Peter Handke: "Mein Tag im anderen Land"
Eine Dämonengeschichte
Von
einem, dem schon vieles (und manch Unerhörtes) über die Lippen kam
Eine Geschichte, die ich noch keinem Menschen erzählt habe, heißt es einleitend und vermuten lassend, dass sie sich nicht kürzlich zugetragen habe, der Autor sie früher auf Papier bannen hätte können, vielleicht, wahrscheinlich mit anderen Worten. Das Erzählen in Buchform und damit vielen Menschen auf einmal erscheint schon deshalb naheliegend, da der öffentliche Raum darin eine zwar unscheinbare, aber unabdingbare Rolle spielt. Eine Besonderheit des ersten der drei Teile dieser Dämonengeschichte ist es außerdem, dass der Erzähler, obwohl selbst die handelnde Hauptperson, über sein früheres Selbst und Tun nur von anderen gehört hat; nicht bei Bewusstsein, nicht bei Sinnen sei er nämlich damals gewesen.
"Der Schrecken, er ging aus von deinen Worten, von dem, was du sie, die Gesamtheit, hören hast lassen." (S. 16)
So spricht die Schwester des Erzählers,
die einzige Person, die ihm in der Zeit seiner Besessenheit von Dämonen
nahegestanden ist, sich um den Bruder, Obstgärtner von Beruf, gekümmert
hat, welcher mit einemmal Elternhaus und gewisse Grunderwartungen des
Zusammenlebens mit den anderen Ortsbewohnern verlassen und sein kleines
Zelt "außerhalb der Siedlung
aufgeschlagen hätte, in einem Friedhof, nicht dem aktuellen, vielmehr
dem "alten", dem ehemaligen, mit den in der Mehrheit längst
aufgelassenen und überwachsenen Grabstätten aus den zwei vergangenen
Jahrhunderten." (S. 11).
Den Kindern im Ort ist der Sonderling
ein Quell der Angst, den Älteren des Unbehagens, sie wüssten nicht, woran sie mit ihm seien, und häufig wird die
starke Vermutung, dass irgendetwas mit dem nicht stimme, geäußert.
Diese Unterstellung kann man
ihnen im übrigen kaum übelnehmen, denn nicht nur mit seiner
selbstgewählten Wohnstatt, ein absonderliches, unruhestiftendes Betragen zeigt
er auch
und vor allem in seinen lautlichen Äußerungen, welche im folgenden in verschiedenen Fasen oder
Ausdrucksformen beschrieben werden: harmlosere finden sich
darunter wie Zungenreden, Sprechen in einer unidentifizierbaren Sprache,
ein leises, "feierabendliches", selbst wilde Tiere
besänftigendes Singen (des laut Schwester vor seiner Besessenheit nicht
gerade durch Gesangstalent Aufgefallenen). Aber auch
Verstörendes tut sich kund, orakelgleich, unvermutet wie ungebeten jemandem
die Wahrheit ins Gesicht sagen, und ein gewaltiger
Weltekel scheint sich immer wieder Luft zu machen, äußert sich in wüstem
Beschimpfen anderer
und seiner selbst, im Verfluchen der gesamten Schöpfung, nicht nur mefistofelisch
alles Entstandenen insgesamt, sondern auch der Einzelfänomene (ja
selbst so unschuldiger wie des Hochzeitsschnaufens der Igel), des
Ewiggleichen wie des genauso niederziehend Sichverändernden, des
Sichtbaren wie des Unsichtbaren, des Hässlichen und des Schönen:
"Und am häßlichsten ihr ohne besondere Merkmale, ihr, die
überwältigende, die raumverdrängende Mehrheit auf Erden, ihr mit dem
normalen Gang, den normalen Stirnen, normalen Nasen, normalen
Lippen, normalen Kinnbacken, normalen Schultern, und mehr und mehr
auch schon fast alle ihr Neugeborenen, euern normalen Vätern und
Müttern aus dem Gesicht geschnitten, und dergestalt schon an eurem
ersten Tag im Licht der Welt scheußlich voraussehbar eure Gesichter
in dreißig, in vierzig , in fünfzig Jahren - bloß leider Gottes bei
fast keinem von euch Neugeborenen, anders als bei denen vor eurer
Zeit, ein altes, das Gesicht eines Greises oder einer Greisin."
