Ernst Lothar: "Das Wunder des Überlebens"
Erinnerungen
Österreichische
Kulturgeschichte und heillose Heimatliebe in bewegten Zeiten
Ältere haben Ernst Lothar vielleicht noch als Theaterregisseur und Ehemann der Schauspielerin Adrienne Gessner in Erinnerung, manche werden seinen größten Erfolg, den Roman "Der Engel mit der Posaune" gelesen haben, äußerst lesenswert ist indessen auch seine autobiografische Schrift "Das Wunder des Überlebens", geradezu unabdingbar dann, wenn man kulturbewusster Österreicher ist, findet sich darin doch ein halbes Jahrhundert österreichische Kulturgeschichte kompakt und aus erster Hand beschrieben.
Die Erinnerungen setzen in
Altösterreich ein, in Brünn nämlich, wo der Autor in einer kinderreichen
jüdischen Rechtsanwaltsfamilie als Ernst Lothar Müller 1890 das Licht
der Welt erblickt. Es ist zwar noch nicht das hochliterarische Brünn
eines Bohumil
Hrabal, Milan
Kundera oder Jiři Kratochvil, aber unliterarisch
ist es beileibe nicht; der kleine Garten beherbergt eine Welt für sich,
die zum Weiterspinnen der gehörten Märchen einlädt und auch sonst
fantasieanregend wirkt, die Deutsch-Mährer Karl
Hans Strobl, Autor fantastischer Geschichten und damals schon im
Einsatz für die deutsche Volksgruppe, und Richard Schaukal, modisch und
hoffähig, kann man beim Straßenbummel beobachten, ein acht Jahre älterer
Bruder Ernst Lothars, Hans Müller, hat bereits eine
Schriftstellerkarriere als Dramatiker begonnen, die ihm einigen Erfolg,
allerdings auch Karl
Kraus als unerbittlichen Kritiker einbringen wird, und auch Ernst
Lothar selbst zeigt, als die Familie nach Wien übersiedelt, bereits
deutlich größere Neigung zur Literatur als zum begonnenen Jusstudium.
Gelegenheit zu schreiben, zunächst von Theaterkritiken für Zeitungen,
findet Ernst Lothar, wie er sich bald den Müller abwerfend nennt, und
Großneffe des berühmt-berüchtigten Musikkritikers Eduard Hanslick, der
er ist, sehr rasch, und hat denn auch schon Eigenes veröffentlicht, als
er schließlich zu seinem letzten Rigorosum antritt. Zunächst wachsende
Irritation, als ihn der Professor statt zu Rechtlichem zu seinen
Artikeln für die "Neue Freie Presse" und seine Kunstauffassung befragt
...
"... Das Nachahmen der überzeitlichen ist Sache der Epigonen, das
Der-Zeit-Ausweichen ist Sache der Amüseure. Die es ernst meinen,
suchen in der Kunst ihre Zeit und umgekehrt."
"Und Sie meinen es ernst, Herr Kandidat?" Sein sarkastisches
Lächeln begleitete die Frage, und weil ein solemner Durchfall jetzt
unzweifelhaft war, bejahte ich sie. Jedoch der supplierende Prüfer für
Kirchenrecht zeigte ein Lächeln. "Was wissen Sie vom Aufgabenkreis des
Patrons?"
Aus dem Schnellsiederkurs fiel mir ein lateinischer Vers ein:
"Patrono debetur honor, onus, utilitasque,
Praesentat, praesit, defendat, alatur egenus."
Der Prüfer stand auf. "Ausgezeichnet, Herr Kandidat. Ich hoffe, dass
Sie das bald wieder vergessen werden. Meinerseits habe ich vergessen,
Ihnen zu sagen, dass ich Ihr Novellenbuch "Die Einsamen" für eine
Talentprobe halte. Schaun'S nur, dass Sie den Schnitzler nicht
kopieren! Kirchenrecht werden Sie jedenfalls nicht mehr brauchen!" Und
ging."
