Marion Messina: "Fehlstart"
Literarisch betrachtet,
definitiv kein Fehlstart
Marion Messinas Debütroman "Fehlstart" ist definitiv kein erbauliches
Buch. Es ist eines, das zum Träumen oder gar Schwelgen in
melancholischer Nostalgie einlädt. Jenes Frankreich, das die
französische Autorin schildert, ist hart und unerbittlich. Den
Protagonisten dieses Romans wird wahrlich nichts geschenkt, und sich
selbst aus der Bredouille ziehen, scheint zumindest ein Ding der
Unmöglichkeit zu sein, wenn man nicht aus den "richtigen" Verhältnissen
stammt.
"Alejandro war mit dem trockenen Mund und dem Halbsteifen eines
verkaterten Morgens aufgewacht. Als er sich mühsam streckte, berührten
seine schmalen Handflächen den Balken, der durch das einzige Zimmer
seiner Wohnung lief. Er hatte Hunger. Der bei Emmaus gekaufte
Kühlschrank roch säuerlich nach Nudeln mit Speck. Er zog dieselbe
Unterhose wie seit drei Tagen an, streifte einen für den Winter in
Grenoble zu dünnen Pullover über und überflog die Liste seiner
Downloads." (S. 7)
Im Mittelpunkt des Romans stehen zwei jungen Menschen, die es warum auch
immer nicht schaffen, aus dem deprimierenden Trott auszubrechen, der ihr
Leben ist. Da ist einerseits Alejandro, der junge Kolumbianer, der dank
seines Latino-Schönlingsseins keine Mühe hat, in Frankreich
Sexpartnerinnen zu finden. Mehr will er nicht, für mehr ist in seinem
Leben kein Platz. Während er in Kolumbien aus einer Mittelschichtfamilie
stammt, lebt er in Frankreich als Student in trostlosen Verhältnissen.
Alkohol, Joints, Pornodownloads, flüchtiger Sex - das
sind die Eckpfeiler seines Lebens in Grenoble. Langsam aber sicher
entfremdet er sich von seinem Heimatland, in Frankreich gehört er
schlichtweg nicht dazu. Als er Aurélie kennenlernt, teilt er ihr gleich
mit, dass sie den Sex mit ihm nicht mit einer Beziehung verwechseln
soll. Seine Freiheit ist de facto sein einziges Kapital, das er nicht
verlieren will. Als ihm klar wird, dass zwischen Aurélie und ihm doch
mehr wird, als er je zulassen wollte, flieht er nach Lyon.
Aurélie ist die wahre Hauptprotagonistin, eine wunderbar gezeichnete
Figur, die diesen Roman besonders lesenswert macht. Während Alejandro
bewusst ungreifbar bleibt, lässt die Autorin hier viele Farbtöne und
Schattierungen zu.
"Sie strahlte, wenn er mit ihr ausging, ohne ihn unternahm sie
nichts. Sie vertrug beeindruckende Mengen Bier, was ihr in der oft
anzüglichen, aber freundlichen Tischrunde Sympathiepunkte einbrachte.
Sie tanzte sehr schlecht Salsa, aber alle taten, als wären sie
beeindruckt, wenn sie schwerfällig die Beine bewegte, alle mochten
sie, und Alejandro war sehr stolz, einmal eine Französin in sein Bett
gelockt zu haben, für die er sich nicht schämen musste. In der
Öffentlichkeit küssten sie sich nicht und hielten nicht Händchen."
(S. 57)
Aus armem Elternhaus stammend, muss sich Aurélie bald mit der Tatsache
abfinden, dass Schulabschluss und Jusstudium in Frankreich noch immer
keine Garantie dafür sind, gleiche Chancen zu haben. So fühlt sich ihr
Leben an, als wäre es bereits vorbei, bevor es richtig begonnen hat. Sie
arbeitet als Putzfrau und lernt so Alejandro kennen, in den sie sich
trotz dem Wissen, dass ihre Beziehung ebensowenig Chance hat wie ein
gesellschaftlicher Aufstieg und Erfolg, verliebt. Als sie sich zu nahe
kommen, flieht Alejandro nach Lyon, und Aurélie versucht, in Paris dem
Elend zu entkommen.
