Jean-Marie Gustave Le Clézio: "Alma"
Wer suchet, der findet:
Warten auf Dodo?
Jean-Marie Gustave Le Clézio, der Literaturnobelpreisträger des Jahres
2008, wurde am 13. April 1940 als Sohn einer Französin und eines
britischen Arztes in Nizza geboren, familiäre Bande reichen auch nach
Mauritius, in die einstige französische Kolonie. Somit war und ist es
für den Autor naheliegend, diese Insel im südwestlichen Indischen Ozean
immer wieder als Romanschauplatz zu wählen.
Le Clézio verbrachte seine Kindheit und Jugend in Requebillière, in
Nizza und aufgrund der Berufstätigkeit seines Vaters in Nigeria. Mit
seiner Frau Jemia lebt der seit seiner Jugend Vielreisende abwechselnd
in Albuquerque in Neumexiko, auf der Insel Mauritius und in Nizza.
Den Literaturnobelpreis erhielt er für sein Schaffen als
"Urheber neuer Aufbrüche, des poetischen Abenteuers und der sinnlichen
Ekstase, Erforscher einer Menschlichkeit außerhalb und unterhalb der
herrschenden Zivilisation". Immerhin liefern derlei
hochgestochene Argumente, wenn schon keinen Grund, sich mit dem Werk des
Ausgezeichneten zu befassen, so doch Anlass zum Schmunzeln, und im
konkreten Fall sogar Hinweise auf die nicht selten im deutschsprachigen
Raum geäußerte Einschätzung, Le Clézio sei ein eher blasser
Vielschreiber, profitiere von plakativem Exotenbonus und neige zu
überbordendem Sprachkitsch. In Frankreich hingegen zählt er zu den
allgemein anerkannten Größen seiner Zunft. Augenscheinlich wieder ein
Fall von "andere Länder, andere Sitten".
Und was die in jüngerer Zeit auffallend häufig prämierte, in
Vergabebegründungen kaum jemals präzisierte "Menschlichkeit" anbelangt,
drängt sich unweigerlich die Frage auf, ob es nicht eher vor allem die
sprichwörtliche Unmenschlichkeit ist, welche den Autoren seit jeher
unerschöpflichen Stoff liefert?
Romane sind freilich keine Wunschkonzerte, und "Malen nach Zahlen"
sollte ohnedies unter dem Niveau jedes Weltklasseautors sein.
Wie dem auch sei, handelt es sich bei Le Clézios "Alma" um einen
mehrstimmig angelegten Roman, der weniger mit Handlung und Tempo,
sondern mit Perspektivenwechseln und beschaulichen Beschreibungen von
Gegenwärtigem und Vergangenem zu überzeugen sucht. Nicht viel ereignet
sich, besonders die erste Hälfte des Romans weist nicht wenige Längen
auf, doch immerhin wortmalen die beiden so grundverschiedenen
Haupterzähler Bilder der Natur, der Geschichten und der Bewohner jener
Insel, die vor ihrer "Entdeckung" - (da ist sie ja schon wieder, die
"Menschlichkeit"!) - unter Anderem Heimat der binnen weniger Jahrzehnte
vom Menschen
ausgerotteten
Dodos war. Diese höllische "Menschlichkeit" sorgte bekanntlich
auch dafür, dass Urwälder abgeholzt und Sklavenarbeiter auf die Insel
gebracht wurden. Die Phase des ausbeuterischen Kolonialismus war für
Mauritius angebrochen. Davon und von mancherlei daraus resultierenden
Auswirkungen bis in unsere Tage hinein handelt "Alma".
Nach Kräften bemüht hat sich allem Anschein nach der am 17. Juni 1948
geborene promovierte Ethnologe und Literaturwissenschafter Uli Wittmann,
die Mehrstimmigkeit auch auf Deutsch möglichst authentisch zum Klingen
zu bringen, wobei er der Figur Dominique (genannt Dodo) Felsen in seiner
Übersetzung einen mitunter befremdlichen Sprachgebrauch
(Deutsch-Kreolisch?) auf den von Krankheit entstellten Leib geschneidert
hat. Im Deutschen ungebräuchliche Erzählzeitanwendungen und betont
umgangssprachliche Ausdrücke wie
"nix" sorgen wiederholt für Überraschungen, sobald Dodo mit
seiner Stimme aus der Vergangenheit das Wort an den Leser richtet. Ob
plötzlich Deutsch sprechende Einwohner der Insel Mauritius tatsächlich
so klingen, sei dahingestellt, ist jedoch wohl nicht weiter von Belang.