Wie typisch österreichisch! Unter der Maske des Sarkasmus Teilnahme;
im exakten Beruf die Lust am Musischen. Dass die Wiener Chirurgen
Klarinette, die Internisten Geige, die Laryngologen Klavier spielten,
wusste ich aus den Büchern Arthur
Schnitzlers, den nicht zu kopieren mir empfohlen war; dass die
Staatsrechtslehrer in Literatur dilettierten, erfuhr ich jetzt. Eine
Stunde später stand ich, "per majora" approbiert, in der wolkenlosen
Sonne. Von den vier Prüfern hatten nur drei mir ihre Stimme gegeben.
Sollte der für das Kirchenrecht supplierende Staatsrechtslehrer sie
mir verweigert haben? Auch das wäre typisch österreichisch gewesen.
Man zeigt Charme und hat Tücke." (S. 19/20)
"Der Tag, an dem
Österreich-Ungarn unterging, traf mich ins Herz. Wir wussten mit
schneidender Klarheit: Etwas Unersetzliches war gestorben,
dessengleichen nicht wiederkam." (S. 29)
Nichts anderes als der äußerst schmerzhaft empfundene Heimatverlust
durch den Zerfall Österreich-Ungarns ist der Grund von Ernst Lothars
einzigem Besuch bei Sigmund
Freud. Ernst Lothar betrauert an dem Zerfall der Monarchie in
allererster Linie den Kulturverlust, zitiert den Montaigne-Spruch,
wonach das Geheimnis der Fruchtbarkeit in einer Mischung aus dem
Konträren der Existenz besteht, gibt natürlich auch wieder, was ihm der
berühmte Psychiater ("Da saß
dieser Mann am Schreibtisch und machte eine Röntgenaufnahme der Seele
mit nichts als seinen Augen."; S. 31)
zu entgegnen hatte, und scheint im weiteren die Gefühle für das gewesene
Österreich so weit es ihm möglich auf das übriggebliebene übertragen zu
haben.
Schon bald ergibt sich
Gelegenheit, für dieses etwas zu tun. Noch im Krieg hat der
Staatsanwaltsgehilfe Ernst Lothar aufgrund traumatischer Erfahrungen mit
der Relativität des Rechts und einem Todesurteil um Zuweisung eines
anderen Aufgabenbereichs ersucht. Nun erleben wir ihn beim "Dichten in
Akten", wie der Rat Stefan Zweigs, in dessen Wohnung eine illustre Runde
meist jüngerer Schriftsteller (Robert
Musil, Franz Werfel, Hermann Broch, Felix Braun, Franz Theodor
Czokor) zusammenkommt, an den schreibenden Beamten lautet. Der
wichtigste Akt, zu dem er beiträgt, ist ohne Zweifel die Gründung der
Salzburger Festspiele, wo er zwischen den zuständigen Ministerien und
den Antragstellern Hugo
von Hofmannsthal und Max
Reinhardt gekonnt und gewitzt vermittelt.
Die Bekanntschaft mit letzterem, der viel von Ernst Lothar hält und
ihn protegiert, befeuert seine etwas
ins Stocken geratene Künstlerkarriere. Er beginnt mit Regiearbeiten fürs
Theater, erwirbt sich einen Ruf als Grillparzer-Spezialist und erhält
1935 schließlich den Posten des Direktors am Theater in der Josefstadt.
Die Geschichte eines aus Deutschland geflüchteten jüdischen
Schauspielers, der sich als Salzburger Naturtalent ausgeben muss um
Anstellung zu finden, veranschaulicht trefflich den Wahnwitz der
damaligen Zeit. Das unselige Jahr 38 naht, die Vorstellung, als
Theatermensch etwas gegen den Nationalsozialismus bewirken zu können,
erweist sich als illusorisch, die guten Kontakte zu Vertretern des
Ständestaats als vergebens. Nur wenige Tage nach dem Anschluss und
keinen Tag zu früh begibt er sich, während die nichtjüdische bzw.
arische Frau Adrienne vorläufig in Wien verbleibt, mit seiner Tochter
aus erster Ehe auf die Flucht, die eine abenteuerliche Erzählung für
sich darstellt und die schlagartig brutal, besonders für Juden
lebensbedrohlich gewordenen Verhältnisse nur allzu deutlich macht.
