Benjamín Labatut: "Das blinde Licht"
Irrfahrten der Wissenschaft
Gehirnartisten, Triebe,
Attraktionen - vorgeführt in postmoderner Münchhausen-Manier
Während sich der Originaltitel, übersetzt "Ein schreckliches Grün",
vielleicht auf die womöglich giftigen Wände von Napoleons
Verbannungsdomizil ("scheeles Grün", S. 22), das "höllische
Grün" auf Seite 36 und "die grüne Flüssigkeit" auf
Seite 168 bezieht, wurde für den deutschsprachigen Raum ein anderer,
nicht weniger kapriziöser Titel gewählt.
Dieser speist sich wohl aus folgender Passage: "Doch aus einem
seltsamen Grund, den er sich nicht erklären konnte - und den er auch
Bohr nicht hätte erklären können, denn erst Jahrzehnte später sollte
er ihn verstehen -, war er außerstande, ihm von dieser Vision zu
erzählen, in der das kleine Kind zu seinen Füßen gestorben war, so
wenig wie von den unzähligen Gestalten, die ihn in dem Wäldchen
umringt hatten, als wollten sie ihn vor etwas warnen, im Nu verkohlt
von einem plötzlichen blinden, blendenden Licht" (S. 177). "Er",
das ist der Physiker Werner Heisenberg, das "Licht" freilich die
Atombombe.
Titel und Untertitel "Das blinde Licht. Irrfahrten der Wissenschaft"
sind jedoch prinzipiell ein wenig irreführend, ließen sie doch ein
Sachbuch mit Kurzporträts gescheiterter Wissenschafter erwarten - doch
weit gefehlt, der 1980 in Rotterdam geborene, heute in Santiago de Chile
ansässige Autor hat sich gewisser Aspekte der Lebensläufe und
Errungenschaften von Naturwissenschaftern bemächtigt und diese in einem
gewissermaßen literarischen Paralleluniversum teilweise runderneuert
erzählt.
Schwungvoll und unterhaltsam führt Benjamín Labatut also entlang
zunehmend kurioser wirkender Lebenswege und anhand mitunter seltsamer
Entdeckungen prominenter wie auch weniger bekannter Persönlichkeiten
durch seinen Roman, der Schwerpunkt seiner einfallsreichen Verwirrungen
liegt in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, als Einstein, Heisenberg,
Schrödinger und andere Kapazunder die Welt mit ihren Überlegungen und
Entdeckungen verblüfften.
Die vier Hauptkapitel tragen folgende Titel: "Preußischblau",
"Schwarzschilds Singularität", "Das Herz im Herzen", "Wenn wir aufhören,
die Welt zu verstehen".
"Das blinde Licht" bietet eine bizarre Mixtur von Wahrem und Erfundenem
vom Wohl und Wehe einiger Forscher. Offenbar war es Benjamín Labatuts
vorrangiges Anliegen, die Ambivalenz diverser tollkühner Entdeckungen
aufzuzeigen und tatsächliche oder auch erfundene menschliche Abgründe
mancher Wissenschafter in die Auslage zu stellen.
Bevor die Zweifel am Gelesenen angesichts allzu ungeheuerlich anmutender
Passagen im Verlauf der Lektüre ins Uferlose schießen, enthüllt ein
Blick in die "Danksagung" des Autors dessen Konzept: "Es ist ein
fiktionales Werk, das auf Fakten beruht. Der fiktionale Anteil
nimmt im Laufe der Erzählung zu. Während in Preußischblau
nur ein Absatz erfunden ist, habe ich mir in den weiteren Kapiteln
größere Freiheiten genommen, immer aber versucht, den
zugrundeliegenden wissenschaftlichen Ideen treu zu bleiben." (S.
187)
Es verwundert also nicht, dass die Wissenschafter mit ihren
"Labatut-Masken" tendenziell als künstlich verschärfte Sonderlinge durch
den Roman geistern.
