Iris Wolff: "Die Unschärfe der Welt"
Vielstimmiges Panorama
einer bewegten Zeit
"Die Unschärfe der Welt" zeichnet auf nur wenig mehr als zweihundert
Seiten ein ganzes Panorama des Zerfalls des Ostblocks und der zweiten
Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Es sind sieben eng miteinander
verschlungene Lebenswege, die dieses Panorama mehr als deutlich zu
spüren bekommen. Die 1977 in Hermannstadt (Sibiu) geborene Freiburger
Autorin Iris Wolff holt die Handlung in ein kleines Dorf im Banat. Erst
gegen Ende des Romans, nach der Wende, öffnen sich auch die Tore zur
Welt.
Gleich im ersten Abschnitt ist der Leser gefangen. Es ist kalt, seit
einer Woche schneit es, und Florentine muss auf einem Pferdewagen zum
Bahnhof und dann mit dem Zug in eine Klinik fahren, weil sie Blutungen
hat. Der Arzt, der sie behandelt, stellt nur eine Frage: Was hast du
genommen? Dabei wünscht sie sich nichts mehr als dieses Kind. Es ist
einfach berauschend, wie Iris Wolff mit wenigen Pinselstrichen und
feiner Prosa eine Stimmung der Entbehrung, der Kälte und der
Unterdrückung durch eine Staatsmacht zeichnet, ohne nichts davon direkt
anzusprechen. Florentine ist die Frau des Dorfpfarrers Hannes, beide
sind sie deutschsprachig und Teil der ansässigen Minderheit. Ihre
Familie ist der Ausgangspunkt für diesen facettenreichen Roman.
"Der Kutscher schwieg. Florentine bemerkte, dass er sie von der
Seite musterte, längst zur Kenntnis genommen hatte, wie sie die Hände
vor dem Bauch kreuzte und sich abstützte, wenn sie über holprige
Stellen fuhren. Er lenkte das Pferd mitten auf die Straße, drosselte
das Tempo in den Kurven - er hatte verstanden, worum es ging. Seine
Augen zwischen Mantel und Fellmütze waren das Einzige, was sie sehen
konnte. Weder sein Alter war zu bestimmen, noch ob sein Gesicht schön
war oder ob es etwas von der Grobheit seiner Hände hatte. Florentine
war ihm dankbar." (S. 13)
Es sind sieben Kapitel oder Abschnitte, die jeweils eine neue Geschichte
erzählen. Und es sind sieben Protagonisten, die jeweils im Mittelpunkt
stehen. Nichtsdestotrotz ist alles miteinander verbunden, die Zeit
vergeht, die Menschen werden älter, die politischen Verhältnisse ändern
sich, den Eisernen Vorhang gibt es am Ende nicht mehr. Und doch kann
nichts ungeschehen gemacht werden. Die Geschichte geht ihren eigenen Weg
und nimmt getroffene Entscheidungen so an, wie sie getroffen werden. Aus
Kindern werden Erwachsene, Eltern sterben, jede Generation hat einen
Rucksack zu schleppen.
"Nach dem Schlusssegen wurden die Kirchgänger am Portal
verabschiedet. Sana sah, dass nur ihre Mutter dem Pfarrer die Hand
gab. Jetzt würde wieder eine Zeit kommen, in der die Whist-Abende
aussetzten. Eine Zeit, in der die Leute zwar keinen Bogen um ihren
Vater machten, aber doch in sicherem Abstand blieben, Tage, Wochen, in
denen Malva Florentine heimlich traf, bis irgendwann so viel Zeit
vergangen war, dass gegenseitige Besuche erneut möglichen waren."
(S. 105)
Im ersten Abschnitt, in dem auch Samuel zur Welt kommt, lässt Hannes
zwei ostdeutsche Lehrer bei ihnen wohnen, die eine Zeit lang bleiben,
bevor sie weiterreisen wollen. Hannes und Florentine haben wenig Ahnung
davon, wie diese Entscheidung ihr Leben später verändern wird. In einem
Land, in dem die "Securitate" (anonymen) Hinweisen mehr Vertrauen
schenkt als der Wahrheit, wo Denunziantentum und Selbstbereicherung der
Exekutive bestimmend sind, ist niemand sicher. Dennoch ist dieser Roman
keine Abrechnung mit dem System, kein Gut gegen Böse, sondern ein
grandios gezeichnetes Bild des Banats, in dem so viele Religionen,
Sprachen und Systeme existiert haben. Es geht der Autorin auch nicht
darum, neue Facetten
des Ceausescu-Regimes zu präsentieren, sondern schlicht und
einfach um ihre Figuren, denen sie mit viel Liebe auch viel zumutet.
