Manuel Vilas: "Die Reise nach Ordesa"


Besessenheit von den toten Eltern, deren Apotheose und Nöte der unteren spanischen Mittelschicht

Manuel Vilas Vidal wurde 1962 in der Kleinstadt Barbastro in der nordostspanischen Provinz Huesca geboren, hat mehr als zwanzig Jahre lang als Spanischlehrer gearbeitet, immer wieder Artikel für Zeitungen und Zeitschriften verfasst und ist vor allem als Dichter, aber auch als Romancier und Autor von Kurzprosa in Erscheinung getreten. Der Roman "Die Reise nach Ordesa", erschienen 2018 in Madrid, ist sein bislang größter Erfolg; man muss bis zu "Mein Herz so weiß" von Javier Marías zurückgehen, um einen in seinem Erscheinungsjahr in Spanien erfolgreicheren zu finden.

Wer zu Depressionen neigt oder Morbidität scheut, sollte besser von dem Buche lassen, denn das Geschriebene, die weitgehend gleichbleibende durchwegs molltonhafte Grundstimmung des Erzählers könnte solche Eindrücke nähren.
Seit kurzem ist Manuel Vilas, wie der Erzähler - klassisches alter ego des Autors - heißt, geschieden und in eine kleinere Wohnung umgezogen, die beiden Söhne besuchen ihn selten und widerwillig, der Tod der Mutter liegt ebenfalls erst ein Jahr zurück, der des Vaters ein gutes Jahrzehnt. Alleingelassen verfällt Manuel der starken Obsession, sich mit Leben und Tod der Verstorbenen, mit welchen die Kommunikation zeitlebens eher bescheiden verlaufen ist, zu beschäftigen, einige Erinnerungen, dazu wenige übriggebliebene Fotos, vor allem aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren (die übrigens auch in dem Buch zu besehen sind) wiederauszugraben, dabei neue Dinge zu sehen, indem er, wie es heißt, alte Szenen sieht, als wären sie neu.

Der Vater: mit starker Vorliebe für die Marke Seat (das erste Foto ist das seines ersten Autos), elegante Kleidung und frische Geldscheine, leidenschaftlicher Kartenspieler, nie um Geld, sondern, wie der Sohn meint, aus Freude am Zufall, später dann mit einem Faible für das vom Sohn gehasste Ratequiz "un dos tres, responda otra vez", hernach für Kochsendungen ("Wenn er fernsah, ging das Leben weiter."; S. 350), auch dies zum Leidwesen des sich insgeheim missachtet fühlenden Sohnes, beim gemeinsamen Flipperspiel hingegen: "Ich glaube, das waren die innigsten Momente, die es je zwischen uns gab, als wir Flipper spielten." (S. 271) ...
Die Mutter: dazumal vom Sohn wenig beachtet, weitgehend ohne einen Sinn für Vergangenheit (da sie nicht einmal Franco zu kennen scheint, wird sie zärtlich als Punk bezeichnet), ständig Dinge (auch Anderen gehörende) zerbrechend oder wegwerfend, Unangenehmes und solches, wovon sie glaubt, es könnte sich für sie als schädlich erweisen, einfach verschweigend (dadurch dem Sohn sehr ähnlich), glücksspiel- und olivenölliebend, von gesellschaftlichem Aufstieg und Julio Iglesias träumend, Pionierin des Sonnenbadens, "eine seit der Steinzeit immer und immer wieder geborene Göttin" (S. 307), in anderen Bereichen von beeindruckender Gleichgültigkeit als einer anderen Form von Verstand, einem Sinn für die umfassende Bedeutungslosigkeit aller Dinge, wie ihr Sohn in Anlehnung an Camus formuliert ...
"Ich habe sie bereits zu Musik gemacht, weil unsere Toten sich in Musik und Schönheit verwandeln sollten." (S. 233) Demzufolge nennt Manuel seine Eltern in der zweiten Buchhälfte meist nach zwei berühmten Komponisten, den stilvollen Vater "Johann Sebastian", die barbarische Mutter "Wagner", deutet bei ihrer Beschreibung Unschmeichelhaftes nur zart an, zelebriert die elterliche Schrulligkeit und Originalität (zum Beispiel ihre völlige und im katholischen Spanien sehr seltene, nicht mit Atheismus zu verwechselnde Areligiosität), verherrlicht sie geradezu in dieser sehr speziellen Hommage, die der Roman auch und vor allem ist.

