Gaito Gasdanow: "Schwarze Schwäne"

Erzählungen


Nachdem während der letzten zehn Jahre nach und nach seine Romane in deutscher Übersetzung erschienen sind, liegt mit "Schwarze Schwäne" nun auch erstmals ein Erzählband dieses bedeutenden russischen Schriftstellers auf, ausgewählt, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Rosemarie Tietze.

1903 in Sankt Petersburg geboren, kam Gaito Gasdanow in seiner Kindheit - der Vater war Beamter - ziemlich in dem großen Land herum, 1919 wurde er noch nicht sechzehnjährig in die Weiße Armee eingezogen, nach deren Niederlage im Russischen Bürgerkrieg per Schiff übers Schwarze Meer evakuiert. Nach Zwischenaufenthalten in der Türkei und Bulgarien gelangte er 1923 nach Paris, wo er die meiste Zeit seines Lebens verbrachte, mit Gelegenheitsarbeiten, vor allem Taxifahren, sein täglich Brot verdienend, daneben studierend und sich rege am Leben der diversen russischsprachigen Literaturzirkeln beteiligend - beispielsweise mit einem Vortrag über Céline und dessen 1932 erschienene "Reise ans Ende der Nacht". Früh auch begann Gasdanow selbst zu schreiben; schon die ersten Veröffentlichungen trugen ihm ein Lob Iwan Bunins ein, sein 1929/1930 erschienener Debut-Roman "Ein Abend mit Claire" einen Vergleich mit Wladimir Nabokow sowie den literarischen, allerdings nicht unbedingt finanziellen Durchbruch. Erst ab 1952 hatte er ein sicheres Einkommen, seit er als Kulturreporter für den US-Sender Radio Liberty zunächst in Paris, dann in München, wo er 1971 starb, tätig war.

Die Auswahl, welche der russischen Gesamtausgabe der Werke Gasdanows folgt, ist insofern stimmig, als die neun darin abgedruckten Geschichten viel gemeinsam haben: ihre ähnlich hohe literarische Qualität, Paris als Ort der Rahmenhandlung, ein mehr oder weniger distanzierter Ich-Erzähler, der Tod als unter verschiedenden Vorzeichen wiederkehrendes Motiv, außergewöhnliche Menschen als ein ebensolches, Russen im Exil als hauptsächliche Protagonisten und wichtige Nebenfiguren.

"Das Schicksal hatte sie in den albernen und grausamen Quatsch von Russlands Revolutionsschlachten hineingezogen, ihr eigentliches Bild aber blieb für mich ohne Fehl." (S. 27)

Die erste der chronologisch geordneten Erzählungen, "Genossin Brack" (1927 fertiggestellt) ist die einzige, die nicht ausdrücklich Paris als Ort der Erzählgegenwart nennt, auch diejenige, in welcher die Schrecken des Bürgerkriegs alleiniges Thema sind und noch recht frisch, pathetische Sätze wie der obige fallen sonst kaum. Es geht um das Schicksal einer bezaubernden Frau, die das Pech hatte, just in dieser Zeit der Wirrnisse zu leben, andernfalls vielleicht ein Alter in Armut, aber mit einiger Sicherheit ein glänzendes Leben davor gehabt hätte.
Ebenfalls nach Russland entführt "Der eiserne Lord", wo eine Unmenge Rosen in Les Halles eine Erinnerung an ein seltsames Nachbarsehepaar in der alten Heimat auslöst, sie hysterisch-theatralisch, er stoisch, und erst der Tod ihres titelgebenden Hundes Aufklärung über Zugrundeliegendes bringt.
"Hannah" wiederum, die längste der Geschichten, porträtiert eine faszinierende, eine gänzlich andere Seinsweise verkörpernde Kindheitsfreundin des Erzählers, weniger, weil sie Jüdin, sondern weil sie durch ihre intensive Beschäftigung mit Musik von einer besonderen Aura umgeben ist. Nach vielen Jahren des Exils, sie in Amerika, er in Paris, beginnen die beiden eine Briefkorrespondenz - es handelt sich bei "Hannah" um eine Liebesgeschichte und zugleich die einer entwurzelungsbedingten heillosen Entfremdung.

