Franz Kain: "In Grodek kam der Abendstern"


"Er hat später berichtet, dass ein Soldat mit einem Blasenschuss, der furchtbare Schmerzen gehabt haben muss, sich vor seinen Augen erschossen hat. Dabei seien Spritzer von der Gehirnmasse an der Scheunenwand kleben geblieben. Der Menschheit ganzer Jammer habe ihn da erfasst.
Als Trakl endlich abgelöst wurde, war er zusammenbrechend hinausgewankt, wie einer, der ganz am Ende ist."
(S. 40)

Der österreichische Schriftsteller und Journalist Franz Kain (1922-1997) hat auf Grundlage der auch im Roman auszugsweise abgedruckten Kriegstagebücher des einstigen Offiziersdieners ("Pfeifendeckels") Georg Trakls einen Roman verfasst. So kommt also der Bergmann Mathias Roth aus Hallstatt spät aber doch ausführlich zu Wort und zu ganz eigenen Ehren und berichtet aus der Romanperspektive über Georg Trakl, seinen geschätzten, so früh verstorbenen Herrn.
Der Stil ist überwiegend umgangssprachlich geprägt und wirkt dadurch passagenweise wie die Mitschrift eines lebhaften mündlichen Berichts.

Breiten Raum nehmen Schilderungen des Militäralltags samt unterhaltsamer Anekdoten, von Truppenbewegungen, fremden Landschaften und Menschen und bald auch von entsetzlichen Kriegsereignissen ein, immer mit Bezug zum "dichtenden Apotheker" Georg Trakl (1887-1914), dessen Charakter und Werk Mathias Roth (1882-1965) wohl zeitlebens rätselhaft bleiben mussten.

Trakl war als Medikamenten-Akzessist am Beginn des Ersten Weltkriegs an der Ostfront in Galizien im Einsatz, dem Vernehmen nach ein medikamentensüchtiger, extrem trinkfester Einzelgänger und Sonderling, dem - wie so vielen Anderen auch - das unbeschreibliche Leid der Verwundeten und Versehrten sowie der Anblick zahlloser Kriegstoter schwer zusetzten.
"Wie riesige Fledermäuse hingen die Füsilierten an den Ästen, oft mit heraushängender Zunge und offenen Augen. (...) Wenn von Lemberg, Grodek, Rawa Ruska und von Przemysl die Rede ist, dann kommt zu den Leichenbergen der Gefallenen immer auch noch die nicht abreißende Reihe der Erhängten dazu, die sich durch ganz Galizien zieht." (S. 45, 46)

Im Roman beschuldigt Mathias Roth einstige Kriegskameraden, den ob seiner Hilflosigkeit als Feldapotheker ohne ausreichende Mengen an Medikamenten für alle Schwerverwundeten und der Grausamkeit des Kriegs gesteigert depressiven Trakl nach einem Vorfall mit einer Pistole und nach dem ebenso überstürzten wie chaotischen Truppenrückzug nachhaltig und bösartig angeschwärzt zu haben, sodass anscheinend ein (weitschweifige Kain-Roth'sche Mutmaßungen auslösender) Akt über ihn angelegt wurde, der schlussendlich seine Einweisung in die Irrenabteilung des Krakauer Garnisonsspitals zwecks Beobachtung seines Geisteszustands zur Folge hatte.