Wenigen weiteren auserwählten Verwandten, solchen, mit denen Manuel zumindest hin und wieder in Kontakt gekommen ist, wird eines der 157 Kurzkapitel des Romans gewidmet. Andere dieser kleinen lyrischen Essays handeln von Eltern an sich (die man erst kennenlernt, wenn sie schon Eltern sind, und an denen wir vieles als selbstverständlich annehmen), Krematorien, dem unbekannten Aussehen der Teresa von Avila, dem Leben der Alten, der Schönheit des Mülls, von Alkoholabhängigkeit, dem Tod einer Beziehung als dem Tod einer gemeinsamen Geheimsprache, Schülern aus der Unterschicht und manchem mehr.
Die allermeisten Personen werden mit der Beharrlichkeit der immergleichen Bezeichnung der unteren Mittelschicht zugeordnet, und dieser wiederum - von finanzieller Benachteiligung bis zu den Eigentümlichkeiten ihrer Sozialstruktur - tendenziell eine Opferrolle; beschrieben werden Menschen mit Kultur (im Sinne von Stil, Kochkunst, instinktiven Werten, unkompliziertem Lebensgenuss  etc.), aber wenig bis keiner Hochkultur, schwach ausgeprägter Reflexionstätigkeit in ihrem meist vergeblichen gesellschaftlichen Aufwärtsstreben.

Ordesa ist der Name eines Nationalparks in den Pyrenäen, in welchen Manuel einst mit seinen Eltern gefahren, dort zum ersten Mal des Fänomens Leben innegeworden ist und zugleich gespürt hat, wie sich angesichts der Herrlichkeit dieser Landschaft mit dem gewaltigen, seit dem Tertiär nahezu unveränderten monte perdido ("Verlorener Berg") der Wahnsinn des Lebens, das heißt des Alltagslebens, auflöste. Als er auf diesen Spuren fast fünfzig Jahre später mit seinen beiden Söhnen ebendorthin fährt, mischt sich die Erinnerung natürlich mit anderen Empfindungen; dass für sie in dem einst aufgesuchten Hotel kein Zimmer frei ist, lässt ihn gar das Wort vom Beweis der Nichtexistenz Gottes in den Mund nehmen.

Pathetische, wenn auch in ihrer Apodiktik zweifelhafte Aussagen sind überhaupt ein Kennzeichen von "Die Reise nach Ordesa". Ein paar Kostproben:

Psychologisch:
"Das größte Geheimnis eines Mannes ist das Leben jenes anderen Mannes, der ihn in die Welt gebracht hat." (S. 90)
"Dass einen jemand irgendwo erwartet, ist der einzige Sinn des Lebens und das einzige Ziel." (S. 250)
"Über den Schmerz, die Leere, den Mangel an Sinnhaftigkeit wird man gleichgültig." (S. 315)
"In der Vergangenheit gibt es keine Entfremdung." (S. 28)
"Wenn wir ein Foto von Jesus Christus hätten, würden wir wieder an die Auferstehung der Toten glauben." (S. 128)
"Das eigene Leben für jemanden zu opfern ist in keinem Kodex der Natur vorgesehen." (S. 215)

Gesellschaftlich:
"Wenn ich alle Küchen dieser Welt streichle, streichle ich Millionen versklavter Frauen, deren Namen ausgelöscht wurden und jetzt Musik sind." (S. 234)
"Das Geld ist die Sprache Gottes." (S. 79)
"Mögen diese Lackaffen, die behaupten, dass Geld nicht glücklich mache, vom Elend heimgesucht werden." (S. 253)
"Die lebenslangen Ehen sind vielleicht eine Erfindung des kirchlichen Kapitalismus." (S. 359)
"Wir beide sind Opfer Spaniens und der Sehnsucht nach Wohlstand; materieller Wohlstand oder intellektueller Wohlstand, das ist dasselbe." (S. 334)