Der andere Haupterzähler ist der französische Wissenschafter Jérémie
Felsen, Nachfahre von Plantagenbesitzern, der in unserer Gegenwart auf
Mauritius ursprünglich nach Spuren des ausgerotteten Vogels Dodo suchen
möchte, dieses nicht unbedingt beharrlich betriebene Ansinnen jedoch
allzubald unter dem Eindruck der in mancherlei Hinsicht vereinnahmenden
Inselatmosphäre aus den Augen und sich in Augenblicksimpressionen und
Sehnsüchten, Moralbespiegelungen und Damenbekanntschaften verliert.
Wobei er, wie sich später herausstellt, besonders an einem dunklen
Familiengeheimnis interessiert gewesen wäre ...
Doch beobachtet der daheim in einer Beziehung Lebende nicht nur einmal
Krystal, eine blutjunge Prostituierte, und es kommt, wie es in Romanen
älterer Schriftsteller zu erwarten ist: Jérémie Felsen verfällt der
frechen Nixe Hals über Kopf, was in gewisser Weise lächerlich wirkt,
weil gerade er gnadenlos und moralinsauer über Lebende wie Tote zu
urteilen pflegt und auf unbeteiligte Weise einer Gesellschaftsutopie der
heilen Welt anzuhängen scheint - zumindest fernab der Heimat, das ist
einfach praktischer.
Dass dieser aus Frankreich angereiste privilegierte Jérémie vornehmlich
mit der Inseloberschicht in Kontakt kommt (Nobelhochzeit,
Geisterbeschwörung in erlauchtem Kreis, ...), erstaunt nicht weiter.
Immerhin beschert ihm ein gefühlsduseliger Gefängnisbesuch auch
ernüchternde Erkenntnisse.
Verbunden sind die beiden Männer durch die gemeinsame Familiengeschichte
und die ehemalige Tabakplantage "Alma": Jérémie Felsen entstammt dem nun
in Frankreich ansässigen Zweig, Dodo, der Spross aus der Verbindung
eines in Ungnade gefallenen Felsen mit einer kreolischen Sängerin,
fristet als obdachloser Bettler und Herumstreuner sein Dasein, aus dem
er ebenso neugierig wie wortreich berichtet, hat allerdings auch schon
weit bessere Tage gesehen, bevor ihn die Krankheit entstellte und der
Niedergang der Plantage einsetzte. Dass es ausgerechnet ihn auf zunächst
kirchlichen Pfaden nach Paris, und zwar auf dessen Schattenseite,
verschlägt, erstaunt, doch sind die Wege des Herrn bekanntlich
unergründlich. Und dann begibt sich der stets höfliche Habenichts Dodo
gen Süden ans Meer nach Nizza und erlebt dabei mancherlei Seltsames.
Kapitelweise abwechselnd und auch unterbrochen von Einschüben anderer
Erzählstimmen und von historischen Episoden gewähren die beiden
Felsen-Männer Einblicke in nicht nur ihre höchstpersönlichen
Geschichten, wodurch vor den Augen des Lesers aus dem Zusammenklingen
Zeiten- und Bilderwelten von verschiedenen Enden der
Gesellschaftshierarchie entstehen und sich gewissermaßen langsam
"möblieren". Zwischendurch werden wie erwähnt auch Betrachtungen durch
anderer Figuren Augen geboten und (auch furchtbare Schicksale und
Vorfälle) auffallend nüchtern ausgebreitet.
Eine dieser vorübergehenden Solostimmen stammt aus den Anfangszeiten der
Plantage, vom als Kind von "Teufeln" aus seiner afrikanischen
Heimat verschleppten Topsie, sodass auch Erinnerungen an Geschichten und
Mythen aus Afrika anklingen, eine andere von einem Abkömmling indischer
Einwanderer. Hübsch ist das Motiv des mehrmals auftauchenden "Sees der
Feen", jeweils individuell verwandelt.
Mittels der Figur der nach einer Vergewaltigung schwangeren Aditi,
Naturforscherin und Aussteigerin, taucht man in die Geheimnisse des
Waldes ein, wie überhaupt einige Romanstellen mit ansprechenden
Naturbeschreibungen aufwarten. Weniger geglückt mutet hingegen die
Beschreibung des einsamen Gebärens in der Wildnis an.