Jedoch unerwartet eine kleine Verheißung an der Schweizer Grenze
bereithält:
"Es war ein einfacher, dutzendhaft aussehender Mann, er blieb in
unserer Nähe, warnte uns, sobald jemand sich zeigte, dem er nicht
traute, assistierte, als die Zollwächter unsere Koffer öffneten, ließ,
indem er es prüfend an sich nahm, ein Buch verschwinden, das er für
kompromittierend hielt, half Hansi in den Waggon und stand salutierend
davor, als das Abfahrtssignal gegeben wurde. Er grüßte nicht den
deutschen Gruß, sondern rief: "Auf Wiederschaun in Österreich!" Dazu
müsste ein Wunder geschehen, dachte ich, während der Zug zu fahren
begann. Das Wunder jedoch hatte sich bereits ereignet, es salutierte,
winkte, ein Inspektor namens Moser." (S. 99/100)
Ein paar Monate Schweizer Exil bei seinem Bruder Hans, ein knappes Jahr
in Paris, aus welchem Ernst Lothar ebenfalls einige typische Szenen zu
berichten weiß, etwa von einer traurigen Weihnachtsfeier
österreichischer Exilanten, unter anderen Joseph
Roth und Otto von Habsburg, mit eigenen Gedichten und Schuberts
Unvollendeter, schließlich erhält er das heißersehnte (nicht, dass er
Europa gern verlassen hätte, ganz und gar nicht) Visum in die USA.
Ausführlich beschäftigt sich
Ernst Lothar auch mit den Jahren im amerikanischen Exil. Zunächst
scheint sich seine Skepsis zu bestätigen, indem er mit einem Schlag nur
noch einer von zahllosen Flüchtlingen ist, die Suche nach Arbeit sich
nicht weniger zäh und aussichtlos als in Paris gestaltet, sein Englisch
noch sehr zu wünschen übrig lässt und die militärischen Erfolge Hitlers
in Europa nicht gerade aufbauend wirken. Er berichtet im weiteren, wie
er schließlich doch Erfolg als Schriftsteller und eine Gastprofessur für
Literatur an einer Provinzuniversität bekommt, wie er das riesige, kaum
an Österreich erinnernde Land schließlich über die
Überlebensversicherung hinaus, die es für ihn von Anfang an bedeutete,
schätzen und zum Teil auch lieben gelernt hat (mit Ausnahme Hollywoods,
der "Traumfabrik" kann er bis zum Ende nichts abgewinnen).
Der Kriegseintritt der USA bedeutet für ihn eine innere Befreiung, umso
schwerer nimmt er hingegen Frage und Forderung nach seiner Loyalität, da
er sich weiterhin emotional der österreichischen Heimat verbunden fühlt
und dies auch bei seiner Bewerbung um die us-amerikanische
Staatsbürgerschaft nicht gänzlich verheimlichen kann (und er wird, als
er bald nach dem Krieg wieder vom US-Amerikaner zum Österreicher wird,
damit für einiges Befremden sorgen). Natürlich werden auch hilfreiche
amerikanische Bekanntschaften und Begegnungen mit anderen Exilanten aus
Europa geschildert, etwa kurz vor Kriegende mit Stefan
Zweig, der ungeachtet der sich abzeichnenden Niederlage des
Deutschen Reichs sehr pessimistisch in die Zukunft blickt. Das Ende
seines Freundes und Förderers Max Reinhardt erlebt er 1943 in New York
aus nächster Nähe.
Die Sehnsucht nach Österreich
wird mit dem Kriegsende nicht kleiner, und Ernst Lothar reist bei der
ersten sich bietenden Gelegenheit nach Wien, freilich nicht als
Privatmann, sondern Angehöriger des US-Militärs, als welcher er in der
unmittelbaren Nachkriegszeit an der Entnazifizierung von
Kulturschaffenden mitwirkt. Beim Beschreiben dieser Tätigkeit geht er
offenbar weniger ins Detail, als er könnte, genügend jedoch, um die
Grundproblematik aufzuzeigen, den schnell stärker werdenden Hang,
Pragmatismus über die Moral zu stellen, sei es, weil seitens der
amerikanischen Besatzer andere Interessen vorrangig werden, sei es
starke Subjektivität seitens der damit beauftragten Rückkehr-Europäer,
die von den zu beurteilenden Kulturgrößen bereits fertige Bilder
mitbringen.
