Marek Šindelka: "Der Fehler"
Eher nichts für schwache
Nerven: Ein todbringender Dämon und seine Blume, Pflanzenschmuggler
und Lyrik - eine irrwitzige Genremixtur
Immerhin "schon" zehn Jahre nach Erscheinen der tschechischen
Originalausgabe, (andere Autoren müssen beträchtlich länger warten, und
nicht wenige warten ja überhaupt umsonst darauf, übersetzt zu werden),
publizierte der österreichische "Residenz Verlag" im Kielwasser eines
deutschen Buchmesseschwerpunkts anno 2018 die mit Unterstützung des
Kulturministeriums der Tschechischen Republik gedruckte deutschsprachige
Übersetzung dieses absolut kuriosen Romanerstlings, treffsicher
angefertigt von der 1974 in Darmstadt geborenen Doris Kouba.
Und der Autor durfte ausgerechnet mit diesem für ihn zu jener Zeit nicht
mehr aktuellen Titel im deutschsprachigen Raum auf Lesereise gehen,
sollte der 1984 in Polička Geborene doch als tschechisches Schreibtalent
präsentiert werden. Es wird Marek Šindelka vielleicht bisweilen wie eine
absurde Zeitreise erschienen sein, plötzlich wieder so unmittelbar mit
seiner "alten Geschichte" konfrontiert zu werden, was - man kommt nicht
umhin, dies anzumerken - jedoch ausgezeichnet zu seinem Roman "Der
Fehler" passt. Wobei der Autor durchaus mit neueren Büchern hätte
aufwarten können - c'est la vie ...
"Ihm träumte von einem Mörder, dessen Geist durch die ausgeschwemmte
Stadt irrte. Dessen Seele wie ein Fluch von einem leeren Menschen zum
anderen wanderte. Ihm träumte von einem Mörder als einem Fehler in
dieser Welt." (S. 210) Der solches träumt, ist Andrej Birkenau,
todgeweihter lungenkrebskranker Alkoholiker. Seine Tochter ist kürzlich
versehentlich einem Giftpilzgericht zum Opfer gefallen, seine Frau Nina
nach einem Selbstmordversuch in der Psychiatrie gelandet, sein ehemals
bester Freund Kryštof hat ihn mit Nina betrogen. Kann es noch schlimmer
kommen? Jedenfalls haarsträubender als erwartet, zunehmend seltsame
Turbulenzen halten Andrej nämlich gehörig auf Trab und in Atem.
Man schreibt das Jahr 2002, eine Hochwasserkatastrophe hat Prag und
viele andere Städte in Mitteleuropa heimgesucht, und in dieser Kulisse
zündet Marek Šindelka seine geballte Ladung an Chaos, Zeitkritik
(Zerstörung und Ausbeutung der Natur durch selbstsüchtige Menschen) und
Schicksalsschlägen.
Wenn die Pflanzen zurückschlagen ...
Sein Roman, in dem hellsichtige Träume mindestens gleichberechtigt neben
wachem Erleben ablaufen, ist in drei Hauptkapitel gegliedert: "Kryštof"
(S. 9-131), "Andrej" (S. 135-229), "Die Blume" (S. 233-293). Der erste
Satz lautet: "Kryštofs Leben endete genau dort, wo es einmal
angefangen hatte." Somit schließt sich gleich zu Beginn ein
Kreis: Kryštof Warjaks allererste Erinnerungen an eine viele Jahre
zurückliegende Zugfahrt mit seiner Mutter, vorbei an giftigen
Herkulesstauden (Riesenbärenklau), inmitten derer er 24 Jahre später, am
25. August 2002, sein Leben aushauchen wird, eine schwarze Blume, die
letzte ihrer Art, im eigenhändig notdürftig zugenähten Bauch bergend.
Bis es soweit ist, holt der Roman jedoch in hohem Spannungsbogen aus und
bietet eine sich erst allmählich aus unterschiedlichen Mosaiksteinchen
fügende bizarre Handlung voller Rätsel, blutrünstiger Begebenheiten und
Beziehungsgeschichten.
Auszüge aus dem Tagebuch des bald nach einer entsetzlich verlaufenen
Obduktion seines Dienstes enthobenen und an einer rätselhaften
Infektionskrankheit verstorbenen Ermittlers Antonín Brom, erzählende
Rückblicke auf Kindheit und Jugend der Protagonisten Kryštof, Andrej und
Nina, Briefe, Sprünge zu späteren Ereignissen und poetisch
zusammenfassende oder auch vorwegnehmende Passagen sorgen für ein
abwechslungsreiches Lektüreerlebnis, das stellenweise die
Kombinationsgabe anregt.
"(...) einst hat
er das abstreifen des körpers gelernt |
Erzähltechnisch recht
einfallsreich, unter Verwendung unterschiedlicher Stilmittel
wird munter zwischen Zeiten und Orten gewechselt, ausgehend von
Kryštofs rätselhaftem Ableben und den daraus resultierenden
behördlichen Ermittlungen. Sodann wird man Zeuge der
wechselvollen Jugendfreundschaft zwischen Kryštof, dem Prager
Scheidungskind, das lange Zeit bei den Großeltern
mütterlicherseits auf dem Land lebt, und Andrej, dem
traumatisierten ehemaligen Heimkind. |
Kryštof arbeitet in Prag eine
Zeitlang bei einem alten Sonderling namens Nährer, (die meisten Namen
wurden von der Übersetzerin thematisch passend eingedeutscht), von wo er
den Grundstock für seine eigene Sammlung entwendet, und bald findet er
an der Universität einen ebensosehr an Pflanzen und auch Geld
interessierten Gefährten, Marián Rotko. Das Duo etabliert sich
schrittweise auf dem äußerst lukrativen Schwarzmarkt für bedrohte
Pflanzenarten, denn nicht wenige betuchte Sammler sind gewillt, wahre
Unsummen für Pflanzenraritäten hinzublättern. Freilich geraten die
beiden naiven Tschechen nach etlichen mehr oder weniger erfolgreichen
Schmuggelreisen bald in Teufels Küche, denn mit Superreichen und deren
Handlangern ist selbstverständlich überhaupt nicht zu scherzen, die
begehrte Ware lockt finstere Gestalten an, und die beiden sowie ihre
Kontaktpersonen werden zu Gejagten.