Und über Spanien:
"Der große Feind Gottes in Spanien war nicht die Kommunistische Partei, sondern die katholische Kirche." (S. 196)
"Madrid ist wie das Herz einer Bestie." (S. 37)
"Wenn alle anderen Spanier tot sind, wird der letzte Spanier glücklich sein." (S. 212)
"Die Gewichtigkeit Spaniens misst sich an zwei Fußballclubs." (S. 73)
"Die beiden Gespenster gehen weiter, eingedenk der vermeintlichen Ordnung der spanischen Demokratie, die nicht hilft, in Frieden zu sterben." (S. 46; bei den Hand in Hand einherschreitenden Spukgestalten handelt es sich um Königin Letizia und Juan Goytisolo, Ritter von der traurigen Nase, anlässlich der Vergabe des Premio Cervantes 2015)

In solchen gewagten, meist mit dem Duktus der Letztgültigkeit daherkommenden Sätzen gipfelnd, im übrigen assoziativ zwischen Erinnerung, Empfindung und Reflexion pendelnd und solcherart stark lyrisch geprägt präsentiert sich die Sprache des Romans - den nicht unstimmig elf Gedichte beschließen.

Als weiterer wichtiger Antrieb für das Buch neben der späten Trauer um die Verstorbenen, um das, was sie waren und was nicht, diente dem Autor wohl die Funktion von Schmerz und Leid als Mittel zur Bewusstseinserweiterung. Diese Durchdringung der Beschreibung von geistig-gesellschaftlicher Misere und zärtlicher Apotheose wird zu dem besonderen Romanerfolg erheblich beigetragen haben, viele Leser werden in dem Text vermutlich etwas von sich und ihren Ahnen wiederentdeckt, durch diese Art der Beschreibung gewissermaßen erlöst (oder weniger katholisch: gereinigt) und sich selbst zu einem sensibleren Leben angeregt gefühlt haben.
Im 157. Kapitel begibt sich Manuel Vilas schließlich in den Herbst 1961, feiert nach aller Morbidität und Obsession und trotz allem Nihilismus und Materialismus die Nacht seiner eigenen Zeugung (wenn auch begreiflicherweise nicht ganz so orgiastisch wie Harry Mulisch in "Die Prozedur") und somit doch ein Fest des Lebens.

(fritz; 08/2020)


Manuel Vilas: "Die Reise nach Ordesa"
(Originaltitel "Ordesa")
Übersetzt von Astrid Roth.
Berlin Verlag, 2020. 416 Seiten.
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Leseprobe:

"(...) 2

Nach meiner Scheidung (sie war vor einem Jahr, sie wird zwar offiziell und durch richterlichen Beschluss an einem konkreten Datum festgemacht, aber eigentlich ist sie eine unbestimmte Zeit, ein Prozess; auf jeden Fall geht es dabei um mehr als nur ein bedeutsames Datum: Es geht um das erste Mal, dass man daran denkt, das zweite Mal, die Häufung der Male, die man daran denkt, die Zunahme von Vorfällen voller Meinungsverschiedenheiten und Streit und Traurigkeit, die das stützen, was man denkt, und schließlich geht es um den Auszug aus der Wohnung, und dieser Auszug beschleunigt unter Umständen eine Vielzahl von Ereignissen, die zu einem Gerichtsentscheid führen, der aus juristischer Sicht das Ende zu bedeuten scheint; die juristische Sicht gibt Halt am Abgrund, sie ist wie eine Wissenschaft, insofern wir einer Wissenschaft bedürfen, die ordnet und versichert) wurde ich zu dem Mann, der ich bereits viele Jahre zuvor gewesen war, das heißt, ich musste einen Wischmopp und einen Besen kaufen und Putzmittel, viele Putzmittel.

Der Hausmeister des Mehrfamilienhauses stand in der Tür. Wir unterhielten uns ein wenig. Es ging um ein Fußballspiel. Auch ich denke an das Leben der anderen. Der Hausmeister sieht orientalisch aus, aber er stammt aus Ecuador. Er ist schon lange in Spanien, er erinnert sich nicht an Ecuador. Ich weiß, dass er mich eigentlich um meine Wohnung beneidet. So schlecht es einem auch im Leben gehen mag, es gibt immer jemanden, der einen beneidet. Das ist eine Art kosmischer Sarkasmus.

Mein Sohn half mir, die Wohnung zu putzen. Es hatte sich eine Menge Papierkram angehäuft, alles war voller Staub. Man kennt das, man nimmt ein Kuvert in die Hand und bemerkt auf den Fingerkuppen dieses unangenehme Gefühl von Staub, fast wie von Erde.

