Andrzej Stasiuk: "Beskiden-Chronik"
Andrzej Stasiuk reist nicht
nur, wie literarisch mehrfach belegt, sehr gerne, er hat seit
Jahrzehnten auch einen festen Wohnsitz in Südostpolen unweit der
slowakischen Grenze und mit dem Gebirgszug der Niederen Beskiden
sogenannte heimatliche Gefilde, in die er sich immer wieder
regenerierend zurückziehen kann. Die "Beskiden-Chronik" umfasst etliche
aus wenigen Seiten bestehende Beiträge, die Stasiuk zwischen 2013 und
2018 für die Wochenzeitschrift "Tygodnik Powszechny" verfasst und
hernach zu einem Buch mit dem wörtlichen Titel "Beskiden- und
Weltchronik" (die Welt kennen wir im deutschsprachigen Raum freilich zur
Genüge, die Beskiden hingegen ...) vereint hat. Demgemäß sind auch im
vorliegenden Buch die von Reisen handelnden Texte keineswegs
unterrepräsentiert; wenn es nach der Meinung seiner Schützlinge - von
sieben oder so ähnlich Schafen - ginge, würde Stasiuk allerdings mehr
Zeit daheim verbringen und überhaupt ...
"Und ich wünsche dir, dass du dir das alles nicht so zu Herzen
nimmst."
"Was heißt: das alles?"
Sie drehte den Kopf und zuckte gleichsam mit ihren Schafsschultern.
"Na, dass du ein Mensch bist." Sie machte einen Schritt Richtung
Krippe, und bevor sie sich wieder dem Heu zuwandte, fügte sie hinzu.
"Das geht schließlich vorbei." (S. 199)
Die Schafe also, mit denen er sich öfter unterhält, dabei ihre, wie es heißt, ausdrucksstarken Grimassen und ihre sehr individuelle Schönheit genießend, ihre einfache, im Bezug auf zu rupfende Grashalme jedoch durchaus wählerische Lebensweise beschreibend, Gemeinsamkeiten mit dem Menschen wie Panikneigung betonend und ihre allegorische Eignung nutzend (und wohl auch ein wenig missbrauchend), sie bilden einen schwarzhäuptigen weißen Faden durch die Chronik und den Besinnungspunkt für den Autor, wenn er sich wieder einmal allzu sehr über polnische, europäische oder mundiale Probleme aufregt.
Vor allem an Polen leidet Stasiuk offensichtlich, versucht seine Landsleute, die katholische Zielgruppe seiner Kolumne, immer wieder einmal mit seiner Weltsicht behutsam zu beeinflussen ohne sie zu überfordern. Er schreibt über Kirchen und Christusdarstellungen, über Kreuzschnäbel und Rehböcke, die Dringlichkeit einer zweiten geistigen Hauptstadt (neben Tschenstochau und parallel zu den beiden weltlichen Warschau und Krakau), über die Veränderungen im Land wie slowakische Vergnügungsparks ersetzende Supermärkte, die Tücken der einheimischen Kulturlandschaft und der polnischen Geschichtsauffassung. Namen werden dabei kaum genannt, dem "Chef des Landes" empfiehlt er indes, zu Allerseelen (dem de facto höchsten polnischen Feiertag) das Grab des Zwillingsbruders aufzusuchen und vor aller Augen dessen Skelett zu exhumieren. Immer wieder ist angesichts polnischer Belange auch ein gewisser Fatalismus zu spüren, als Beispiel wofür eine Geschichte von der Unmöglichkeit für die Intelligenz des Landes, einen gemeinsamen Appell an seine Politiker aufzusetzen, angeführt sei.
Stasiuk will auch
unterhalten, auf Kolumnistenart, nämlich sparsam mit geistvollen,
humoristischen und literarischen Einfällen haushaltend und, so scheint
es, auch ein wenig auf das Zeilenhonorar schielend. Deutliche Worte
findet er für das feuchtkalte Beskidenwetter, den häufigen Nebel und die
langen, nur schwer an das Osterwunder zu Jerusalem glauben machenden
Winter; und doch gibt es die gewissen Momente, einen Oktobertag etwa, wo
kraft der schiefeinfallenden Frühmorgensonne die Gegend in ein
überirdisches Licht getaucht wird (Politikerplakate ausgenommen) und
selbst die Woiwodschaft Podlasie Gnade erfährt. Dem Wetter zum Trotz
schaut dennoch der eine oder andere Besucher in seiner bescheidenen
Hütte vorbei, der Liedermacher Jacek Kleyff ("So war es. Ich habe
nichts erfunden."; S. 43) oder Jáchym
Topol mit Anhang ("Wir sind die Trottel aus Prag"; S.16).