Im nächsten Abschnitt steht die Beerdigung des Sohnes der Nachbarn Ruth
und Severin im Mittelpunkt, der von einem den Fluss abwärts treibenden
Baum am Kopf getroffen wurde. Dann lernt der Leser den Nachbarn
Konstanty kennen, der seine Frau und Tochter Stana schlägt, die in
Samuels weiterem Leben eine immens wichtige Rolle spielen wird. Ebenso
evangelisch sind die ansässigen Slowaken, deren Tochter Hannes getauft
hat. Konstanty ist ein Ceausescu-Scherge. Eine Tatsache, die den Lehrer
der beiden Freunde Stana und Samuel beide sehr unterschiedlich behandeln
lässt. Während Stanas Leistung nie beanstandet wird, egal wie schlecht
sie ist, muss Samuel trotz guter Leistung den Hass des Lehrers auf die
deutsche Minderheit ertragen. Konstanty bespitzelt das ihm verhasste
Pfarrhaus und wird Hannes später im Roman denunzieren. Und Samuel flieht
mit seinem Freund Oz in einer maroden Propellermaschine nach Österreich,
was natürlich auch nicht ohne Folgen bleibt. Im letzten Abschnitt sorgt
die Einführung Livias für einen weiteren spannenden Abschnitt, der den
Leser am Ende staunend zurücklässt.
"Der Flug war ruhiger geworden. Unter ihnen Felder, der Schatten der
Propellermaschine. Ein zweiter, lautloser Schatten. Dann verdeckten
Wolken den Mond, und beide Schatten
verschwanden. Samuel hob die Hand. Das war das Zeichen. Jetzt mussten
sie über die Grenze fliegen, eine Linie, die ihr Leben bestimmt hatte.
Sie war so allumfassend, die Welt war dort zu unumstößlich zu Ende
gewesen, dass es nicht überrascht hätte, wäre sie als Strich durch die
Landschaft gegangen, um das eine von dem anderen Land zu
unterscheiden." (S. 136)
Es sind feine, großflächige und epische Tableaus, die Iris Wolff in
diesen Roman gepackt hat. Sieben eigenständige, doch eng verbundene
Geschichten, von denen keine weniger wichtig ist als die andere. Von
tiefstem Ostblock zu Beginn bis hin zur Umarmung des Westens, als man
bereits frei ins Ausland reisen kann, westliche Gebrauchsartikel wie die
Mikrowelle als Symbole für die neu errungene Freiheit herhalten. Iris
Wolffs Figuren leben in jedem Satz, auf jeder Seite und nehmen den Leser
in allen Situationen ins Geschehen mit. Ob es die Fahrt mit der Kutsche
oder der Flug in der Propellermaschine oder auch das Verhör von Hannes
ist. Während die hier erzählte Geschichte bereits beeindruckend ist,
hebt Iris Wolffs Prosa diesen Roman in die höchsten literarischen
Ebenen. Immer wieder ist man gezwungen, Sätze erneut zu lesen,
Abschnitte neu zu lesen, da man bemerkt, wie doppelbödig Wolffs Sprache
an einer Stelle war und diese dadurch in ganz anderem Licht erscheinen
lässt. Wolff vermittelt dem Leser das, was sie will, in dem sie ihn dazu
verführt, durch genaues Lesen zu verstehen. Ohne dass sie es ihm direkt
sagen müsste. Und das ist wahre, literarische Größe.
"Die Unschärfe der Welt" ist sicherlich einer der schönsten,
mitreißendsten und feinsten Romane dieses Büchersommers, ja gar dieses
Jahres. Man kann nur hoffen, dass die Jury des "Deutschen Buchpreises"
das auch richtig zu würdigen weiß.
(Roland Freisitzer; 08/2020)
Iris Wolff: "Die Unschärfe der Welt"
Klett-Cotta, 2020. 213 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Digitalbuch bei amazon.de bestellen
Iris Wolff wurde 1977 in Hermannstadt, Siebenbürgen, geboren. Für ihre Romane wurde sie bereits mehrfach ausgezeichnet, unter Anderem mit dem "Ernst-Habermann-Preis", dem Literaturpreis "ALPHA" und dem "Otto-Stoessl-Preis". Anno 2019 erhielt sie außerdem den "Thaddäus-Troll-Preis", war für den "Alfred-Döblin-Preis" nominiert und wurde mit dem "Marieluise-Fleißer-Preis" für ihr Gesamtwerk geehrt. Zuletzt erschien 2017 der Roman "So tun, als ob es regnet". Iris Wolff ist Mitglied im internationalen "Exil-PEN". Sie lebt in Freiburg im Breisgau.