Laut Roth beging der Lyriker dort wenige Tage nach einem Besuch Julius von Fickers mit heimlich aufbewahrten "Giften" Selbstmord und schlief lebensmüde in den Tod hinüber, still geduldet vom tatenlos zusehenden böhmischen Arzt.
"Trakl war ein Giftschlucker, schon bevor wir zusammen in Galizien waren, das hab ich schon auf dem Marsch gemerkt, wenn er plötzlich von einer so kühlen Gelöstheit war und an uns vorbeigesehen hat, als wären wir nicht da." (S. 52)

Der Kain'sche Mathias Roth erhebt als gekorener "Trakl-Versteher" im Roman regelrecht Anklage gegen Trakls Gönner Julius von Ficker und rechnet lebhaft mit diesem ab, weil von Ficker seine, Mathias Roths, Bedeutung als Kriegsgefährte Georg Trakls späterhin unbegreiflicherweise nicht angemessen literaturwissenschaftlich gewürdigt habe, sodass er, Roth, der treue Bursche und damals einzige Begräbnisteilnehmer, völlig in Vergessenheit geraten sei.
Das liest sich z.B. allzu selbstmitleidig so: "Die Ursache für meine Abwesenheit bei der Heimkehr Trakls war nicht mein geringer Stand, sondern die völlige Verkennung meiner Rolle im Leben und Sterben Trakls. Ich bin ein Opfer der Überheblichkeit der Literaturwissenschaft, die den Aussagen eines Offiziersdieners keinerlei Bedeutung beimisst, denn was kann so einer schon sagen?" (S. 156, 157)
Im weiteren Verlauf, schon ab Seite 101, berichtet Roth ausführlich von seinen zahlreichen Fahrten als Sanitätssoldat mit dem "Malteser Spitalszug" kreuz und quer zwischen den zähen und blutigen Weltkriegsfronten nach Trakls Tod und seinem weiteren Dasein nach Kriegsende, offenbar unter dem anhaltenden Eindruck, den der Dichter in den Monaten ihrer Kriegskameradschaft auf ihn gemacht hatte.

Auf Seite 163 beginnt der umfangreiche Anhang mit einer Kurzbiografie samt Foto Mathias Roths, es folgen Faksimiles aus dessen Personalakten, dem Kriegstagebuch sowie von Dienstbescheinigungen. Franz Kains Danksagung an Mathias Roths Söhne sowie dessen Dienstgeber beschließt das Buch.

Der kleine, eigensinnige Roman kann durchaus als fantasieanregende Ergänzung des über den Dichter Georg Trakl bekannten Materials gelesen werden.

(kre; 12/2020)


Franz Kain: "In Grodek kam der Abendstern"
Bibliothek der Provinz, 1994. 222 Seiten.
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Ein Buchtipp:

Hans Weichselbaum: "Georg Trakl. Dichtungen und Briefe"

Vor etlichen Jahrzehnten ist die bedeutende historisch-kritische Trakl-Ausgabe von Walther Killy und Hans Szklenar erschienen. Mittlerweile ist die zweibändige HKA vergriffen, ebenso die Taschenbuch-Ausgabe des ersten Bandes, was nicht nur bei Trakl-Freunden als Mangel empfunden wird. Die vorliegende Neuausgabe der "Dichtungen und Briefe" von Georg Trakl macht erstmals völlig unbekannte Texte des Lyrikers zugänglich, die in letzter Zeit gefunden wurden. Dazu zählen 15 Gedichte der "Sammlung Richard Buhlig", die Marty Bax (Amsterdam) im Archiv der California State University Long Beach bei Recherchen entdeckt hat, oder das Gedicht "Hölderlin", das von einem Wiener Antiquariat angeboten wurde. Literarische Texte, die erst nach dem Erscheinen der ersten Taschenbuchausgabe veröffentlicht worden sind, wurden ebenfalls in diesen Band aufgenommen. Dass Trakl sich auch mit dem literarischen Leben seiner Zeit beschäftigt hat, wird an der Rezension eines Gedichtbands deutlich. Ein weiterer, bisher unbekannter Brief an Adolf Loos belegt das freundschaftliche Verhältnis zu dem Wiener Architekten. Mit dieser aktuellen Überarbeitung liegt eine repräsentative Ausgabe vor, die das dichterische Werk und die wichtigsten Briefe des großen Lyrikers des 20. Jahrhunderts in ansprechender Form vereint. (Otto Müller)
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