Leider hemmen unnötige Fehler (z.B. behauptet Dodo einmal, er könne
aufgrund seiner Krankheit nicht in die Knie gehen, was ihn wenige Seiten
später jedoch nicht daran hindert, in Paris ohne Weiteres schleunigst
auf die Knie zu sinken; ein Andermal werden offenkundig Wimpern mit
Lidern verwechselt) den Lesefluss. Die unverhohlene
Zivilisationsmüdigkeit der beiden Haupterzähler überträgt sich
unweigerlich auf den Leser, die Geschichten vom verdorbenen Paradies
sind zu abgedroschen, zu klischeehaft und zu leblos, um den heutigen
Leser in ihren Bann zu ziehen. Kolonialismus- und Zeitkritik (an
Tourismus, Einkaufszentren, Prostitution usw. usf.) wirken allzu
oberflächlich, geradezu pflichtschuldigst abgearbeitet. Mittelschwere
Resignation scheint den Roman zu durchziehen, vor allem die
Gegenwartsfiguren treiben eher ziellos umher, es will keine tragende
Atmosphäre entstehen, bestenfalls ein schütteres Mosaik.
Über den Dodo erfährt man leider enttäuschend wenig - beispielsweise,
dass der privilegierte Felsen sich die allzu zutraulichen Vögel
hauptsächlich rennend vorstellt und dass sie Mahlsteine in ihren Mägen
trugen. Ein trauriger Höhepunkt ist die alte Geschichte von der
Überführung eines krankhaft verfetteten Dodos nach England, wo diesen
alsbald ein romantisch verklärter Tod ereilt.
Der europäische Wissenschafter im Scheinparadies auf der Suche wonach
auch immer, der entstellte Insulaner als Ausreißer im französischen
Untergrund, die mädchenhafte Nutte auf Abwegen, die seelisch verwundete
Naturschützerin und viele Andere treten auf und wieder ab, ohne dass sie
bleibende Eindrücke hinterlassen würden. "Alma" wirkt gleichsam wie ein
Rundflug über einem geschichtsträchtigen Schauplatz, nach dem man aus
einem rasch verblassenden Traum von anderen Lebenswelten erwacht.
Und was den Dodo betrifft, heißt es wohl: Nicht verzagen, weiterwarten.
(kre; 03/2020)
Jean-Marie Gustave Le Clézio: "Alma"
(Originaltitel "Alma")
Aus dem Französischen von Uli Wittmann.
Kiepenheuer & Witsch, 2020. 368 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Digitalbuch bei amazon.de bestellen
Weitere Bücher des Autors
(Auswahl):
"Lied vom Hunger"
Hunger ist die Grundmelodie ihres Lebens. Ethel Brun lernt ihn
während des Zweiten Weltkriegs kennen, aber nicht nur den Hunger nach
Brot, sondern auch den nach Glück, nach Gerechtigkeit und Wahrheit.
In Paris leidet Ethel vor allem unter der unglücklichen Ehe der Eltern
und dem ständigen Streit ums Geld.
Der großspurige Lebensstil ihres Vaters Alexandre droht die Familie in
den Bankrott zu stürzen. Als die nationalistischen und antisemitischen
Töne in Frankreich lauter werden, kümmert sie sich - kaum zwanzig Jahre
alt - couragiert um die zerrütteten Finanzen und flieht mit den
hilflosen Eltern nach Nizza, nachdem die Deutschen Paris besetzt haben.
Nach bitteren Jahren des Hungers und innerlich von ihren Eltern gelöst,
heiratet sie und wird nach Kanada auswandern, in eine Welt ohne
Antisemitismus, ohne Kriege, ohne Hunger.
Völlig unpathetisch, in einer klaren, poetischen Sprache entwirft J.M.G.
Le Clézio das Bild einer dramatischen Zeit und einer unerschrockenen
jungen Frau. (Kiepenheuer & Witsch)
Taschenbuch
bei amazon.de bestellen
"Sturm. Zwei Novellen"
Die beiden Novellen in J.M.G. Le Clézios Buch sind wie die zwei Seiten
einer Medaille. Mit viel Einfühlungsvermögen und Gespür für Details
erzählt er von Menschen, die fernab der Schauplätze der Geschichte - auf
einer japanischen Insel, in Afrika, in der Pariser Banlieue - nach
schweren Schicksalsschlägen die Kraft für einen Neuanfang finden.
So wie in der Titelgeschichte der Journalist Philip Kyo, der auf der
japanischen Insel Udo einer verlorenen Liebe nachspürt und der schwer an
einer Verfehlung in seiner Vergangenheit trägt. Zwischen ihm und der
dreizehnjährigen, vaterlosen June, Tochter einer Muscheltaucherin,
entspinnt sich eine besondere Beziehung, die für beide zum Auslöser
wird, ihrem Leben eine neue Richtung zu geben.