Dass Paula Wessely der zweite Besuch ist, den der "Herr Direktor" (bzw.
"Herr Hofrat") nach seiner Rückkehr nach Wien erhält, bestätigt ihn in
der hohen Meinung von ihr, und hätte die amerikanische Militärführung
nicht ihr entschiedenes Veto eingelegt, hätte die Diva trotz des in der nationalsozialistischen Zeit gedrehten Propaganda-Films "Heimkehr" von ihm vermutlich
sofort wieder die Arbeitserlaubnis erteilt bekommen. Ein wenig
differenzierter fällt nach einer Erstbegegnung seine Beurteilung des ihm
noch nicht bekannt gewesenen Herbert
von Karajan aus, als es heißt, die Salzburger Festspiele müssten
unbedingt, aber ohne diesen, wieder stattfinden. Dessen älterer Kollege
wiederum, Wilhelm Furtwängler, erhält, ohne sich weiter rechtfertigen zu
müssen, von Ernst Lothar mittels des verpassten Etiketts "Romantiker"
quasi die sofortige Absolution und revanchiert sich, indem er einem
weiteren Dirigenten, dem mit Ernst Lothar befreundeten Bruno Walter, die
Gelegenheit zu so etwas wie einem privaten Verhör einräumt. Als
Furtwängler schließlich das erste Mal seit Kriegsende wieder in Wien den
Takt vorgibt, kommt es im Großen Saal des Musikvereins zunächst zu
Tumulten, als Holocaustüberlebende ihrer Empörung Ausdruck verleihen.
"Die Situation wurde unhaltbar. Da ich unter keinen Umständen
zugegeben hätte, dass amerikanische Militärpolizei gegen ehemalige
Konzentrationslagerhäftlinge zu Hilfe gerufen werde, bat ich den
damaligen Stadtrat für das Kulturwesen, Matejka, das Wort zu ergreifen
und die Demonstranten zu beruhigen. Selbst ein Naziopfer, tat er es in
überzeugender Weise. Der Sturm legte sich, die Demonstranten verließen
den Saal, die Philharmoniker griffen nach den Instrumenten, und
Wilhelm Furtwängler erhob den Stab. Fünf Minuten später herrschte Beethoven,
die einzige Diktatur, der die Wiener sich enthusiastisch fügten.
Jedoch das Unvergesslichste an der Denkwürdigkeit bleibt mir einer der
Hauptdemonstranten, der mit wilden Entschlüssen zurückgekommen sein
mochte, dann aber mit einem hingenommenen, fast verklärten Ausdruck
auf der Galerie stehenblieb und lauschte. Es gibt weniges, das den
Wienern mehr Ehre macht." (S. 274)
Ernst Lothar schreibt sein
Erinnerungsbuch als erfahrener Schriftsteller, welcher
es gewohnt ist, den Leser nicht zu langweilen, und weitgehend ohne Eitelkeiten, sodass er auch weniger erfolgreich Verlaufenes nicht verschweigen muss, etwa sein Bemühen um Adaptierung der
Jedermann-Aufführungen bei den Salzburger Festspielen, an denen er nach
dem Krieg in verschiedener Funktion mitwirkt, oder eine Premiere, die ihm der angereiste Max
Reinhardt mit ein paar raschen Veränderungen in den Stunden zwischen
Generalprobe und Aufführung gerettet hat.
Ein kurzes Resümee über die gravierenden Veränderungen technischer, gesellschaftlicher und politischer Art während seiner bisherigen Lebenszeit, beschließen
"Das Wunder des Überlebens": von der Monarchie zum Staatsvertrag, vom
Gaslicht zur Kernenergie, "Fortjagen bis zum Herzinfarkt des
Herzlosen.", gleichbleibend hingegen die Lust, das
niederzuschreiben, was man für wahr hält, und ganz zum Schluss ein Adalbert-Stifter-Zitat.
(fritz; 01/2021)
Ernst Lothar: "Das Wunder des Überlebens.
Erinnerungen"
Mit einem Nachwort von Daniel Kehlmann.
Zsolnay, 2020. 464 Seiten.
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