Es fanden sich vergilbte alte Liebesbriefe, jugendlich-unschuldige, zärtliche Briefe, die Briefe der Mutter meines Sohnes, die meine Frau gewesen war. Ich sagte zu meinem Sohn, er solle sie in die Kiste mit den Andenken legen. Wir legten auch die Fotos meines Vaters dort hinein, ebenso ein Portemonnaie meiner Mutter. Eine Art Friedhof der Erinnerung. Ich wollte und ich konnte den Blick nicht von diesen Dingen abwenden. Ich berührte sie voller Liebe und voller Schmerz.

Du weißt nicht, was du mit alldem machen sollst, oder?, fragte mich mein Sohn.

Es gibt auch noch anderes, Rechnungen und vielleicht Wichtiges wie Versicherungsunterlagen und Briefe von der Bank, sagte ich.

Die Banken verstopfen einem den Briefkasten mit frustrierenden Briefen. Jede Menge Kontoauszüge. Briefe von der Bank machen mich nervös. Sie sagen einem, wer man ist. Sie veranlassen einen, über die eigene Bedeutungslosigkeit in der Welt nachzudenken.

Ich sah mir die Kontoauszüge an.

Warum stellst du die Klimaanlage so hoch?, fragte er mich.

Die Hitze macht mir Angst, mein Vater hatte das auch. Erinnerst du dich an deinen Großvater?

Das ist eine unangenehme Frage, weil mein Sohn denkt, dass ich mit solchen Fragen versuche, Punkte bei ihm zu machen, um besser von ihm behandelt zu werden.

Mein Sohn ist lösungsorientiert und packt mit an. Er hat mir sehr geholfen, meine Wohnung in Ordnung zu bringen.

Plötzlich schien mir meine Wohnung nicht das Geld wert zu sein, das ich für sie bezahle. Ich vermute, diese Gewissheit sagt am meisten über die Reife des menschlichen Verstandes unter dem Joch des Kapitalismus aus. Aber dank des Kapitalismus habe ich eine Wohnung.

Ich dachte wie immer an den wirtschaftlichen Ruin. Das Leben eines Menschen ist im Wesentlichen der Versuch, sich nicht wirtschaftlich zu ruinieren. Egal, womit er sein Geld verdient, das wäre das große Scheitern. Wenn man seine Kinder nicht ernähren kann, verliert man in unserer Gesellschaft jede Existenzberechtigung.

Niemand weiß, ob ein Leben ohne die anderen möglich ist. Einzig und allein das Ansehen bei den anderen versichert einen der eigenen Existenz. Das Ansehen macht eine Stimmung offenbar, es ist der Gradmesser, wie man bewertet und beurteilt wird, und aus diesem Urteil ergibt sich die eigene Position in der Welt. Es ist ein Kampf zwischen einem Körper, dem eigenen, lebendigen Körper, und dem Wert des eigenen Körpers für die anderen. Wenn die Leute einen begehren, die eigene Anwesenheit begehren, wird es einem gut gehen.

Der Tod jedoch 'dieser verrückte Psychopath' hebt durch den Verfall des Fleisches, der sich über den Tod hinaus fortsetzt, sämtliche gesellschaftlichen und moralischen Werte auf. Es wird viel über den politischen und moralischen Werteverfall gesprochen und sehr wenig über den körperlichen Verfall, der nach dem Tod eintritt: die Entzündung, die Explosion von ekelerregenden Gasen und die Verwandlung des Leichnams in Gestank.

Mein Vater sprach sehr wenig über seine Mutter. Er erinnerte sich lediglich daran, wie gut sie kochte. Meine Großmutter verließ Barbastro Ende der Sechzigerjahre und kehrte nie wieder zurück. Das muss 1969 gewesen sein. Ihre Tochter nahm sie mit.

Ich wurde in Barbastro geboren und wuchs dort auf. Als ich geboren wurde, lebten zehntausend Menschen in dem Städtchen. Jetzt sind es siebzehntausend. Allein das zeigt das Potenzial des Ortes hinsichtlich einer kosmischen und persönlichen Bestimmung.