Inzwischen ist auch ein einst fluchgeschaffener japanischer Dämon ins
Spiel gekommen, der sich menschlicher Körper bemächtigt und diese als
Wegwerfwerkzeuge verwendet, um unbeirrbar eine Liste zu Liquidierender
abzuarbeiten - wobei er allerdings eine einzige Ausnahme machen wird. In
der Reihe der solcherart Missbrauchten befinden sich Pavel, der infolge
eines Unfalls erblindete daseinsüberdrüssige vierzehnjährige Prager,
dessen Alltag bis zum Moment der Inbesitznahme berührend geschildert
wird, von dem der Dämon auf den todgeweihten Andrej übergeht, zuvor wird
ein Obdachloser ebenso zur Täterhülle für einen grauenvollen Mord, was
die Ermittler vor unlösbare Rätsel stellt, vor allem den
höchstpersönlich betroffenen Antonín Brom, dem sein Kontakt mit der
lebenshungrigen schwarzen Blume zum todbringenden Verhängnis geworden
ist.
Man erfährt nach und nach aus verschiedenen Quellen allerlei über das
letzte Exemplar eines legendenumrankten japanischen Parasitwesens und
über eine damit zusammenhängende japanische Sage. Diese Blume, die einen
lebendigen Wirt (Tier oder Mensch) braucht und einen todbringenden Dämon
im Schlepptau führt, hat Kryštof im Auftrag eines Sankt Petersburger
Superreichen aus einer Villa in Tokio gestohlen und mit dem Vorschuss
für sich und Nina ein hübsches Haus in Polen gekauft, dem auch sein
letzter, rauschhafter Traum gelten wird.
Eine irrwitzige Schießerei und ein beinahe romantisches Ende
komplettieren den überwiegend hemmungslos reißerischen Roman.
Eigenartige Sätze wie z.B. "Die klaffende Wunde schien ihn
anzulächeln, und er lächelte unbewusst zurück." (S. 160) lassen
das Kopfkino zwar manchmal ein bisschen einfrieren, insgesamt ist "Der
Fehler" jedoch ein ereignisreicher Roman, der in Höchstgeschwindigkeit
eine eigene Welt entstehen lässt und diesbezüglich bisweilen an Quentin
Tarantinos Filme erinnert.
(kre; 03/2020)
Marek Šindelka: "Der Fehler"
(Originaltitel "Chyba")
Aus dem Tschechischen von Doris Kouba.
Residenz, 2018. 280 Seiten.
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Marek Šindelka wurde 1984 in
Polička, Tschechien, geboren. Er studierte Kulturwissenschaften an der
Karlsuniversität und Drehbuch an der Filmakademie in
Prag. Marek Šindelka hat bisher Lyrik, Prosa sowie Drehbücher
verfasst und für seine Werke den "Jiří Orten"-Preis sowie zweimal den
"Magnesia Litera Prosa"-Preis für das Buch des Jahres erhalten.
Ein Buchtipp:
Sanyutei Encho: "Die Pfingstrosenlaterne"
"Die Pfingstrosenlaterne" ist ein noch heute in Japan bekanntes Werk:
Die berühmte Gespenstergeschichte aus dem 17. Jahrhundert erzählt, wie
zwei Schönheiten aus dem Jenseits einem jungen Mann die Lebensgeister
aussaugen.
Die Geschichte von Sanyutei Encho beginnt wie die Populärfassung einer
griechischen Tragödie: Der junge Samurai Heitaro gerät auf dem Markt mit
einem stadtbekannten Trunkenbold in Streit - und tötet ihn. Aber der
Getötete war selbst Samurai,
dessen Nachkommen durch ihren Ehrenkodex zur Blutrache verpflichtet
sind.
Das Erzählen schlägt noch mancherlei Haken. Gespenster treten auf und
werden zur Heimsuchung, Liebe und Anzüglichkeiten haben ihren Ort,
Schürzenjäger suchen ihr Glück und finden es. Wir lesen eine Erzählung,
die übervoll ist an Wendungen und neuen Verwicklungen.
Es ist Unterhaltungsliteratur von Weltrang, der wir lesend statt
lauschend folgen können: Der hohe Ton, in dem japanische Vorstellungen
von Ehre und Schicksalhaftigkeit zur Sprache kommen, wird gebrochen
durch komödiantische Szenen. Schelmisch gerissene Charaktere begegnen
dem Ethos der Edelleute mit Bauernschläue. Kein Tod ist bei Encho so
tragisch, als dass er nicht neben und eng verbunden mit dem Lächerlichen
stehen könnte. Zwischen Wirklichkeit und Fantasie sowie Menschen- und
Geisterwelt springt "Die Pfingstrosenlaterne" mit Leichtigkeit hin und
her; zwischen Realität und Traum zu unterscheiden, fällt in diesem
Bilderbogen nicht leicht. Encho lässt kaum ein Motiv der volkstümlichen
Literatur Japans aus, und immer wieder wendet er sich kommentierend an
seine Zuhörer und an uns Leser.
(Die Andere Bibliothek)
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