Ilja Leonard Pfeijffer: "Grand Hotel Europa"
Was es bedeutet, Europäer
zu sein
Ilja Leonard Pfeijffers Roman "Grand Hotel Europa", der in den
Niederlanden ein Verkaufserfolg wurde, beschäftigt sich opulent mit
Europa, seiner Vergangenheit, dem Massentourismus und der Frage, was es
bedeutet, Europäer zu sein. Es ist ein wahrlich umfassendes Buch, das
Pfeijffer hiermit vorlegt.
In einem Interview sagte der Schriftsteller, dass "eines der
Kennzeichen des alten Kontinents die Anwesenheit der Vergangenheit
ist". So kreiert er eine zweite Ebene, nämlich die eines "Grand
Hotels Europa", reich an Geschichte, Plüschsofas und Möbeln, kein
modernes Boutique-Hotel, sondern eines, dessen Name in goldenen Lettern
über dem marmornen Eingangsportal hängt. Dort empfängt der junge Page
Abdul in klassischer roter Livree den alternden Schriftsteller
Pfeijffer, der sich im Hotel als Dauergast einquartiert. Bei einer
Zigarette kommen sich die beiden näher, und so berichtet der
Ich-Erzähler einerseits dem Pagen die Geschichte seiner verflossenen
Liebe Clio, die er gerne zurückerobern möchte, und abwechselnd dazu dem
Leser die Geschichte Europas, des Hotels und so fort.
"Das Zimmer war einfach perfekt, nicht etwa, weil es ein perfektes
Hotelzimmer gewesen wäre, sondern gerade weil es das nicht war. An
dieser Suite hatte sich kein Interior designer unter Zuhilfenahme
eines anonymen und zweckmäßigen Entwurfs verkünstelt, sondern hier
hatte ein Übermaß an Geschichte desperat seufzende Spuren
hinterlassen." (S. 13)
Dieser Satz ist symbolisch. Vor allem im Hinblick darauf, was der Autor
möchte, nämlich das altehrwürdige, aber etwas abgetakelte, in die Jahre
gekommene Hotel als Parallele zu Europa zeigen. Das Hotel droht, ebenso
wie der Kontinent, unter der Last seiner Vergangenheit
zusammenzubrechen. Gibt es eine Zukunft? Irgendwie spiegelt sich genau
diese Frage in den vielen Geschichten, die diesen so opulenten Roman
ausmachen.
Während der im Hotel untergekommene Schriftsteller, zumindest
Namensvetter des Autors, in der Vergangenheit sucht, keinen Satz ohne
Gespräch mit der Tradition schreiben kann, ist die Vergangenheit für
Abdul, dessen Flucht über das Meer nach Italien begann, etwas
Schlechtes, ein böser Ort, den jeder Mensch so schnell wie möglich
vergessen sollte. Seiner Meinung nach ist es die Zukunft, die
erstrebenswert ist, weil sie sich erst einstellen muss und weil man sie
noch lenken kann.
"Abdul erzählt die Geschichte vom bewaffneten Angriff auf sein Dorf
und dessen Verwüstung präzise so, wie Vergil Aeneas die gewaltsame
Einnahme Trojas erzählen lässt. Die Geschichte findet sich im zweiten
Buch der Aeneis. Abdul schickt dem Überfall auf das Dorf zwei
Vorzeichen voraus, was Vergil ebenfalls tut. Dann erzählt er vom Tod
eines heiligen Mannes, der im Dorf an einem Schlangenbiss stirbt. Bei Vergil
töten zwei Schlangen den Priester Laokoon. Kurz darauf berichtet
Aeneas, dass Hektor, ein naher Verwandter, ihm im Traum erschienen
sei. Auch Abdul erzählt von einem Traum, in dem er seinen verstorbenen
Bruder zu sehen glaubt. Die Details stimmen überein." (S. 340)
Ein weiteres Thema, das durch fast alle Geschichten dieses Romans wie
ein alles durchdringender Wind weht, ist das des Massentourismus.
Genauer gesagt, dessen Schattenseiten. Europa wird auch hier symbolisch
zu einem riesigen Museum, das von Selbstporträts knipsenden Horden
unterschiedlicher Touristentypen gestürmt wird. Vor allem Venedig
und seine durch die engen Gassen fegenden Scharen stehen hier im
Mittelpunkt. Pfeijffer schreibt über Touristen, die auf der Suche nach
der ultimativen Befriedigung alles hinnehmen, sogar ethisch-moralisch
verwerfliche Erfahrungen. Alles wird festgehalten, nachgedacht wird
nicht.
