"Franz Kafka. Die Zeichnungen"
Herausgegeben von Andreas Kilcher
Wenn Zeichnungen von Franz Kafka auftauchen, mit denen nicht gerechnet
werden konnte, gilt dies zurecht als Sensation. Dass diese Zeichnungen
nun auch in Buchform betrachtet werden können, ist dem Verlag C.H. Beck
zu verdanken. Der Literaturwissenschafter Andreas Kilcher hat es als
einen Auftrag gesehen, möglichst rasch die Zeichnungen der
Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Zeichnungen sind teilweise im
Originalformat, teilweise in leichter Verkleinerung, teilweise etwas
vergrößert dargestellt.
Um dieses Buch halbwegs adäquat zu besprechen, muss ich meine eigene
Perspektive offenbaren. Das ist bei Rezensionen keineswegs
selbstverständlich. Es kann bei einem gewissen Abstand zum Werk eine
objektive Warte eingenommen werden. Aber das ist in diesem Fall
verunmöglicht. Wer eine Zeichnung studiert, zieht seine eigenen
Schlüsse, ist begeistert oder entsetzt, erstaunt oder gelangweilt. Die
Zeichnungen von Kafka können genausowenig entschlüsselt werden wie seine
literarischen Werke. Die US-Amerikanische Philosophin Judith Butler hat
einen Essay beigesteuert, worin sie einen Versuch der Analyse
unternimmt. Und sie schildert Aspekte, die auch mir auffallen. Was die
Zeichnungen von Kafka auszeichnet, ist, dass die dargestellten Figuren
immer in einer Bewegung sind, sich irgendwohin ausdehnen oder
irgendwohin zu verschwinden scheinen. Hier kann eine Verbindung zu
Kafkas Schreiben gesehen werden, das nie an ein Ende gekommen ist. Kann
ein literarisches Werk oder eine Zeichnung überhaupt an ein Ende kommen?
Diese Frage stelle ich mir als großer Freund der literarischen Werke
Franz Kafkas.
Andreas Kilcher schrieb einen außerordentlichen Essay, worin er Kafkas
zeichnerischen Weg zu ergründen sucht. Hierbei wird es für viele Leser
Überraschungen geben. Nur um eine zu nennen: Max Brod war von Kafkas
Zeichnungen (von denen er nicht viele kannte) begeistert. Er versuchte,
seinen Freund, von dem er anfangs nicht wusste, dass er auch schrieb,
als Zeichner zu fördern. Ja, er bezeichnete Franz als ein Zeichengenie.
Angesichts dessen ist es erstaunlich, dass er es nach Kafkas Tod nicht
guthieß, dass es - auch internationale! - Ausstellungen der Zeichnungen
geben könnte. Es vollzog sich ein Sinneswandel, für den es keine
Erklärung gibt.
Dieses Buch ist ein Paket, das staunen macht. Ich könnte seitenweise
davon berichten, ja selbst einen ausführlichen Essay meiner Eindrücke
schreiben. Wer ein buchstäblich genaues Bild bekommen will, kann nicht
umhin, das Buch in die Hand zu nehmen, die Zeichnungen zu studieren und
die Essays zu lesen. Mir bleibt nichts Anderes übrig, als die
Einmaligkeit dieses Buches hervorzuheben. Diesem Band kann keine noch so
ausführliche Besprechung gerecht werden, weil er nicht mehr und nicht
weniger verkörpert als die Zusammenstellung von Zeichnungen eines
Schriftstellers, dessen Werke bis heute unzählige Male zu ergründen
versucht wurden. Kafka war nicht nur Schriftsteller, es war ihm ein
Bedürfnis, auch Bilder sprechen zu lassen. Oft dann, wenn er an die
Grenzen der Sprache gelangte. Das hat er selbst so mitgeteilt. Manchmal
sind die Zeichnungen eigenständig, manchmal in Verbindung zu einem Satz
oder einer Textstelle, manchmal irgendwohin gekritzelt.
Das Wunderbare an diesem Buch ist, dass es den Menschen Franz Kafka ein
Stück weit sichtbar macht. Einen Menschen, der eine Freude daran hatte,
Unmögliches darzustellen. Und damit zeigte, dass nichts unmöglich ist.
Die Freundschaft von Max Brod zu Franz Kafka ist ein wesentliches
Element, das neu geschrieben oder gezeichnet wird. Auch Brod hat sich
als Zeichner versucht. Und wenn er und sein Freund Franz das selbe Haus
zeichneten, so sahen die Ergebnisse vollkommen verschieden aus. Max Brod
schmückte aus, Franz Kafka deutete die Umgebung des Hauses nur an. Beide
kannten Alfred
Kubin persönlich und schätzten dessen fantastische Bilder. Wie
Kubin schuf Kafka durch seine Zeichnungen eigene Welten. Der große
Unterschied ist, dass Kafka nie ein konkretes Szenario zeigt. Er lässt
aus, es tauchen Linien, mit Schwung vollzogene Muster, sich in einen
Tisch verwandelnde Menschen auf. Und eine Zeichnung gemahnt sogar an die
"Strafkolonie" mit dem unbeteiligten Erfinder der Maschine.
Im Jahr 2019 wurden die Zeichnungen gemeinsam mit literarischem Material
in einem Banksafe in Zürich aufgefunden. Über Jahrzehnte war der Zugang
zu diesen Zeichnungen versperrt worden. Das hing mit Max Brods Testament
zusammen, und wie sich die Dinge schließlich entwickelten. Wie es
überhaupt möglich war, dass die Zeichnungen erhalten geblieben sind,
wird eindrucksvoll geschildert. Franz Kafka hatte verfügt, dass AUCH DIE
ZEICHNUNGEN zu vernichten seien. Eines noch zum Schluss meiner kleinen,
persönlichen Perspektive auf das vorliegende Buch: Max
Brod hat einerseits als Kafkas engster Freund durch seine
Weigerung, das Werk zu vernichten, das Phänomen Kafka erst buchstäblich
in die literarische Welt eingebunden und hierfür das für ihn
Bestmögliche getan. Andererseits hat er, wenn ihm etwas nicht passend
schien, in ein Werk eingegriffen. Und sogar die Zeichnungen verändert.
Andreas Kilcher und dem C.H. Beck Verlag ist hohe Anerkennung zu zollen,
dass nur wenige Jahre nach dem Sensationsfund in Zürich dieses Buch
entstanden ist. Besser hätte es nicht gemacht werden können. Dieses Buch
ist eine Fundgrube und ein großartiger Kunstband gleichermaßen. Es ist
in physischer Hinsicht ein Schwergewicht, und wer es einmal
aufgeschlagen hat, wird dies noch viele weitere Male tun. Die nunmehr
weit mehr als einhundert gesammelten Zeichnungen Kafkas sind vielleicht
das letzte große fehlende Stück, um sich dem Menschen und literarischen
Genie aus
Prag anzunähern. Die Zeichnungen geben wie das Werk von Kafka viele
Rätsel auf. Und das ist gut so.
(Jürgen Heimlich; 11/2021)
Andreas Kilcher: "Franz Kafka. Die
Zeichnungen"
Unter Mitarbeit von Pavel Schmidt. Mit Essays von Judith Butler und
Andreas Kilcher.
C.H. Beck, 2021. 368 Seiten mit 229 farbigen Abbildungen.
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