(S. 23/24)
Dies alles fast durchwegs, wie
gesagt, in der Erinnerung anderer; ob der Erzähler diesen Versionen
(allen voran der Schwester) Glauben schenkt oder ob ihm von dem
Geäußerten doch etwas mehr im Gedächtnis geblieben ist - jedenfalls
wirft er auch urteilende Worte wie "Wahnhaftigkeit",
"Selbstübersteigerung", "Unperson" und dergleichen in den Bericht ein -,
wird nicht erwähnt.
Andere
Besessene, die hinzukommen, ebenfalls durch die Straßen und über die
Plätze streifen, geben der Schwester, durch die Familienbande zur
Kennerin geworden, Anlass, sich über deren aufgesetztes, angemaßtes
Dämonentum und die dahinterliegende abgrundtiefe Seelenverlorenheit zu
mokieren, dem Erzähler wiederum zu einer Reflexion über die Rolle
derartiger - Pseudo oder nicht - Erscheinungen in der Gesellschaft.
Offen
beziehungsweise der Interpretation des Lesers überlassen bleibt, ob es
sich um verschiedene, höhere (tiefere) oder gemeinere Dämonen handelt,
oder sich ein einziger vielgestaltig manifestiert, ob an der Vermutung
der Schwester, das dämonische Wesen des Bruders sei eine vorsatzlose
Aufforderung zum Spiel gewesen, zu dem sich allerdings nie Mitspieler
finden wollten, etwas dran sei.
Nach den einen in der Rolle eines Besessenen, nach den anderen
ein leibhaftig Besessener - der einzige Erinnerungsfetzen des strittigen
Objekts selbst hingegen ist ein gänzlich anderer: müde und hellwach
zugleich habe er einmal viele Stunden unter dem Sternenhimmel auf einer
Hausschwelle sitzend verbracht, und
ebenso, ein Schwellenhocker,
erscheine ihm im Nachhinein seine damalige Grundbefindlichkeit.
War die Atmosfäre des ersten
Teils von Verlorenheit und Empörung bestimmt, prägen den zweiten
Selbstfindung und Harmonie. Die Erlösung vollzieht sich in einer
gleichsam biblischen Szene, am Ufer des einzigen Sees seines, des
Erzählers Landes. Ein paar Männer ziehen ein Fischerboot aus dem Wasser,
und der besondere, ausgiebig beschriebene Blick eines dieser Männer ist
alles, was nottut, damit die Dämonen die Flucht ergreifen, "als ob
sie eher bloß so verduftet seien". (S. 36)
Mit starken missionarischen Anklängen die Fortsetzung, denn nicht soll
der Genesene, wie es sein Wunsch wäre, bei ihnen bleiben, er erhält
vielmehr von seinem "Guten Zuschauer", wie er den so heilsam Blickenden
nennt, den Auftrag, sich auf die gegenüberliegende Seite des Sees ins
andere Land, die sogenannte Dekapolis, das ehemalige Zehn-Städte-Land
aufzumachen und dort Bericht von dem ihm Widerfahrenen zu erstatten.
Den griechischen Namen
Dekapolis findet man in der Nachfolge Alexanders
als Bezeichnung für zehn Städte und das dazwischenliegende Land östlich
des Sees Genezareth, heute vorwiegend syrisches und jordanisches
Territorium, man findet ihn desgleichen im Spätmittelalter als
Zusammenschluss von zehn elsässischen Städten zur erfolgreicheren
Durchsetzung geforderter Rechte und Freiheiten gegenüber dem Kaiser.