In der Antike wurde dieser Wunsch, das Ungestaltete in Gestalt zu verwandeln, 'Allegorie' genannt. Weil sich für fast alle Menschen die Vergangenheit wie eine Romanfigur verdichtet.

Ich erinnere mich an ein Foto meines Vaters aus den Fünfzigerjahren, auf dem er in seinem Seat 600 zu sehen ist. Man kann ihn kaum erkennen, aber er ist es. Es ist ein seltsames Foto, typisch für diese Zeit, mit wie neuen Straßen. Im Hintergrund stehen ein Renault Ondine und eine Gruppe Frauen von hinten, mit Handtaschen, Frauen, die inzwischen wohl tot oder sehr alt sind. Ich kann den Kopf meines Vaters in dem Seat 600 mit einem Kennzeichen aus Barcelona ausmachen. Er hat nie erzählt, dass sein erster Seat 600 ein Kennzeichen aus Barcelona hatte. Auf dem Foto ist es weder Sommer noch Winter. Gemäß der Kleidung der Frauen könnte es Ende September oder Anfang Mai sein.

Über den Verlust all der Dinge, die es einmal gab, ist fast alles gesagt. Erzählen möchte ich allerdings davon, wie fasziniert ich von diesem Auto war, von diesem Seat 600, der für Millionen Spanier Anlass zur Freude war, der Anlass zu gottloser und materieller Hoffnung war, der Anlass war, an die Zukunft der eigenen Autos zu glauben, der Anlass zum Reisen war, der Anlass war, andere Orte und andere Städte kennenzulernen, der Anlass war, über das Labyrinthische der Geografie und der Wege nachzudenken, der Anlass war, an Flüsse und Strände zu fahren, der Anlass war, sich in einer Kammer einzuschließen, die einen von der Welt trennte.

Das Kennzeichen weist auf Barcelona hin, die Nummer ist eine vergessene Zahl: 186 025. Etwas wird irgendwo von diesem Kennzeichen bleiben, und daran zu denken ist, wie zu glauben.

An Format sollte es uns niemals fehlen. Mein Vater machte für Spanien, was er konnte: Er fand Arbeit, arbeitete, gründete eine Familie und starb.

Es gibt wenige Alternativen dazu.

Die Familie ist eine Form bestätigten Glücks. Menschen, die sich entscheiden, alleine zu bleiben, sterben früher, so die Statistik. Niemand möchte früher sterben. Weil zu sterben nicht lustig ist, es hat auch etwas Altertümliches. Todessehnsucht ist ein Anachronismus. Und das haben wir erst kürzlich herausgefunden. Eine der neuesten Entdeckungen der westlichen Kultur ist: Es ist besser, nicht zu sterben.

Komme, was wolle, lieber nicht sterben, vor allem aus einem ganz einfachen Grund nicht: Es ist nicht erforderlich. Es ist nicht erforderlich zu sterben. Früher dachte man das, man dachte, es wäre erforderlich zu sterben.

Früher war das Leben weniger wert. Jetzt ist es mehr wert. Die heutigen Reichen, der materielle Überfluss führen dazu, dass das einstmalige Lumpenproletariat (jene, denen es vor Jahrzehnten egal war, ob sie lebten oder starben) das Leben liebt.

Die spanische Mittelschicht der Fünfziger- und Sechzigerjahre vererbte ihren Sprösslingen hochtrabende Ideen.

Ich weiß noch nicht einmal, in welchem Jahr meine Großmutter starb. Vielleicht war es 1992 oder 1993, oder 1999 oder 2001 oder 1996 oder 2000, so ungefähr. Meine Tante rief an, um uns über den Tod der Mutter meines Vaters zu informieren. Mein Vater sprach nicht mit seiner Schwester. Sie hinterließ eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Ich hörte die Nachricht ab. Sie sagte, sie würden sich zwar nicht gut verstehen, hätten aber dieselbe Mutter. Sie meinte: Weil sie dieselbe Mutter hätten, wäre das ein Grund, aufeinander zuzugehen. Ich hielt nachdenklich inne, als ich die Nachricht abgehört hatte; in die Wohnung meiner Eltern drang immer derart viel Licht, dass die Tatsachen ihre Konturen verloren, das Licht ist machtvoller als das menschliche Tun.

