis heraus, sie
besser zu verstehen und die verhedderten Fäden ihres Lebens zu
entwirren - wozu sie selbst oft nicht imstande waren, denn sie
erlebten ihr Leben aus allzu großer Nähe, ich dagegen hatte den
Vorteil, bloß ein Beobachter zu sein oder vielmehr ein Zeuge, würde
man in Juristensprache sagen." (S. 20)
In "Unsichtbare Tinte" ist es
das Leben einer gewissen Noëlle
Lefebvre, auf welches Jean, der
Erzähler, noch keine zwanzig, in seiner Zeit als Angestellter einer
Pariser Detektei gestoßen wird, zunächst mit dem Auftrag, über das
spurlose Verschwinden der jungen Frau Erkundigungen einzuziehen, wozu
ihm eine Mappe mit recht wenigen Anhaltspunkten und einem zu dunkel
geratenen Foto zur Verfügung gestellt wird. Sehr weit gedeihen diese
Recherchen zunächst nicht, immerhin
vermag Jean eines dünnen Notizbuchs der Verschollenen habhaft zu werden.
Bald gibt er seine Stellung in der Detektei auf, nicht ohne dabei, da er
sich von dem Fall seltsam berührt fühlt, das schmale Lefebvre-Dossier an
sich genommen zu haben, und führt die Sache nun privat, gemächlich, ohne
oft daran zu denken, doch nicht ohne unterschwellige Hartnäckigkeit,
fort.
Im weiteren Romanverlauf erinnert Jean sich bei den entsprechenden
Gelegenheiten an in Beziehung zu Noëlle
stehende Namen und sucht die dazugehörigen Menschen, mit denen sie
in den anscheinend nur wenigen in Paris verbrachten Monaten in Kontakt
gekommen ist, auf.
Manche Fährten verlaufen sich, eine führt in eine andere Großstadt, wo
sich Veränderungen viel langsamer als im schnelllebigen Paris zutragen,
wieder eine andere in die Heimat Noëlles
nach Annecy, Provinzhauptstadt in den Alpen
nahe der Schweizer Grenze und auch dem Erzähler nicht fremd.
"Und am Ende glaubte ich gar, ich
sei auf der Suche nach einem fehlenden Kettenglied in meinem Leben."
(S. 101)
Jeans
Herangehensweise ist stark intuitiv, er stellt beim Befragen keine
absichtlichen Fallen oder versucht gar zu bohren, hört jedoch
genauestens auf den Tonfall und das Unausgesprochene seiner
Gesprächspartner, weniger wie ein professioneller Detektiv als wie ein
Privatier (oder eher wie ein Schriftsteller, ist er doch schon mit dem
Hintergedanken, auf diese Weise eine für seinen Wunschberuf gute
Vorbereitungsschule vorzufinden, Angestellter der Detektei geworden),
der diesen Bereich höchst anziehend findet. Dadurch, dass die oft
Jahrzehnte zurückliegenden Erinnerungen weniger mit der Verschollenen
als mit den damaligen Lebensumständen der Erinnernden zu tun haben,
entsteht für den Leser ein sehr vager, aber konkreter Elemente nicht
ganz entbehrender Eindruck, kaum ein Schattenriss, der gleichwohl die
fremde, wirkliche Existenz dahinter erahnen lässt.
"Aber du kannst die Einzelheiten dessen,
was ein Leben war, noch so genau unter die Lupe nehmen, es werden
darin für immer Geheimnisse bleiben und auch Fluchtlinien. Und dies
schien mir das Gegenteil von Tod." (S. 75) - so die unwillige
Reaktion Jeans auf die Vermutung einer ehemaligen befreundeten Kollegin
Noëlles,
diese würde tot sein.
Und als Jean auf eine Wohnung stößt, wo Noëlle
kurze Zeit gelebt hat, und ihn die Erkenntnis
anwandelt, dass er den Erinnerungen
der Anderen kein großes Zutrauen entgegenbringen solle, da diesen die
Zeit, Subjektivität, bewusste und unbewusste Absichten stark zusetzten,
und er sich folglich nur auf sich
selbst verlassen dürfe, fühlt er sich wie in einem bizarren
Schwebezustand, den Pariser
Sommerabend frischer und
strahlender als gewöhnlich. "Und so empfand ich jedesmal, wenn
ich mich vorwagte auf Seitenpfade, um hinterher schwarz auf weiß
meinen Weg aufschreiben zu können, jedesmal, wenn ich ein
anderes Leben lebte - abseits von meinem." (S. 61/62)
Dass dies für
Patrick ebenso wie für Jean gilt, davon zeugt die reine, schlichte Sprache, die keinen anderen Zweck als
den der Mitteilung über die seltsamen durch den Nebel von längst
Vergangenem führenden Wege verfolgt, wobei das Präteritum immer wieder
unvermutet vom Perfekt unterbrochen wird (im Original wohl das imparfait
oder passé simple vom passé composé), Zeichen für eine gerade lebendig
gewordene Erinnerung oder ein sonstwie intensiveres
Hineinreichen in die Erzählzeit.
Das Fänomen Erinnerung (überraschende Gedächtnislücken, Natürlichkeit und manchmal Segen des
Vergessens inkludiert) kann wohl als das eigentliche Hauptthema des Romans
bezeichnet werden:
das viele in Form gespeicherter Erinnerung vorhandene, vielleicht
noch gegenwärtig wirksame Leben, die verschiedensten Speicherorte
- eigene
und fremde Gehirnzellen, unsichtbare Tinte, ein in der Dunkelkammer erst zu
entwickelndes Bild, rätselhafte Notizen usw. - und die zum Teil
geheimnisvollen, den Erinnerungsprozess auslösenden Momente.
Nicht nur die Erzählweise des kurzen Romans ist leicht, zart und angenehm, auch sein Inhalt ist es, insofern allfällige Traumata als durch Leben und Tod weitgehend aufgelöst erscheinen. Am Ende warten zwei Pointen auf den Leser, wovon die zweite zugleich der weiter als alles zuvor in die Vergangenheit führende, den Anhauch einer ursprünglichen Unschuld vermittelnde Schlussakkord des Buches ist.
(fritz; 05/2021)
Patrick
Modiano: "Unsichtbare Tinte"
(Originaltitel "Encre sympathique")
Aus dem
Französischen von Elisabeth Edl.
Hanser, 2021. 144 Seiten.
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