Ein kurzer Überblick veranschaulicht das angesichts
der Fülle verständliche hohe Tempo des lediglich 184 Seiten umfassenden
Romans:
Mit den Zyankalikapseln der Nationalsozialisten wird der Reigen der
gefährlichen Schattenseiten wissenschaftlicher Forschungen eröffnet,
Fritz Haber, Stickstoff und Giftgas,
Farbstoffe, auch der vom Autor
"Adi" genannte Adolf Hitler darf nicht fehlen, traumatisierende
Ereignisse zweier Weltkriege, Albert Einstein, Karl Schwarzschild und
seine verzehrende Singularität, der Mathematiker Shinichi Mochizuki und
seine "abc-Vermutung", Alexander Grothendieck (1928-2014), der
spektakuläre Ergebnisse erzielende Mathematiker und spätere
Umweltaktivist-Eremit, Werner Heisenberg, Erwin
Schrödinger (in diesem Roman u. A. in einer denkwürdig
umgestalteten Sanatoriumsepisode in Arosa zu Weihnachten anno 1925
auftretend, allerdings bleibt die Identität der damaligen tatsächlichen
Begleiterin weiterhin unbekannt, Labatut hat der Geschichte auch hier
eine andere Wendung gegeben), Louis de Broglie (1892-1987) mit seiner
"Materiewelle", immer wieder das Ringen um die Beurteilung des
Verhaltens der Elektronen in Atomen, Welle-Teilchen-Dualismus,
Wellengleichung,
Quanten,
Zufallsentdeckungen und hart errungene Erkenntnisse, spirituelle
Erlebnisse, Niels Bohr, Aufeinandertreffen widerstreitender Theorien,
Rivalitäten unter Spitzenwissenschaftern, Erkrankungen, Halluzinationen,
schicksalhafte Visionen, erotische Träume.
Einsteins
Aussage
"Gott würfelt nicht" leitet zum Epilog, der die weiteren Wege
einiger Protagonisten auf zweieinhalb Seiten abhandelt, über.
Stellenweise wirkt "Das blinde Licht" wie der buchgewordene Streich
eines Physikstudenten, der gewissen Koryphäen mit erkennbarem Vergnügen
mindestens klatschpressetaugliche Vorfälle sowie abgründige
Verhaltensweisen angedichtet hat. Und doch ruft dieser Roman - trotz
prinzipieller Wertschätzung für postmoderne Konstruktionen -
gelegentlich Befremden aufgrund des nicht immer taktvollen Umgangs mit
dem Andenken an Wissenschafter und deren Geistesleistungen hervor
(fiktive Enthüllungsprosa erschafft Sensationsmonster?).
Leser, denen die realitätsteilamputierten Protagonisten gänzlich
unbekannt sind, können Labatuts Konzept vermutlich mehr
Unterhaltungswert abgewinnen als an Naturwissenschaften Interessierte,
die eventuell passagenweise mit den unter Aufbietung ambivalenter Mittel
der Freiheit der Kunst aus ihren Lebensläufen Entführten leiden werden.
Immerhin kann der Roman auch als Aufruf verstanden werden, Forscher
mögen doch endlich verantwortungsbewusster mit ihren Entdeckungen
umgehen oder sich hinkünftig überhaupt mit vermeintlich großen Würfen
zurückhalten. Ein frommer Wunsch, ein schöner Traum, nicht mehr.
(kre; 03/2020)
Benjamín Labatut: "Das blinde Licht.
Irrfahrten der Wissenschaft"
(Originaltitel "Un verdor terrible")
Aus
dem Spanischen von Thomas Brovot.
Suhrkamp, 2020. 187 Seiten.
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Noch ein Buchtipp:
Jim Holt: "Als Einstein und Gödel spazieren gingen. Ausflüge an den
Rand des Denkens"
Unter Physikern und Mathematikern sind sie legendär geworden, die
Spaziergänge über den Campus von Princeton, die den fast 70-jährigen
Albert Einstein und den 25 Jahre jüngeren Ausnahmemathematiker Kurt
Gödel verbanden. Zwei Spaziergänger, die jeweils ihr Fach
revolutioniert, Grenzen überschritten und neue aufgezeigt haben. Gödel
hatte schon früh beschlossen, sich nur um mathematische Probleme zu
kümmern, die auch eine philosophische Dimension haben. Damit ist er
quasi ein Bruder im Geist für Jim Holt, den Philosophen und
Mathematiker, der sich gerne mit den letzten Fragen beschäftigt - und
mit jenen, die ihnen ihr Leben widmeten. Und so erzählt er in diesem
Buch mit dieser Geschichte einer Freundschaft zugleich die Geschichte
der revolutionären geistigen Umwälzungen im 20. Jahrhunderts.
Daneben versammelt Holt in diesem Band 22 weitere Erzählungen und
Reflexionen, in beeindruckend schöner Sprache und reich an biografischen
und kulturgeschichtlichen Anekdoten. Sie widmen sich den "aufregendsten
intellektuellen Errungenschaften, denen ich in meinem Leben begegnet
bin" (Holt). Es geht darin um das kosmologisches Denken über Zeit und
Raum, Unendlichkeit im Großen und Kleinen, das Heraufziehen des
Computerzeitalters, den Code des Lebens und die Frage, was man wahr
nennen darf. Einmal stehen Wissenschaft und Philosophie ein wenig im
Vordergrund, dann wieder die außergewöhnlichen Geschichten ihrer
bedeutenden Protagonisten, von Holt fesselnd erzählt, mit Tiefgang und
Intimität und einem besonderen und persönlichen Blick. (Rowohlt)
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Leseprobe:
(...) Jahrzehnte zuvor hatte man einen Vorläufer des von den Nazis in
den Vernichtungslagern eingesetzten Gifts - das Zyklon A - in
Kalifornien als Pestizid auf die Orangen gesprüht, so wie man damit auch
die Züge entlauste, in denen sich Zigtausende mexikanische Einwanderer
versteckt hatten, um über die Grenze in die USA zu gelangen. Das Holz
der Waggons verfärbte sich daraufhin und zeigte einen wunderschönen
bläulichen Ton, es ist derselbe, den man auch heute noch an einigen
Ziegelsteinen in Auschwitz sehen kann; beides verweist auf den
eigentlichen Ursprung dieses Cyanids, isoliert 1782 aus dem ersten
synthetischen Pigment, dem Preußischblau.