"Na, was ist, glauben Sie immer noch, Hochschulbildung sei etwas Zufälliges, ein Klacks?"
"Mehr denn je."
Pawlow zuckte die Schultern und lenkte das Gespräch auf ein anderes Thema. Er sagte nicht, dass er in der Zwischenzeit die Historisch-philologische Fakultät der Sorbonne absolviert hatte."
(S. 98)

So gut wie an allen Personen kann man Entwurzelung und Entfremdung als Distanz zum Geschehen, ein nicht zur Gänze Angekommensein, diagnostizieren, ob durch die fremdartige Seine-Metropole, die Kriegstraumata oder wie in der Titelgeschichte "Schwarze Schwäne" aus natürlicher Veranlagung. Kein Wunder, dass der Ich-Erzähler (Gasdanow sei übrigens, so Frau Tietze in ihrem Nachwort, ohne Überzeugung und Enthusiasmus, aus reiner Neugier an der conditio humana in den Krieg gezogen und hätte sich auch in Paris gegenüber der Politik und künstlerischen Moden schon als junger Mann als unabhängig erwiesen) einer der wenigen ist, mit denen Pawlow, der Held der Geschichte, ein Energiebündel, vorbildlicher Arbeiter, intelligent und von schonungsloser Ehrlichkeit, Umgang pflegt und Diskussionen führt. Als er dem Erzähler seinen baldigen Selbstmord aus purem Überdruss ankündigt und gefragt wird, ob es denn nichts Liebenswertes in seinem Leben gebe, offenbart er auch eine sehnsuchtsvolle Seite ...

"Hawaiigitarren" hat einmal den Ich-Erzähler selbst als Hauptperson und beschreibt einen besonderen, in ein gleichsam transzendentales Licht getauchten Zeitraum von ein paar Wochen, der von dem Hören eines von besagten Gitarren gespielten Liedes gerahmt wird (nicht nur die besonderen Menschen, auch die besonderen Augenblicke haben es Gasdanow angetan).
"Martin Raskolinos" erzählt von dem Fall eines ehemaligen Mönchs, den es just nach Paris verschlagen hat, was längere Zeit gut geht, fleißiger Arbeiter auch er und gefestigt in Christo, bis er beim Besuch einer Kinovorstellung der Stimme einer französischen Sängerin erliegt und, um diese zu gewinnen, beginnt, als weiser Ratgeber für zahlreiche Kunden aus der russischen Gemeinde Stunden zu geben.
"Der nächtliche Gefährte" ist die einzige Geschichte mit einem französischen Protagonisten, und zwar gleich mit einem hochrangigen Ex-Staatsmann (vermutlich an Clemenceau orientiert: "ein unbewegliches Schnurrbartgesicht, das ein für allemal den Ausdruck verhaltener Tobsucht angenommen hatte"; S. 207), der, hochbetagt, den Erzähler auf einer nächtlichen Parkbank kennenlernt und ihn, da kein Franzose und auch sonst keinen üblen Eindruck erweckend, bittet, ihn im Automobil an einen bestimmten Ort an der Côte d'Azur zu kutschieren.

