Christina Viragh: "Im April"
Es ist eine erfreuliche
Sache, dass der "Dörlemann Verlag" diesen bereits 2006 im (leider nicht
mehr existierenden) "Ammann Verlag" erschienenen Roman der 1953 in
Budapest geborenen Schriftstellerin Christina Viragh neu
herausgebracht hat. Zum damaligen Zeitpunkt war er Christina Viraghs
fünfter Roman.
Im Mittelpunkt dieses außergewöhnlichen Werks steht ausnahmsweise kein
Protagonist, sondern eine Wiese. Eine Wiese, die an einem bestimmten
Abend im April in vier Zeitebenen zwischen 1415 und dem Beginn des 21.
Jahrhunderts Schauplatz dieser Geschichte ist. Es handelt sich auch
nicht um einen sechs Jahrhunderte umfassenden Familienroman, sondern um
den Versuch, literarisch zu erforschen, inwieweit ein Ort jene Menschen,
die dort ihren Lebensmittelpunkt haben werden oder die zumindest ein
Ereignis mit diesem Ort verbindet, beeinflussen und prägen kann.
Im 15. Jahrhundert ist dieser Ort eine Art Kultstätte und Schauplatz
unzähliger grausamer Morde. In den Zwanzigerjahren des 19. Jahrhunderts
steht dort ein Bauernhaus. In diesem lebt der Bauer und Alkoholiker
Schacher mit seiner Familie. In den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts
lebt dort ein aus Ungarn geflüchteter Vater mit seiner Tochter. Ferenc,
der Vater, ist noch geprägt vom kommunistischen System, fühlt sich nicht
wirklich wohl, und die Tochter fürchtet sich vor der Polizei und vor
einem Krieg. Dann ist da noch die Gegenwart, am Beginn des 21.
Jahrhunderts. Das Mietshaus steht noch da, und in jener Wohnung, in der
Ferenc und Mari gelebt haben, wohnen jetzt Selena und Heinz. Auch dieses
Paar scheint hier nicht glücklich werden zu können, doch liegt das
wirklich am Schauplatz? Ein Ort, wo noch immer verhältnismäßig oft
gestorben wird.
Die sicherlich schönste Geschichte der vier ineinander aber fast nicht
miteinander verwobenen Geschichten ist die des ungarischen Mädchens.
Vielleicht, weil es doch eine Art autobiografische Erzählung ist?
Gekonnt verästelt sind die Erzählstränge, die in rascher Folge
aufeinandertreffen. Christina Viragh wechselt virtuos zwischen den
Jahrhunderten hin und her, schreibt einmal da weiter, dann wieder dort.
Schön durchbrochen sind die Abfolgen, sodass sich keine langweilige
Regelmäßigkeit einstellt. Dadurch baut die Autorin starke Spannung auf,
auch wenn diese eine andere als eine vordergründige ist. Immer wieder
denkt man, dass man bei einer Figur oder einem Erzählstrang dran ist,
nur um dann von der Autorin in ein anderes Jahrhundert katapultiert zu
werden. Das ist literarisch höchst beglückend, auch wenn es dem Leser
viel Konzentration abverlangt.
Der Ort, diese Wiese, sieht zuerst eine Reitergruppe ankommen, die eine
Stange zum Gedenken an einen Ermordeten in den Boden rammt. Einer der
Reiter meint, dass man doch hier nach dem vermeintlichen Gold
des Ermordeten suchen müsste, wodurch er sich zum Gespött der anderen
Reiter macht. Allerdings ist, schon allein, weil das Lachen der Kollegen
doch recht gezwungen klingt, klar, dass der Samen gesät ist, schon bald
glauben alle, dass da vielleicht etwas verborgen ist. Allerdings wird
auch darüber gemunkelt, dass hier Kinderskelette vergraben sein könnten.
Jahrhunderte später stehen hier ein Bauernhaus, zwei Mietshäuser und,
schräg dem Bauernhaus der Schachers gegenüber, die Weidersche Villa.
Einige Jahrzehnte später verstellt dann ein Neubau die direkte Sicht von
der Villa auf das Bauernhaus, was bewirkt, dass der alte Villenbesitzer
mit seinem im Dachstock montierten Fernrohr weder das Bauernhaus noch
die Wiese direkt überblicken kann. Die Schreibtischlampe Maris steht
genau an der Stelle und ist auch genau auf der Höhe der im 15.
Jahrhundert in den Boden gerammten Stange. Jahre später wohnen dann hier
Selena und Heinz Zumwald, die scheinbar auch kein Glück gefunden haben.
Auf der Wiese scheint ein Fluch zu liegen. Die Schacher Mutter bricht
dort tot zusammen, Menschen verschwinden, und vor Jahrhunderten wartete
man an dieser Stelle gar auf den Antichristen, in den Sechzigern bringen
sich am selben Tag der junge und der alte Schacher am Hof um. In der
Jetztzeit will man herausgefunden haben, dass der Ort eine Kultstätte
gewesen sei. Mari fürchtet sich vor dem KGB, und Selena leidet
Jahrzehnte später unter der schlechten Ausstrahlung des Mietshauses, das
sie regelrecht krank macht. Einer fühlt sich allerdings von einem
Doppelgänger verfolgt und hat wieder ganz andere Probleme als seine
Frau, wodurch die beiden aneinander vorbeileben. Menschen gehen und
kommen. Die Menschen vertrauen einander nicht. Bespitzeln, verfolgen und
beobachten einander, hinterlassen ihre Spuren und wirken mit der Wiese
ungut aufeinander ein, sodass die verhängnisvoll bösartige Stimmung, die
an diesem Ort herrscht, wie von Menschenhand und Natur geschaffen zu
sein scheint.
Christina Viragh schabt so die verschiedenen Erzählstrange unter den
verborgenen Schichten auf, blendet einmal hier ein, dann wieder dort.
Fast wie ein Palimpsest wirkt der Roman. Das ist sprachlich und
strukturmäßig großartig gelöst, wodurch dieser Roman zu einem
einzigartigen Erlebnis wird, in dem die verschiedenen Geschichten
miteinander verbunden zu einem riesigen Schneeball werden, der
letztendlich dann die Lawine lostritt.
(Roland Freisitzer; 05/2020)
Christina
Viragh: "Im April"
Mit einem Nachwort von
Péter Nádas.
Dörlemann, 2020. 376 Seiten. Neuausgabe.
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