"Es ist schade, dass ich meine Eindrücke nicht alle gleichzeitig
aufschreiben kann, denn noch mehr als diese gewaltige Bildergalerie
verblüffte mich die Tatsache, dass kein Mensch zu sehen war. Ich war
ganz allein mit der Last der mazedonischen Geschichte und dem
getragenen Soundtrack sakral sanktionierter Symphonien. Und noch
während der Surrealismus der verlassenen Kulissen auf mich einen
überwältigenden Eindruck machte, gelangte ich zu der Erkenntnis, dass
dies alles falscher Nippes war. Die Statuen waren jüngsten Datums, das
konnte ich sogar ohne Clios fachkundiges Wissen erkennen. Sie waren
geschmacklos und schlecht." (S. 246)
Pfeijffer, der Protagonist, will im Hotel ein Buch schreiben. Dabei will
er sich darüber Klarheit verschaffen, weshalb seine große Liebe zu Clio,
einer etwas schrägen, vielleicht gar stark kapriziösen
Kunsthistorikerin, keine Zukunft hat. Mit Clio war er viel unterwegs,
Amsterdam, Venedig, unterschiedlichste Reisen. Als ein niederländisches
TV-Team anreist, um einen "Arthouse"-Film über den Schriftsteller zu
drehen, schlägt Clio vor, dass er doch das Thema Tourismus als
Hauptfokus einbringen solle. So verschafft sich Pfeijffer, der Autor,
viel Raum für essayistische, politische, philosophische, satirische
Diskurse zum Thema, das über Cinque
Terre bis hin zu überlaufenen italienischen Stränden führt. Die
Dekadenz dieses Tuns, begünstigst durch Billigflieger, Medien,
Werbung und diverse Festivals, lässt bei Pfeijffer, dem Protagonisten,
die Wogen hochgehen.
Der Protagonist diskutiert immer wieder mit neu hinzugekommenen Gästen
des Hotels. Europa auch hier Thema Nummer eins. Schräge, skurrile,
mondäne Figuren, die aus einem modernen Roman Thomas Manns entsprungen
sein könnten, eines Thomas Mann allerdings, der die
selbstfotografiergeilen Touristen unserer Zeit kennt.
Das alles liest sich ausgesprochen gut. Pfeijffers Erzählduktus, seine
frei schwingende, fast tänzelnd abwechslungsreiche, blendend übersetzte
Prosa ähnelt vielleicht ein wenig dem Typus des "Erzählers aus dem
Bekanntenkreis", den wahrscheinlich jeder von uns kennt. Es ist der
eloquente, kluge, feinsinnige, satirische und sich selbst unendlich gern
zuhörende Onkel/Freund/Vater/Schwager, der bei Familienfeiern regelrecht
aufblüht - der Rezensent nennt hier bewusst nur männliche Varianten -,
der von einem Thema zum nächsten springt, der zwar Fragen in den Raum
wirft, sie aber selbst beantwortet. Mit dem kleinen Unterschied, dass
Pfeijffers Roman wirklich spannend und äußerst unterhaltsam ist.
Außerdem, während man den Onkel kaum mit einem Lesezeichen zuschlagen
und für einen Tag weglegen kann, um ihn dann wieder still und leise
weitererzählen zu lassen, klappt das mit diesem Roman wunderbar. Eine
sehr erfreuliche Lektüre, die lange nachhallt und zum Nachdenken
auffordert.
(Roland Freisitzer; 10/2020)
Ilja
Leonard Pfeijffer: "Grand Hotel Europa"
(Originaltitel "Grand Hotel Europa")
Übersetzt von Ira Wilhelm.
Piper, 2020. 556 Seiten.
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Ilja Leonard Pfeijffer,
geboren 1968 im niederländischen Rijswijk, schreibt Romane, Geschichten,
Gedichte, Kolumnen, Essays, Theaterstücke und Liedtexte. Anno 2008
übersiedelte er nach Genua, wo er auch heute noch lebt und arbeitet.
Ein Buchtipp:
David Schalko: "Bad Regina"
Eine bitterböse und urkomische literarische Fantasie über den Untergang
Europas.
Eine Geisterstadt im Herzen der Alpen, ein mysteriöser chinesischer
Immobilienmogul und ein uralter Jude, der zurückkehrt in eine
untergehende Welt - David Schalkos neuer Roman ist eine brillante
literarische Allegorie auf einen sterbenden Kontinent. Nur noch wenige
Verbliebene leben in Bad Regina, einem einst glamourösen Touristenort in
den Bergen, starren auf die Ruinen ihres Ortes und schauen sich selbst
tatenlos beim Verschwinden zu. Denn ein mysteriöser Chinese namens Chen
kauft seit Jahren für horrende Summen ihre Häuser auf - nur um sie
anschließend verfallen zu lassen. Als er auch noch das Schloss des
uralten örtlichen Adelsgeschlechts erwerben will, entschließt sich
Othmar, der von Gicht geplagte ehemalige Betreiber des berühmtesten
Partyclubs der Alpen,
herauszufinden, was es mit diesem Chen auf sich hat und was dieser mit
Bad Regina vorhat. Dabei erleben Othmar und die verbliebenen Einwohner
eine böse Überraschung ...
Inspiriert von dem Schicksal Bad Gasteins, dem ehemaligen Monte Carlo
Österreichs, entwirft David Schalko in "Bad Regina" eine faszinierende
Geisterwelt, in der nicht nur die Bauwerke, sondern auch die wenigen
verbliebenen Bewohner wankende Ruinen der Vergangenheit sind. Ein
bitterböser und gleichzeitig urkomischer Roman über ein Europa, das
immer und immer wieder moralisch versagt - und über dessen Zukunft nun
Andere entscheiden. (Kiepenheuer & Witsch)
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