"Sie fühlte sich mit allen Straßenkehrern, Schweißern,
Gebäudereinigern, Toilettenfrauen, Busfahrern und Verteilern von
Gratiszeitungen verbunden, die schon arbeiteten, wenn sie aufstand.
Ihr Hosenanzug schuf eine Distanz, sie hätte ihnen nur schwerlich
erklären können, dass viele, die so herausgeputzt waren, auch nur
Mindestlohn bekamen; die Arbeiter und ihresgleichen begriffen das
nicht, aber die Betroffenen sahen den Unterschied in der Qualität der
Kleidung sehr deutlich." (S. 98)
Die harte Arbeitswelt, in der jeder austauschbar ist, wenn er nicht
spurt und jene Krümel akzeptiert, die unter der Maske des Mindestlohn
ausbezahlt werden, ist hier so schonungslos gezeichnet wie selten. Das
führt dazu, dass sie bereit ist, alles zu tun, um am Ende des Monats
außer der Miete noch ein wenig übrig zu haben. Sie lässt sich mit einem
reichen, älteren Mann ein, der sie jedoch ebenso schonungslos ausnutzt
wie ihre Arbeitgeber. Als sie dann zufällig Alejandro in Paris begegnet,
fällt auch dieses künstlich aufrecht erhaltene Kartenhaus einer Beziehung
in sich zusammen.
"Das Gehalt von Aurélies Eltern lag unter der Steuergrenze; ihr
eigenes Dossier war dünn, nur drei Gehaltsbescheinigungen, knapp über
dem Mindestlohn. Sie war nicht in
Paris, um ein angesehenes Studium fortzusetzen, was ihr die
Sympathie der Vermieter hätte einbringen können, sie hatte keinen
einflussreichen Freund, dessen anständiges Gehalt als Bürgschaft hätte
dienen können, keine Großeltern mit wertvollem Grundbesitz. Die für
eine Bewerbung nötigen Unterlagen, die man am Telefon verlangte,
variierten; sie fragte sich, ob nicht bei manchen ein perverses oder
voyeuristisches Vergnügen dahintersteckte, und rechnete damit,
irgendwann eine Gesundheitsbescheinigung des Gynäkologen oder die
Taufurkunde ihrer Mutter vorweisen zu müssen." (S. 104)
Marion Messinas Roman besticht durch die teilweise seltsam unterkühlt,
nüchtern und fast analytisch wirkende Prosa, fabelhaft von Claudia
Steinitz übersetzt, die dazu führt, dass diese Geschichte von Aurélie
und Alejandro besonders authentisch wirkt. Die hier gezeichnete
Chancenlosigkeit, die Ungleichheit der weiblichen und männlichen
Sexualität im Zeichen der durch die Wirtschaftskrise ins Abseits
beförderten jungen Generation, liest sich als beklemmende, literarische
Sozialstudie, die nie überspitzt wirkt.
Auf der Buchrückseite wird eine Rezension aus "Il Giornale" zitiert, die
einen Vergleich mit Michel
Houellebecq rechtfertigt. Der Rezensent sieht lediglich dort
Ähnlichkeiten, wo es um die Trostlosigkeit bzw. Ausweglosigkeit der
Figuren geht. Anders als bei vielen Romanen Michel Houellebecqs hat man
beim Lesen von Marion Messinas "Fehlstart" nie das Gefühl, einer
Verherrlichung oder provokanten, fast genussvoll zelebrierten
Überspitzung beizuwohnen. So trist hier auch alles ist, ist Messinas
Zugang doch ein sehr feiner, gut abgestimmter. Alles, was sie in diesen
Roman verpackt hat, dient einzig und allein der Sache, will Aurélies
Leben zeichnen, ohne Mitleid zu erhaschen oder sich an ihren schlechten
Entscheidungen oder ihrem Schicksal zu ergötzen. Das ist wahrlich große
Literatur.
(Roland Freisitzer; 02/2020)
Marion Messina: "Fehlstart"
(Originaltitel "Faux départ")
Übersetzt aus dem Französischen von Claudia Steinitz.
Hanser, 2020. 166 Seiten.
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