Thomas Hürlimann: "Abendspaziergang mit dem Kater"


Essayistik und und kurze Erzähltexte aus gut zwei Jahrzehnten, zu sieben Hauptthemen zusammengefasst

Kurz vor seinem 70. Geburtstag bringt Thomas Hürlimann ein Buch heraus, das bei aller Verschiedenheit der Texte stark autobiografisch geprägt ist und als eine Art Bestandsaufnahme oder Resümee, freilich mit über das Persönliche hinausgehendem Anspruch, gelesen werden kann. Ein paar Texte stammen aus frühen Veröffentlichungen beim Ammann-Verlag, das meiste aus renommierten deutschsprachigen Zeitungen des letzten Jahrzehnts; erstmals veröffentlicht sind ein Nachruf auf den jüngeren, gerade einmal  zwanzigjährig verstorbenen Bruder sowie die sogenannten Kater-Texte, die tatsächlich von Katern (vor allem von dem einen, in dessen Begleitung Hürlimann jahrelang lehrreiche Abendspaziergänge unternommen hat) handeln und sich um die sieben nachträglich vom Autor gegliederten Themenblöcke schmiegen.

Der erste solche, "I Wege", führt in vielerlei Richtungen: zum Werdegang des angehenden Schriftstellers und einen in seinem Knabeninternat erfolgten Ritterschlag, seinen absonderlichen ersten Veröffentlichungsversuchen und dem tatsächlichen Karrierestart, gemeinsam übrigens wie geschildert mit dem damals noch nicht Ehepaar Ammann, welches unmittelbar vor der Gründung des eigenen Verlages stand und sich geschmackvoll wie vorausblickend um Hürlimanns Signatur bemühte, zum Fußweg des Johann Wolfgang Goethe über Schweizer Pässe, leicht verfremdet und ironisch gebrochen durch die Erzählperspektive des Schweizer Reiseführers (und Kofferträgers; und Sekretärs), der von dem berühmten deutschen Gast nicht ausschließlich angetan ist, zu beschreitenden Wegen eines neuen Theaters, wie sie Rolf Hochhuth und Thomas Bernhard dialogisch in den Mund gelegt werden, dem kulturgeschichtlichen Weg von Stein zu Holz nebst religiösen Bezügen.

Eine besondere Verbundenheit empfindet Thomas Hürlimann gegenüber "II Gottfried Keller". Ein kurzer anekdotenhafter autobiografischer Text, die Abhandlung "Der doppelte Gottfried", worin vor allem Kellers Heidelberger Zeit und seine Doppelrolle als eingebundener (vereinnahmter?, Hürlimann verweist neben seiner eigenen Sichtweise auf Arbeiten von Muschg und Guggenheim) Beamter und ungebundener Künstler, als religiöses Gemüt und Freigeist behandelt wird. Außerdem legt eine Erzählung über Kellers Öffentlichkeitsfluchtversuch anlässlich seines bevorstehenden siebzigsten Geburtstags in ein Schweizer Nobelhotel, welcher weitgehend aus Sicht des vergeblich anonym bleiben Wollenden geschrieben ist und ebenfalls viel von Bestandsaufnahme hat, Zeugnis von Hürlimanns lebenslanger Beschäftigung mit dem Zürcher Schriftsteller, dem Schweizer Klassiker schlechthin und einem Gipfel der deutschsprachigen Literatur insgesamt, ab.

Die meisten Texte finden sich zum Thema "III Schweiz" versammelt. Darin übt sich Hürlimann in einem kritischen (z.B. die Geldpolitik betreffend) und bisweilen ironischen (auch Schweizer Abgeordnete sind dem Stoffwechsel unterworfen etc.) Patriotismus, bescheinigt seinen Landsleuten, geborene Verteidiger zu sein, wobei er an diese Berglermentalität, mit welcher er sich grundsätzlich einverstanden weiß und bei diesbezüglichen Volksabstimmungen üblicherweise "fremde Vögte", wie es nicht zuletzt auf die Europäische Union zielend heißt, abgelehnt hat, nichtsdestoweniger aber die Verpflichtung zum Träumen von einem weltweit besseren Leben und den dazugehörigen internationalen Anstrengungen seines Landes knüpft.

In "IV Die Krankheit" geht es um eine Krebsdiagnose und den langwierigen wie mühseligen Kampf gegen den Krebs, Hürlimanns persönliche Leidensgeschichte. Seine Reflexionen über Leiden, Tod und Sterben erhalten durch die pionierhafte Beifügung eines Krankenhausführers durch etliche Hospitale in der Schweiz und Deutschland, worin der Patient das zweifelhafte Vergnügen hatte, eine originelle und leicht makabre Note.