Bei Handke handelt es sich freilich um ein literarisches Land, Allegorie
und Symbol, Zusammengesetztes und Übertragenes (wie im übrigen der
gesamte, vermutlich einiges autobiografische Material verschlüsselnde
Text) und nach eigenem Dafürhalten zu interpretieren, und vor allem zu
lesen. Unter anderem ein Land, wo ein jedes Geschöpf und Ding seinen
Platz zu haben scheint, das Kleinkindsein ebenso wie das gute Sterben,
wo alles es selbst sein darf und reichlich Raum für Fügungen vorhanden
ist:
"In der Folge gellte von jemand ein wiederholtes "Ich bin allein!",
das erste Mal ein Schluchzen, das zweite Mal ein Triumphgeheul."
(S. 76)
Der erste Tag an diesem Ort mit seiner eigenen tieferen Bedeutung, dem Zauber
des ersten Mals, gelangt ausführlich
zur Sprache, die Menschen, denen der Erzähler begegnet, ein einstiges
Zentrum namens kursi (arabisch: Thron, womit auch der Thronvers des Koran,
dem unter anderem eine hohe Schutzfunktion nachgesagt wird, deutlich
mitschwingt), die seltsamen an Sprichworte, Roman- und Liedertitel
gemahnenden Grüße, die man einander zuzurufen pflegt, Erfahrungen und
Entdeckungen des Erzählers wie eine weitere Bedeutung von Saumseligkeit,
der lohnende Verzicht auf Schatzsuche und vieles mehr erfüllen diesen
Tag, der mit einem Festmahl in gemeinschaftlicher Harmonie endet.
Indessen knüpft noch ein
kurzer dritter, eine Synthese
bildender Teil an, wo sich - Schuldgefühle und ein verstörender, sich selbst
zunächst nicht wiedererkennender Blick in den Spiegel in einem Traum von
seinem seinerzeitigen Friedhof leiten ihn ein - Widerständisches (mit
Endung "sch" und ganz ins Allgemeine, Prinzipielle
gehend) heftig zu Wort meldet, sein Anrecht als Teil seines Naturwesens, wie
es heißt, einfordert. Es erfolgt ein Loblied auf den Widerstand, den Luftschlösserbau und das Chaos als unerlässlich für eine ganzheitlich gesunde Seele
und ein echtes Werden - und an dieser Stelle sei auch auf den eingangs
der Geschichte zitierten Pindar, Schöpfer sakral getönter Siegeslieder
und nicht immer in Einklang mit den anderen Bürgern Thebens sowie auf
den nicht direkt zitierten Athener Platon,
welcher das Dämonische als Mittleres und Vermittelndes zwischen den
Menschen und der Götterwelt angesehen hat, hingewiesen.
Der Erzähler integriert seine so unterschiedlichen Wesensteile, nicht ohne dabei gegen
sich ausfällig zu werden (indem er eine einstige Empfehlung des Autors,
wie mit - einer behaupteten - Betroffenheit zu verfahren sei,
parafrasiert), und schließt Frieden
mit sich.
"Es war eine helle Nacht, und oben
auf dem auch wie eigens für den Traum vermehrten und
hochaufgeschossenen, inschriftlosen, inschriftlos gewordenen Grabsteinen
bildeten die schlafenden Vögel dort, in Zugvögeltausenden, eine
Skyline. Jubel stieg auf in mir; und Abenteuerlust." (S. 94)
Offensichtlich mehrdeutig schließlich die aus den letzten vier Worten
des Buches bestehende Frage: Einladung an die Leser,
Selbstvergewisserung, Aufforderung
zum Spiel, Kampfansage an gewisse
Teile der Öffentlichkeit ...
(fritz; 05/2021)
Peter
Handke: "Mein Tag im anderen Land"
Bibliothek Suhrkamp, 2021. 93 Seiten.
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