Laut Rosemarie Tietze war der russische "General" oder "Fürst" (und offenbar erst recht Schriftsteller) hinter dem Steuer eines Taxis ein Alltagsmythos im Paris der Zwischenkriegszeit - bei Gasdanow verdienen die meisten Russen ihr täglich Brot mit harter körperlicher Arbeit. Reich geworden hingegen ist der Held aus "Die Befreiung" (ein recht zweischneidiger Titel), was seine Entfremdung allerdings erst unausweichlich macht. Einer der wenigen Menschen, an denen er hängt, ist sein junger Sekretär, und als dieser von einem antikommunistischen Artikel (das Wort Sowjetunion fällt in dem Erzählband übrigens kein einziges Mal) schwärmt, beweist er ihm innerhalb kurzer Zeit und mit einer geringen Summe (746 Francs), dass besagter Journalist genauso "engagiert" einen Text über die grundlegende Notwendigkeit von Revolutionen für Fortschritt und Weiterentwicklung der Menschheit zu schreiben imstande ist. Und auch auf weitere Experimente mit seinem überschüssigen Geld lässt er sich ein ...
Ein anderer zu Reichtum Gekommener ("Eine Seelenmesse", mit dem Erscheinungsdatum 1960 ein Nachzügler in dem Band, alles andere ist vor dem Krieg erschienen) geht ebenfalls ziemlich leichtfertig mit seinem Geld um. So ersteht er einmal das ihn faszinierende, teure Gemälde eines angeblich sehr bekannten Malers (besser als Repin!), der Erzähler erkennt es bei einem Besuch als "Die Entführung des Ganymed" von Rubens und sagt ihm nicht, dass es sich um eine Reproduktion handelt, wozu auch. Hauptthema dieser Geschichte ist freilich die Messe, ein Einbruch russischer Orthodoxie in die französische Wirklichkeit, die den Erzähler mit voller Wucht trifft, ihn in ihrer Verbindung der alttestamentarischen Worte mit der erhabenen liturgischen Chormusik Elend und Größe des menschlichen Seins verdichtet empfinden und - selbst der Schönheit verpflichtet - diese Erfahrung zu Papier bringen lässt.
"Und nachdem noch einige Zeit vergangen war, kam es mir allmählich vor, als wäre nichts dergleichen gewesen, als wäre es eine Vision gewesen, ein kurzzeitiger Einbruch der Ewigkeit in jene zufällige historische Wirklichkeit, in der wir lebten, fremde Wörter in einer fremden Sprache benutzten, nicht wussten, wohin wir gingen, und vergessen hatten, woher wir kamen."
(S. 257)

Andere, die keine so interessante Persönlichkeit haben, leicht Durchschaubare, werden mit wenigen Worten charakterisiert, und damit hat sich's, auch äußerlich bunte Hunde wie der Manager des Martin Raskolinos, der zwar alle möglichen Talente besäße, aber durch zwei Grundübel, Faulheit und Wollust, weit davon entfernt bleibt, diese zu entfalten. Diese Menschen bekommen bei Gasdanow zwar ebenfalls ihren bescheidenen Platz, aber immer in Zusammenhang mit dem beschriebenen, in eindringlichen Impressionen wiedergegebenen Milieu, den billigen Hotels, den armseligen Wohnungen in den Arbeitervierteln oder dem ruhelosen Paris der Tanzcafés:
"Viele Frauen mit bemalten Gesichtern, eine Mischung aus Anspannung und Verachtung in den Augen, trugen ihre Brüste, ihre Pelze an den Männern vorüber; sie schienen jene trüben Wolken verirrter Gefühle, die sich wie allzu schwere Gase auf dem Boden ausgebreitet hatten, aufzusaugen und zu verdichten."
(S. 38)
Erzählt wird immer aus merklicher zeitlicher Entfernung; Passagen mit Beobachtungen, Reflexionen und erinnerten Dialogen wechseln einander oft per Assoziation ab und gliedern Gasdanows noble, elegante Prosa. Einiges mag autobiografisch sein, manches erfunden, alles ist dabei einer höheren, künstlerischen Wahrheit verpflichtet. Für Ausschmückungen und Unterhaltung hat der Autor nichts übrig, sein Blick bleibt auf das Wesentliche konzentriert, schonungslos und distanziert, immer jedoch an seinem jeweiligen Gegenstand interessiert:
"... mich trieb eine irrsinnige Begierde, das Wesentliche, das Grundlegende an diesen beiden Existenzen zu erfassen - aber nicht, was sich in ein paar Sätzen schildern lässt, sondern das andere, das einer Erklärung und dem Verstehen Unzugängliche, das in unglaublicher Klarheit, in kurzem und blendendem Lichterglanz schlagartig vor mir erstehen würde. Aber das war unmöglich."
(S. 236)
Was möglich war, die erzählerische Annäherung, ist Gaito Gasdanow in seinem Bemühen, mittels der Literatur dem Leben das Kostbarste abzugewinnen, wohlgelungen.

(fritz; 07/2021)


Gaito Gasdanow: "Schwarze Schwäne. Erzählungen"
Aus dem Russischen und mit einem Nachwort von Rosemarie Tietze.
Hanser, 2021. 272 Seiten.
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