Kaum stand der Farbstoff zur Verfügung, trat er seinen Siegeszug in der
europäischen Kunst an. Dank geringerer Kosten hatte das Preußischblau
innerhalb weniger Jahre fast vollständig die Farbe ersetzt, mit der die
Maler seit der Renaissance
die Engelsgewänder und den Mantel der Heiligen Jungfrau schmückten: das
Ultramarin, das edelste und teuerste aller blauen Pigmente, gewonnen aus
dem Lapislazuli, das man in den Höhlen des afghanischen Koktscha-Tals
förderte und zermahlte. Dieses Mineral, nun allerfeinstes Pulver, ergab
ein so prachtvolles Indigoblau, dass es nichts Vergleichbares gab, erst
Anfang des achtzehnten Jahrhunderts konnte es chemisch nachgeschaffen
werden, als ein Schweizer Farbenhersteller namens Johann Jacob Diesbach
das Preußischblau entdeckte. Es war ein Versehen gewesen, denn
eigentlich wollte er das Karminrot erzeugen, das man durch die
Verarbeitung von Millionen weiblicher Koschenillen erhält, kleiner
Schildläuse, die in Mexiko, Mittel- und Südamerika als Parasiten auf
Feigenkakteen leben und so empfindlich sind, dass sie einer noch
größeren Pflege bedürfen als die Seidenraupen, zumal Wind, Regen und
Frost ihren flaumig weißen Körpern leicht Schaden zufügen, wenn sie
nicht gleich aufgefressen werden von Ratten, Vögeln oder anderen
Insekten. Ihr scharlachrotes Blut war - neben Silber und Gold
- einer der größten Schätze, die die Konquistadoren den amerikanischen
Völkern raubten. Die spanische Krone sicherte sich das Monopol auf das
Karminrot und diktierte über Jahrhunderte die Preise. Diesbach hätte das
Monopol gern gebrochen, doch als er einmal sale tartari
(Pottasche) auf ein Destillat von tierischen Resten schüttete, mit denen
einer seiner Gehilfen experimentierte, der junge Alchemist Johann Conrad
Dippel, ergab das Gemisch nicht das leuchtende Rot des Insekts Dactylopius
coccus, sondern ein so strahlendes Blau, dass Diesbach dachte, er
hätte das
hsbd-iryt gefunden, die ursprüngliche Farbe des Himmels, das
legendäre Blau, mit dem die Ägypter die Haut ihrer Götter verzierten.
Jahrhundertelang von den ägyptischen Priestern mit Argusaugen bewacht,
war das Rezept eines Tages von einem griechischen Dieb gestohlen worden,
ging nach dem Untergang des Römischen Reichs aber für immer verloren.
Diesbach nannte seine neue Farbe "Preußischblau", um ein inniges und
dauerhaftes Band zu knüpfen zwischen seiner zufälligen Entdeckung und
diesem Reich, das die alten Imperien gewiss einmal an Ruhm übertreffen
würde. Tatsächlich hätte es sehr viel größerer Fähigkeiten bedurft - der
Gabe der Weissagung vielleicht -, um seinen künftigen Niedergang zu
erahnen, und Diesbach mangelte es nicht nur an dergleichen höheren
Vorstellungskraft, sondern auch am notwendigen Händchen fürs
Geschäftliche und an den unentbehrlichen Handelskontakten, um den
materiellen Gewinn aus seiner Schöpfung zu ziehen, sodass es seinem
Finanzier zufiel, dem Ornithologen, Sprachforscher und Entomologen
Johann Leonhard Frisch, sein Blau in Gold zu verwandeln. Frisch häufte
ein Vermögen an mit dem Vertrieb von Preußischblau, er belieferte
Geschäfte in Paris, London und Sankt Petersburg. Mit den Erträgen kaufte
er einige hundert Hektar Land in der Nähe von Spandau, wo er mit der
ersten Seidenraupenzucht Preußens begann. (...)