Mein Vater setzte sich in seinen Sessel. Einen gelben Sessel. Er würde nicht zu der Beerdigung fahren, das stand für ihn fest. Sie war in einer weit entfernten Stadt gestorben, an die fünfhundert Kilometer von Barbastro entfernt, an die fünfhundert Kilometer von dort entfernt, wo mein Vater in diesem Moment die Nachricht vom Tod seiner Mutter erhalten hatte. Er fuhr einfach nicht. Er hatte keine Lust zu fahren. So weit Auto zu fahren. Oder stundenlang in einem Bus zu sitzen. Und sich diesen Bus raussuchen zu müssen.

Dieser Umstand hatte einen Sturzbach anderer Umstände zur Folge. Ich will nicht bewerten, was passierte, sondern es erzählen oder es sagen oder es feiern. Die Moral der Umstände ist immer ein Konstrukt der Kultur. Die Umstände an sich sind unbestreitbar. Die Umstände sind, wie sie sind, ihre Interpretation ist politisch.

Mein Vater fuhr nicht zur Beerdigung meiner Großmutter. Welche Beziehung hatte er zu seiner Mutter? Er hatte gar keine Beziehung zu ihr. Natürlich hatten sie zu Anfang eine, klar, so um 1935 oder 1940, keine Ahnung, aber diese Beziehung löste sich nach und nach in Luft auf, verschwand. Ich finde, mein Vater hätte zu dieser Beerdigung fahren müssen. Nicht wegen seiner toten Mutter, sondern um seinetwegen und auch um meinetwegen. Indem er dieser Beerdigung fernblieb, blieb er dem Leben insgesamt fern.

Das Rätselhafte daran ist, dass mein Vater seine Mutter liebte. Er fuhr nicht zu ihrer Beerdigung, weil er unbewusst den toten Körper der Mutter ablehnte, während sein bewusstes Ich unüberwindbar träge war.

In meinem Kopf vermischen sich tausend Geschichten, die mit der Armut zu tun haben und damit, wie die Armut einen mit ihrem Traum vom Reichtum vergiftet. Oder wie die Armut einen lähmt, dazu führt, dass man keine Lust hat, ins Auto zu steigen und fünfhundert Kilometer zu fahren.

Der Kapitalismus ist in Spanien im Jahr 2008 zusammengebrochen, wir verloren uns, wir wussten nicht mehr, wonach wir streben sollten. Mit dem Einsetzen der wirtschaftlichen Rezession begann eine politische Komödie.

Fast waren wir auf die Toten neidisch.

Mein Vater wurde in einem Dieselofen verbrannt. Er hatte niemals einen Wunsch geäußert, was wir mit seinem Leichnam machen sollten. Wir beschränkten uns darauf, uns des Toten zu entledigen (des Körpers, dessen, was er gewesen war und von dem wir jetzt nicht mehr wussten, was er war), wie alle es machten. Wie man es mit mir machen wird. Wenn jemand stirbt, sind wir davon besessen, den Leichnam schnellstmöglich zu beseitigen. Den Körper auszulöschen. Aber warum diese Eile? Wegen der Verwesung? Nein, es gibt heute ja sehr gute Kühlschränke in den Leichenhäusern. Eine Leiche macht uns Angst. Die Zukunft macht uns Angst, uns macht das, in was wir uns verwandeln, Angst. Es erschüttert uns, an die Verbindung zu denken, die wir zu diesem Leichnam hatten. Es erschrecken uns die Gedanken an die Tage, die wir an der Seite des Leichnams verbracht haben, die Vielzahl von Dingen, die wir mit diesem Leichnam unternommen haben: ans Meer zu fahren, mit ihm zu Mittag zu essen, mit ihm zu reisen, mit ihm zu Abend zu essen oder sogar mit ihm zu schlafen.

Das einzige wirkliche Problem am Ende des Lebens der Menschen ist die Beseitigung des Leichnams. In Spanien gibt es zwei Möglichkeiten: die Erdbestattung oder die Feuerbestattung, also sich in Erde oder in Asche zu verwandeln.

