Botho Strauß: "Die Expedition zu den Wächtern und Sprengmeistern"

Kritische Prosa


"Die Expedition zu den Wächtern und Sprengmeistern" vereinigt verschiedene Beiträge von Botho Strauß zu ihn dauerhaft beschäftigenden Themenkreisen: "Literatur", "Theater", "Bilder" und "Zeitgeschehen". Ein fünfter Teil, "Sprengsel" betitelt und aus dreiunddreißig Seiten aforistischer Prosa bestehend, wartet zum Teil mit weniger zeitgebundenen Überlegungen auf und ist extra für diesen Sammelband geschrieben worden. Der älteste Beitrag wiederum, "Die Distanz ertragen. Über Rudolf Borchardt" stammt von 1987. Manches wurde für das vorliegende Buch vom Autor gekürzt oder sonstwie leicht bearbeitet.

In "Theater" porträtiert Strauß einige Theaterleute, mit denen er selbst zusammengearbeitet hat oder sonst in Berührung gekommen ist. Die Regisseure Peter Stein, Rudolf Noelte, Ingmar Bergman und Luc Bondy, der Bühnenbildner Karl-Ernst Hermann, der Dramaturg Dieter Sturm, die  Schauspieler Jutta Lampe, Otto Sander, Peter Lühr und Bruno Ganz kommen so zu Ehren und einem fachkundigen, oft sehr ins Detail gehenden Kommentar; für einige der Genannten war es ein Nachruf. Vorrangig geht es dabei darum, was diese Persönlichkeiten, jede auf die ihr eigene unverwechselbare Weise, dem Theater gegeben haben, doch werden auch einige persönliche Erinnerungen an die Betreffenden wachgerufen. Und natürlich wird immer wieder das Theater selbst zum Gegenstand, werden seine Möglichkeiten und Dringlichkeiten in der heutigen Welt des "Theaters der Regisseure und Schauspieler", des Ortes, wie es an anderer Stelle heißt, wo Gegenwart am durchlässigsten wird, erörtert. In dem Zusammenhang über sich:
"Ich möchte ein Gebärdensammler gewesen sein.
Ein Palimpsestleser, der bei jedem Menschen, den er betrachtet, die Erstschrift eines tieferen Lebens entdeckt."
(S. 160)

In "Literatur" finden sich die beiden Reden anlässlich der Vergaben des Büchner- und des Lessing-Preises, bei welchen Strauß ausführlich auf die beiden Namensgeber eingeht. In Büchner schätzt er weniger den politischen Revolutionär als einen solchen des Theaters, dem der Frühverstorbene mit je einem Drama, Lustspiel und Entwurf weit in die Zukunft reichende Impulse gegeben hat. In Lessing sieht er einen vielseitig begabten poeta doctus, der jedoch aufgrund seines manchmal plakativen Eintretens für Liberalität, Toleranz und Emanzipation Gefahr läuft, zum Ahnherrn des Gutmenschentums verkitscht zu werden, mit allen Gefahren der Ideologisierung, die mit seinen scheinbar rein weltlich zu verwirklichenden Idealvorstellungen verbunden sind.
In "Spengler persönlich" setzt Strauß sich mit dem Charakter des Autors von "Der Untergang des Abendlandes" wie auch mit den vielfältigen Interpretationen, denen dieses kontroversielle Buch ausgesetzt war und ist, auseinander. "Gedachtes von Heidegger" spürt den lyrikähnlichen Sprachexperimenten des Filosofen
, dessen Bemühungen um eine sich im Augenblick bildende frische Sprache, in der Dichten und Denken noch nicht unterschieden sind, um "die stiftende Kraft der Sprache" nach.
Außerdem empfiehlt Strauß die Lektüre von Rudolf Steiners "Von realer Gegenwart" über die von analytischen und hermeneutischen Methoden unbeeinträchtigte Anwesenheit des Logos-Gottes im Kunstwerk sowie - und sei es nur einem Leser pro Generation - den Erzählband "Die Löwin" des wenig bekannten Dichters Konrad Weiß. Letzteren nennt er einen "kraftvollen Knecht des Horchens" (S. 75) und bescheinigt ihm eine gesteigerte Erlebnisform des Deutschen wie Hölderlin und eben auch Rudolf Borchardt, auf welchen - sagen wir konservativen, bei Strauß liest sich darüber freilich differenzierter - Geist mit seiner "zeitenspaltenden Sehnsucht nach dem Ersten und Ganzen" (S. 33) der Autor auch jenseits des genannten Aufsatzes wiederholt Bezug nimmt.
Bei den Malern sind es gleichfalls von ihm besonders geschätzte, denen er ausführliche Besprechungen (unterlegt zudem mit dem Abdruck einiger veranschaulichender Bilder) widmet: Christopher Orr, Gerhard Richter, Govaert Flinck, Odd Nerdrum, Henri Matisse.