In "V Höheres" äußert sich der studierte Filosof über einen in seiner Studienzeit hochverehrten Assistenzprofessor und das Wesen der Treppe von Plato bis Hegel, welchem Letzteren die Ehre gebührt, die ultimative Geschichtstreppe aufgetürmt zu haben, über seine eigene atheistische Fase, wozu die Stiftsschule Einsiedeln unfreiwillig nicht wenig beigetragen hat, und metafysische Momente, die Verwandtschaft von Theologie und Literatur, Zahlenmystik, die Berliner Madonna von Botticelli, das Ende des Thomas von Aquin und manches andere, seine Anschauungen leidenschaftlich, mit großer Liebe zum Gegenstand vorgetragen.

"VI Herkunft" enthält den erwähnten Nachruf, eine "Spurensuche in Galizien", in der wir den Autor in die ostpolnische Stadt Przemyśl, die im Weltkrieg zwischen Österreichern und Russen heißumfehdet war und die Kindheitsstadt einer Hürlimannschen Großmutter, auf deren Spuren der Enkel viele Jahrzehnte später mit geringem Erfolg wandelt, sich dabei aber dem postkakanischen Charme der Stadt nicht entziehen kann und sich auf Schritt und Tritt an Szenen und Ausschnitte von Hašek, Trakl, Musil, Sacher-Masoch, Joseph Roth erinnert fühlt. "In Przemyśl, dieser alten, schönen, vom Sommer durchatmeten Stadt, sind Sätze und Romanfiguren so wunderbar lebendig, dass ich auf einem verwitterten Grabstein sogar auf den Namen Katz stoßen durfte, meine eigene Fiktion" (S. 247)
In "Familienalbum" findet man tatsächlich einige Familienfotografien und liest ein kurzes Porträt der Eltern, vor allem des Vaters, welcher ein führender Politiker der Schweizer Christlichen (insbesondere katholischen) Volkspartei war, im Bemühen um den Parteivorsitz zweimal einem Konkurrenten den Vortritt lassen musste und es immerhin zum Regierungssrat gebracht hat, wobei der Sohn die seinerzeitige Wandlung der Partei in ihrem Schielen auf zeitgeistige Popularität zuungunsten ihrer traditionellen Werte heftig kritisiert und sich über verhängnisvolle wirtschaftspolitische Entwicklungen des Landes so seine Gedanken macht.

Schließlich verankert "VII Der Berg", Rigi, der Hausberg nämlich, Thomas Hürlimanns Leben und Werk auch geografisch; weniger die reale Erhebung und die regelmäßigen Schulausflüge hinauf sind Thema als der Blick auf die Steilwand im Wechsel der Lichtverhältnisse und das, was die empfangenen Eindrücke an Spuren im Unbewussten des Autors hinterlassen haben, die dort erfolgten kreativen Verknüpfungen und Abwandlungen.

"Abendspaziergang mit dem Kater" besteht aus unterhaltsamen, vergnüglichen und lehrreichen Texte, eloquent und mit einem leichten Zug zum Bekenntnishaften verfasst.

(fritz; 11/2020)


Thomas Hürlimann: "Abendspaziergang mit dem Kater"
S. Fischer, 2020. 304 Seiten.
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Thomas Hürlimann wurde 1950 in Zug, Schweiz, geboren. Er besuchte das Gymnasium an der Stiftsschule Einsiedeln und studierte in Zürich und an der FU Berlin Philosophie. Neben zahlreichen Theaterstücken schrieb er die Romane "Heimkehr", "Vierzig Rosen" und "Der große Kater" (verfilmt mit Bruno Ganz), die Novellen "Fräulein Stark" und "Das Gartenhaus" sowie den Erzählungsband "Die Tessinerin". Für sein dramatisches, erzählerisches und essayistisches Werk erhielt er unter Anderem den "Joseph-Breitbach-", den "Thomas-Mann-" sowie den "Hugo-Ball-Preis". Im Jahr 2019 wurde er mit dem "Gottfried-Keller-Preis" ausgezeichnet. Hürlimann ist korrespondierendes Mitglied der "Bayerischen Akademie der Schönen Künste", der "Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung" und der "Akademie der Künste, Berlin". Seine Werke wurden in 21 Sprachen übersetzt.