Anders die Geschichte von Rachel aus der zweiten Novelle. Als ihre
Familie zerbricht und sie ihr geliebtes Afrika verlassen muss, um nach
Frankreich zu ziehen, ist sie gezwungen, sich nicht nur nach außen,
sondern auch im Verhältnis zu ihrer Familie völlig neu zu orientieren.
Ein schmerzhafter und langwieriger Prozess, bei dem nur die Liebe zu
ihrer Schwester sie vor einer Katastrophe bewahrt und ihr am Ende hilft,
eine wegweisende Entscheidung zu treffen.
Licht und Schatten, Tod und Neuanfang, Wissen und Nichtwissen, zwischen
diesen Polen siedelt Le Clézio seine Geschichten an. Den Blick
gleichermaßen nach innen und nach außen gerichtet. (Kiepenheuer &
Witsch)
Buch
bei amazon.de bestellen
Digitalbuch bei amazon.de bestellen
"Der Yama-Baum und andere Geschichten"
Im Mittelpunkt der Erzählungen stehen Menschen, meistens Frauen, die in
existenziellen Krisensituationen, seien sie privater oder politischer
Natur, Mensch und menschlich bleiben, indem sie sich auf das
Ursprüngliche in sich selbst besinnen: mit geschärften Sinnen durchs
Leben zu gehen und sich nicht korrumpieren zu lassen.
"Bis wohin sind wir bereit zu gehen? Bis zu welchem Punkt sind wir
lebendig?" Diesen Fragen geht J.M.G. Le Clézio in seinem Buch nach.
Die Heldinnen seiner Erzählungen durchleben private Krisen wie Ujine,
die in einer komplizierten Liebesbeziehung schwanger wird, fast daran
verzweifelt und dennoch die Stärke aufbringt, sich den Widrigkeiten des
Lebens entgegenzustellen. Oder Fatou von der Insel La Gorée, deren Liebe
allein stark genug ist, um ihren Verlobten zu suchen, zu finden, einen
Lebenstraum zu begraben und eine neue Realität zu leben. Oder Mari, die
in den Wirren des Bürgerkriegs in Liberia ihre Schulfreundin quer durchs
Land in ein sicheres Versteck führt. Gemeinsam ist ihnen und allen
anderen Figuren in Le Clézios meisterhaften Erzählungen ein fast
mystisches Einfühlungsvermögen in die Kraft des Ursprünglichen, eine
Erdverbundenheit und Vitalität, die sie in Krisensituationen über sich
hinauswachsen lässt. Le Clézio gelingt es auf unnachahmliche Weise, jene
intensiven Momente einzufangen, in denen der Mensch ganz auf sich
zurückgeworfen scheint. (Kiepenheuer & Witsch)
Buch
bei amazon.de bestellen
Digitalbuch bei amazon.de bestellen
"Ein Ort fernab der
Welt"
In drei kunstvoll miteinander verwobenen Handlungssträngen, die von
der Gegenwart bis weit in die Kolonialzeit reichen, erzählt Le Clézio
in wunderbar klarer Sprache die Geschichte der Archambaus. Er entführt
den Leser in eine fremde Welt, nimmt ihn mit auf Spurensuche in der
Ferne.
Im Jahr 1891 fahren die Brüder Archambau nach Mauritius in die Heimat
der Familie. Auf der Schiffsreise, die über Aden führt, wo der Arzt
Jacques den todkranken Dichter Rimbaud
behandelt, brechen die Pocken aus. Die Passagiere, Europäer und
indische Kulis, dürfen deshalb in Mauritius nicht an Land, sondern
kommen auf einer nahen, von Indern bewohnten Insel in Quarantäne.
Unter den verschiedenen Gruppen brechen bald unerträgliche Spannungen
auf. Nur Léon, tief beeindruckt vom Dichter des "Trunkenen Schiffs",
fühlt sich nicht eingeschlossen. Er erfährt die Insel und die Weite
des Meers als Befreiung und seine Liebe zu der jungen Inderin
Suryavati als Aufbruch in ein neues Leben.
Dieser poetische Roman, Familiensaga und Abenteuergeschichte in der
Tradition Joseph
Conrads und R.L. Stevensons, führt auf eine kleine tropische
Insel vor Mauritius im Indischen Ozean. Für die Brüder Jacques und
Léon Archambau, deren ungewöhnliches Schicksal J.M.G. Le Clézio
erzählt, ist die Insel Hölle und Paradies zugleich. (Kiepenheuer &
Witsch)
Taschenbuch
bei amazon.de bestellen