Die Texte von Botho Strauß zum Zeitgeschehen sind es, die mit Abstand die stärkste Wirkung auf die Öffentlichkeit entfaltet haben. Zuallererst sein "Anschwellender Bocksgesang", ein im Februar 1993 erschienener Artikel, der in deutschen Landen Empörung, Skandalisierung und die Verfemung seines Verfassers in gewissen mächtigen Kreisen nach sich gezogen hat, beispielsweise durch solche Sätze:
"Zuweilen sollte man prüfen, was an der eigenen Toleranz echt und selbständig ist und was sich davon einem verklemmten deutschen Selbsthaß verdankt, der die Fremden willkommen heißt, damit hier, in einem verhaßten Vaterland, sich die Verhältnisse endlich zu jener berühmten ("faschistoiden") Kenntlichkeit entpuppen, wie es einst (und heimlich wohl bleibend) in der Verbrecher-Dialektik des linken Terrors hieß." (S. 229)
Der Autor wendet sich fundamental gegen den herrschenden Zeitgeist, gegen eine vom Ökonomismus bestimmte Gesellschaft, liberal-libertäre Selbstbezogenheit, "die erstickende, satte Konvention des intellektuellen Protestantismus, das einzige geistige Originalerzeugnis der Bundesrepublik" (S. 234), die Gleichgültigkeit fördernden Massenmedien mit ihrer Diktatur des Vorübergehenden, geförderte Verantwortungslosigkeit, einen vereinnehmenden, sich den Gegner selbst erschaffenden Antifaschismus, "Erziehungs- und Bildungsstätten, Horte der finstersten Aufklärung, die sich in einem ewig ambivalenten Lock- und Abwehrkampf gegen die Gespenster einer Geschichtswiederholung befinden" (S. 238) ebenso wie gegen eine degenerierte Vernunft, die
der Größe der drohenden Schatten bzw. dem bereits aus dem Untergrund vernehmbaren Bocksgesang, der Katastrofe, auf welche diese verkünstlichte und innerlich geschwächte Gesellschaft zuzusteuern scheint, vermutlich unangemessen ist.
Fast achtundzwanzig Jahre nach Erscheinen des Bocksgesangs mag man den Eindruck gewinnen, als hätte der Kulturpessimist, den Strauß in
dem Text dem auf integrative Erneuerungskraft ("restitutio in integrum et novum" heißt es passend, wenn auch an anderer Stelle) setzenden Rechten gegenübergestellt hat, mehr Grund, sich bestätigt zu fühlen. Wahrscheinlich hat sich Botho Strauß mit dem Bocksgesang so einiges an Ekel und Unbehagen von der Seele schreiben können, gewiss hat damit ein bewusstes Außenseitertum des Autors seinen Anfang genommen.

Nicht zur Gänze bewusst allerdings, denn ein gutes Jahr später erschien ein post scriptum, in welchem ein ob der gemeinen Reaktionen doch überraschter Autor in einem sinnlosen Selbstverteidigungsversuch (als wären die hierfür gebrauchten Abgrenzungen in dem Artikel nicht deutlich genug; als ginge es den besoldeten Empörten nicht um Meinungshegemonie und Maulkorb) meint, wer ihn in ein rechtsextremes Eck rücke, müsse Idiot, Barbar oder politischer Denunziant sein. Oder aber - einer vierten Möglichkeit ein ganzer Satz: "Oder eben jemand, der beinahe willenlos öffentliches Gerede durch den eigenen Mund rauschen läßt, ganz so wie es in jenem inkriminierten Artikel als eine der gespenstischen Entwicklungen einer aufgeklärten Gesellschaft benannt wurde." (S. 245)

In dem kurzen Text "Der Konflikt" von 2006 beschäftigt sich Botho Strauß mit dem Islam in Europa. Er übt sich in Optimismus, indem er hofft, dass der anscheinend unaufhaltsame Siegeszug islamisch geprägter Gemeinden in Europa auch eine Rückbesinnung auf christliche Werte zur Folge haben werde, und schließt wie folgt: "Mit der westlichen Einfühlung in einen unüberwindlichen Antagonismus, sakral/säkular, ist die herrschende Beliebigkeit, sind Synkretismus und Gleich-Gültigkeit in eine Krise geraten. Vielleicht darf man sogar sagen: Wir haben sie hinter uns. Es war eine schwache Zeit!" (S. 250)

"Herrschen und nicht beherrschen. Zur Rhetorik der Krise" von 2011 fordert von den Verantwortlichen in Politik und Medien angesichts der Euro-Finanzkrise finanzwirtschaftliche Aufklärung statt Täuschung, Verschleierung und Falschaussage "bis hin zum (noch immer uneingestandenen) Bruch vertraglicher Vereinbarungen und institutioneller Regeln." (S. 251). "Nicht um noch gerissenere Marktteilnehmer zu erziehen, sondern um der gefährlichen Affekte, der im Volk wahrscheinlich am weitesten verbreiteten intellektuellen Einschränkung, entgegenzuwirken" (S. 252) Strauß erhebt den Vorwurf, dass sich die Parteien bzw. Strömungen unhinterfragend an ihre jeweilige ökonomische Doktrin halten würden, und findet zu mittlerweilen längst weitergediehenen Entwicklungen kräftige Worte: "Im Vorschlag, auf dem Wege von Eurobonds die gegenwärtige Schuldenschwemme auf alle Euro-Länder zu verteilen und dies als ein Gebot der Solidarität auszugeben, versteckt sich eine Version der alten antinationalen Affekte der Linken und im Kern die sozialistische Aporie: Am Ende sind alle Habenichtse." (S. 253)