Die Literatur wird auch sonst nicht ausgespart: der Autor verbeißt sich
in Witold Gombrowicz oder beschäftigt sich mit der frühen
Reiseschriftstellerin Ella Maillart und den sowjetischen Erfahrungen
John
Steinbecks, während ihm eine autobiografische Randnotiz von Sandor
Marai als Anlass für einen ironischen Solidaritätsaufruf mit den
sogenannten "Unbegabten" dient, den er mit einem nicht unhöhnischen
"Amen" (nicht dem einzigen solchen in der Chronik) abschließt. Überhaupt
ist ein Hang zu brutalem Sarkasmus zu erkennen, wenn er beispielsweise
auf Autorentour in einem slowakischen Ort gefragt wird, was man denn in
Polen über die Slowaken dächte, eine Frage, die er hasst, da er sie
allzu oft schon in Russland und im eigenen Land zu Ohren bekommen hat
und zunächst mit einem groben "Nichts" beantwortet, um die abgekühlte
Atmosfäre dann doch noch retten zu wollen:
"Ach", sagte ich zum Schluss, "ihr müsstet uns einfach etwas antun,
ein ordentliches Unrecht. Anders geht's nicht." (S. 230).
"Denn darum reisen wir doch - um irgendetwas von der Welt zu begreifen, um endlich den Ort zu finden, da unsere Anwesenheit endgültig versinkt und wir nicht mehr von allem anderen zu unterscheiden sind, von dem, woraus wir gemacht sind." (S. 247)
Und immer wieder, auch
spontan, schwingt er sich in sein Auto und tauscht die Beskiden gegen
die Welt, fährt an einem Tag nach Piran, um den Karfreitag am Mittelmeer
(und also nicht in Polen) zu erleben, oder befindet sich plötzlich in
Manhattan (dieses wohl per Flug und dem Anschein nach für ziemlich kurze
Zeit). Vor allem aber die östliche Welt hat es Stasiuk angetan, und er
berichtet von etlichen Vorfällen und bleibenden Bildern seiner Reisen
nach Kasachstan,
in die
Mongolei und die zentralasiatischen Republiken, wobei ihm manches
von dem Erlebten als Ausgangspunkt zu allgemeineren Fragestellungen
dient.
Man gewinnt den Eindruck, je weiter sich Stasiuk von polnischen und
europäischen Belangen entfernt, desto eher erreicht er ein Niveau, das
über gewöhnliche Kolumnenschreiberei deutlich hinaus- und ins
Literarische hineingeht. Er schreibt über die sehr unterschiedliche
Schönheit der Perserinnen von Chorog und die des Kaspischen Meeres, über
die Andersartigkeit der Russen, den Stolz der Kasachen auf ihre
Hauptstadt Astana, Gespräche mit Einheimischen und einen Sommer im
Altai, behördliche Nötigungen und diverse Grenzabenteuer, bisweilen
recht komische:
"Bisschen spät", sagte
ich. "Ich treib mich schon drei Stunden hier herum."
"Dass Sie uns nicht sehen, heißt nicht, dass wir Sie nicht sehen",
sagte der Größere.
"Tourist?", fragte der Kleinere.
In seiner Stimme lag sowohl Suggestion als auch Versöhnlichkeit und
etwas wie stille Hoffnung.
"Ja", sagte ich, "Heimwehtourist."
Er holte sein Notizbuch heraus und verlangte die Papiere.
"Aber wir schreiben: normaler. In Ordnung?"
"In Ordnung", erwiderte ich." (S. 154/155)
(fritz; 09/2020)
Andrzej
Stasiuk: "Beskiden-Chronik"
(Originaltitel "Kroniki beskidzkie i światowe"")
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall.
Suhrkamp, 2020. 360 Seiten.
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