Jasmin Schreiber: "Marianengraben"
Der Marianengraben ist tief,
sehr tief. An seiner tiefsten Stelle 11.000 Meter unterhalb des
Meeresspiegels. Der Marianengraben gibt den Takt dieses ungewöhnlichen
Romans vor. Aus der Tiefe an die Oberfläche gelangt die Protagonistin
mit Hilfe von Helmut, einem alten Mann, den sie auf einem Friedhof
kennenlernt. Paula schleicht sich eines Nachts auf den Friedhof, wo ihr
kleiner Bruder beerdigt ist. Zur selben Zeit hält sich dort Helmut auf,
der versucht, eine Urne mit einem Spaten auszugraben. Paula hat den Tod
ihres kleinen Bruders nicht verkraftet und schafft es erst nach langer
Zeit - sozusagen unter Ausschluss der Öffentlichkeit -, sein Grab zu
besuchen. Sie hilft schließlich Helmut, die Urne fertig auszugraben,
weil ihn seine Kräfte verlassen haben.
Mitten in der Nacht gelangen sie über die Friedhofsmauer wieder hinaus,
und Helmut verstreut versehentlich einen beträchtlichen Teil der Asche
auf Paula, als diese gerade festen Erdboden erreicht hat und sich Helmut
noch in luftiger Höhe befindet. Und dann gehen Helmut und Paula zu
Helmuts kleinem Häuschen, wo Paula sofort duscht, und Helmut alles
daransetzt, dass die Asche aus Paulas Kleidung gelangt und weitere Asche
durch das Duschen und eine eigens gebastelte Vorrichtung gerettet wird.
So beginnt das Abenteuer von Paula und Helmut.
Helmut hat die Urne seiner Ex-Frau in seinen Besitz gebracht. Sein
einziger Mitbewohner ist ein Hund, den er Judy nennt. Ein Hund, der
gewisse Eigenheiten hat, wie sich schnell herausstellt. So trägt er gern
eine Karotte im Maul und geht damit rückwärts. Der Hund passt zu Helmut.
Beide sind ganz schön verschroben. Und somit ist es irgendwie klar, dass
Paula mit auf die Reise gehen will, die Helmut mit einem Wohnmobil
vorhat. Er hat Helga, seiner Ex-Frau, versprochen, mit ihr in den Süden
zu fahren, und das macht er nun auch. Dass von Helgas Körper nur mehr
Asche übriggeblieben ist, tut dem Ganzen keinen Abbruch.
Was diesen Roman so besonders macht, ist die Form. Ja, hier handelt es
sich um einen Reiseroman, der fast schon nach einer Verfilmung schreit.
Helmut und Paula erleben dabei allerlei. Sie geraten etwa in eine
Nacktbadekolonie und werden von einem mickrigen, altersschwachen
Polizeimofa bzw. dessen Fahrer verfolgt. Aber das Entscheidende ist die
Annäherung, die zwischen Paula und Helmut stattfindet. Beide sind
anfangs reserviert, ehe es aus ihnen herausbricht. Bei Paula sind es die
Tränen, die sie nicht zurückhalten kann. Die Tränen darüber, dass ihr
Bruder im Meer ertrunken ist und sie ihn nicht retten konnte, weil sie
nicht bei ihm war. Sie war nicht mit auf Urlaub gefahren, und nun
scheinen sie die Schuldgefühle zu zerfressen. Der Tod ihres Bruders ist
ihr ständiger Begleiter.
Helmut hat auch einen Verlust erlitten, der ihm genauso zusetzt wie der
von Paula. Ja, es war ein Verlust, der bis in die Gegenwart hinein Tag
für Tag präsent ist. Dies ist vielleicht die imposanteste Erkenntnis der
Geschichte. Ein geliebter Mensch, der verstorben ist, kann mehr Präsenz
haben als alle Lebenden. Das verbindet Paula und Helmut.
"Er, dieses Andere, kann immer passieren und überall und vor allem
unerwartet, ein bisschen zu schnell, weil es dafür kein richtiges
Tempo gibt, auf jeden Fall so, dass man nicht weglaufen kann. Der Tod
ist so ein Anderes, das mich permanent fassungslos zurücklässt,
ernsthaft, ich kann es nicht begreifen. Trotz der letzten zwei Jahre.
Trotz dir. Dass wir alle sterben müssen ist so unglaublich, ich
empfinde es als eine grausame Ungeheuerlichkeit, als die schlimmste
Beleidigung, die es geben kann." (S. 120, 121)
Der Tod hat in vielen Romanen und Sachbüchern seinen Auftritt. Der Tod
tritt in vielerlei Gestalten auf. Doch dass der Tod zwei Menschen
miteinander verbindet, die überhaupt keine Berührungspunkte miteinander
haben, außer eben den Tod, und dass diese Menschen aus diesem Umstand
heraus neue Energien tanken, erscheint wie ein Wunder. Helmut bricht aus
seiner inneren Starre aus, und Paula lernt, dass sie noch nicht tot sein
möchte, sondern endlich wieder zu leben beginnen will.
Es sind die Erinnerungen, die diesen Roman kennzeichnen. Erinnerungen an
Verstorbene. An einen Bruder, einen Sohn, eine Schwester, eine Ex-Frau.
Erinnerungen, die ein fortwährendes Andenken an geliebte Menschen sind,
die nicht mehr leben. Und Helmut wird selbst bald in das Reich der
Erinnerungen anderer Menschen eintreten. Wer diesen Roman liest, dem
wird das ohnehin schnell klar. Es gibt viele Anzeichen dafür, dass
Helmut dem Tod nahe ist.
Wie die Dinge ineinandergreifen, wie Tod und Leben einander begegnen,
wie positive Energie und Freude die Seiten des Romans durchströmen, das
ist zweifellos eine Kunst für sich. Und es wird keinen Leser geben, der
nicht dafür dankbar sein wird, diesen Roman gelesen zu haben.
Jasmin Schreiber ist "Sternenkindfotografin" und Sterbebegleiterin. Sie
macht diese wertvolle Arbeit ehrenamtlich neben ihrer Tätigkeit als
Biologin. Ihr Netztagebuch wurde als "Blog des Jahres 2018"
ausgezeichnet. Jasmin Schreiber ist es wichtig, dem Tod und dem Sterben
eine Präsenz zu geben. Bücher wie ihr Debütroman leisten einen
wertvollen Beitrag, um die Themen Tod
und Sterben
mitten ins Leben zu holen.
(Jürgen Heimlich; 02/2020)
Jasmin Schreiber: "Marianengraben"
Eichborn, 2020. 254 Seiten. (Ab 16 J.)
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