In "Abschied vom Außenseiter. Von den meisten und den wenigen" von 2013 ergreift Botho Strauß vehement Partei für die "idiotes", die Privatmänner, Sonderlinge und Eigenbrötler, wie sie im alten Griechenland genannt wurden, kommt wieder auf Borchardt zurück, wonach es nicht kulturbildend sei, wenn alle, sondern wenn einige Wenige Griechisch (die Sprache Homers und Platos als Beispiel, versteht sich) können, und kontrastiert diese Einstellung mit der Anpassung nach unten, wie sie in unserem materiell geprägten Europa seit etlichen Jahrzehnten systematisch betrieben wird. Er reflektiert über die Unterscheidung Reaktionär-Konservativer und provoziert mit der Feststellung, man dränge dem Gläubigen die modernen Freiheiten auf, denke aber gar nicht daran, von dem Freiheitsverzicht der Konfessionen auch nur das geringste als übernehmenswert in Erwägung zu ziehen. Und er wünscht sich ausschließende Prinzipien, um eine untergründige geistige Verbundenheit als Gegenkraft zur anmaßenden Dürftigkeit zu bilden. "Nicht feind der Demokratie, jedoch der Demokratisierung sämtlicher Lebensbereiche, feind der Total-Demokratie" (S. 261). Er selbst - ein "unbeirrter Zeitfremdling", um mit Dávila zu sprechen.

"Ist es politische Unbeholfenheit, ist es mangelndes Sprachgedächtnis, ein und dasselbe Volk, sofern es sich richtig verhält, demos, wenn aber nicht, dann abschätzig populus bzw. populistisch zu rufen?" (S. 272) Diese eher rhetorische Frage entstammt dem Aufsatz "Reform der Intelligenz" von 2017, in welchem Botho Strauß sich vehement gegen einen sogenannten, massenmedial nach Kräften unterstützten, Soziozentrismus wendet, worunter er die Herrschaft des Sozialen und darin sich erschöpfende Diskurse über die anderen Bereiche des menschlichen Lebens versteht. Kämpferisch auf seine Art heißt es unter anderem: "Kein Kunstwerk wird sich heute damit begnügen, "gesellschaftskritisch" zu sein. Sich gegen einen bornierten Klassenverstand, eine verderbte Weltanschauung zu wenden, so etwas begibt ästhetische Anleihen auf Ramschniveau. Der Epidemie des Ungenierten kann das Kunstwerk nur mit der Scham seines Erscheinens erwidern." (S. 275) Als einer von sehr wenigen weist Botho Strauß hier auf den hauptsächlichen Nährboden der meisten politischen Überzeugungen hin ("Gesinnung ist dem Triebleben näher verwandt als dem Geistesleben, steht dem Lustprinzip näher als der Erkenntnis."; S. 275), erhebt seine Stimme wider billige Rationalität, Herabsetzung von Größe und das Denken ohne Dank und zeigt die Gefahr auf, dass aus der "Gesellschaft" (nicht dem Staat) "die demokratische Diktatur entstehen könnte mit strikten Vorgaben zur moralischen wie zur rhetorischen Korrektheit: eine Kommunikationsherrschaft, die keinerlei Abweichung von der leichten oder der gebilligten Sprache mehr duldet." (S. 276)

Nach mehr als fünfzig Seiten geharnischter Zeitkritik tut es wohl, in "Sprengsel", geschrieben 2019, auch Überlegungen zu allgemeineren menschlichen Belangen zu vernehmen, zu Schreiben und Lesen, Religion und Moral, den rasanten technischen Veränderungen und ihren Auswirkungen. Freilich werden die im oben erwähnten post scriptum genannten Missversteher auch hier Schockierendes vorfinden, etwa die vor-herrschende Meinung zum Klimawandel als negative Anthropozentrik, als an die Stelle einstiger Machthybris getretene Schuld- und Verschuldenshybris.

Wenn man sich denn darauf einlässt, ist "Die Expedition zu den Wächtern und Sprengmeistern" von Botho Strauß nicht nur eine sehr kritische, sondern ebenso herausfordernde Prosa, die ihre Wahrnehmungen, Anliegen und Abneigungen in klarer Sprache benennt und so den Leser dazu anregt, die eigenen Anschauungen zu Kunst, Kultur, Politik, Gesellschaft und manchem anderen zu hinterfragen und womöglich auch ein wenig - und vielleicht mehr als das - zu modifizieren.

(fritz; 01/2021)


Botho Strauß: "Die Expedition zu den Wächtern und Sprengmeistern. Kritische Prosa"
Rowohlt, 2020. 400 Seiten.
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