Mein Vater wurde am 19. Dezember 2005 verbrannt. Heute bedaure ich das, es war wahrscheinlich eine vorschnelle Entscheidung. Dass wir ihn verbrannt haben, hatte andererseits mit dem Umstand zu tun, dass mein Vater nicht bei der Beerdigung seiner Mutter war, das heißt meiner Großmutter. Was ist wichtiger, auf meine Verwandtschaft hinzuweisen und 'meine Großmutter' zu sagen oder auf die meines Vaters und 'seine Mutter' zu sagen? Ich weiß nicht, für welche Perspektive ich mich entscheiden soll. Meine Großmutter oder seine Mutter, wie ich mich entscheide, sagt alles. Mein Vater war nicht bei der Beerdigung meiner Großmutter, und das hatte etwas damit zu tun, was wir mit dem Leichnam meines Vaters machten; es hatte etwas damit zu tun, dass wir uns entschieden, ihn verbrennen, einäschern zu lassen. Es hat nicht mit Liebe zu tun, sondern mit einem Sturzbach von Umständen. Umständen, die weitere Umstände auslösen: der Sturzbach des Lebens, Wasser, das beständig fließt, während wir wahnsinnig werden.

Mir wird in diesem Moment auch bewusst, dass in meinem Leben nichts Schlimmes passiert ist, und trotzdem trage ich tiefes Leid in mir. Der Schmerz hindert mich keineswegs daran, Freude zu empfinden; für mich ist Schmerz sowieso eher bewusstseinserweiternd. Leid ist erweitertes Bewusstsein, das zu allem, was gewesen ist und sein wird, vordringt. Es ist eine Art verborgener Freundlichkeit zu allen Dingen. Ein Wohlwollen hinsichtlich allem, was war. Und aus Freundlichkeit und Wohlwollen erwächst immer Anmut.

Es ist eine Art allgemeines Bewusstsein. Leiden ist eine ausgestreckte Hand. Es ist Freundlichkeit den anderen gegenüber. Wir lächeln, doch innerlich brechen wir zusammen. Wenn wir lieber lächeln, anstatt tot auf der Straße umzufallen, hat das mit Anmut, Sanftheit, Wohlwollen, Nächstenliebe, Respekt den anderen gegenüber zu tun.

Ich weiß noch nicht einmal, wie ich die Zeit strukturieren soll, wie sie definieren. Ich kehre zu diesem Nachmittag im Mai 2015 zurück, den ich in diesem Augenblick erlebe, und ich sehe auf meinem Bett verstreut eine Vielzahl Medikamente. Es ist alles dabei: Antibiotika, Antihistaminika, Anxiolytika, Antidepressiva.

Und dennoch feiere ich, am Leben zu sein, und ich werde es immer feiern. Der Tod meines Vaters wird in immer weitere Ferne rücken, oft habe ich bereits Schwierigkeiten, mich an ihn zu erinnern. Trotzdem macht mich das nicht traurig. Dass mein Vater der vollkommenen Auflösung entgegengeht, während ich, abgesehen von meinem Bruder, der Einzige bin, der sich an ihn erinnert, scheint mir von ausgesprochener Schönheit.

Meine Mutter starb vor einem Jahr. Als sie noch lebte, wollte ich manchmal über meinen Vater sprechen, aber sie wollte nicht. Auch mit meinem Bruder kann ich nicht groß über meinen Vater sprechen. Das ist kein Vorwurf, mitnichten. Ich verstehe, dass das unangenehm ist, und in gewisser Weise die Scham. Weil das Reden über einen Toten in einigen traditionellen Kulturen, oder zumindest in jener, mit der ich aufgewachsen bin, eine ausgesprochene Schamlosigkeit voraussetzt.

Also blieb ich alleine mit meinem Vater. Und ich bin der einzige Mensch auf dieser Welt - ich weiß nicht, ob mein Bruder das macht -, der sich tagtäglich an ihn erinnert. Und sich tagtäglich seine gänzliche Auflösung vergegenwärtigt. Eigentlich erinnere ich mich nicht tagtäglich an ihn, er ist in mir, ich habe mich von mir selbst zurückgezogen, um ihm Unterschlupf zu gewähren.

Es ist, als hätte mein Vater nicht für mich am Leben sein wollen, ich will damit sagen, dass er mir sein Leben nicht offenbaren wollte, den Sinn seines Lebens: Kein Vater will für den eigenen Sohn ein Mensch sein. Meine gesamte Vergangenheit versank, als meine Mutter dasselbe wie mein Vater machte: Sie starb. (...)"

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