Willem Frederik Hermans: "Die Dunkelkammer des Damokles"
Menschen und Mächte im
einstürzenden Spiegelkabinett
"Alles läuft darauf hinaus, dass der Mensch sterblich ist und dass
er nichts davon wissen will. Aber für den, der sich bewusst ist, dass
er einmal sterben muss, kann es keine absolute Moral geben, für den
sind Güte und Barmherzigkeit nichts als Tarnungen der Angst. (...) Der
Mensch wird sich daran gewöhnen müssen, in einer Welt ohne Freiheit,
Güte und Wahrheit zu leben." (S. 329, 330)
Hermans arbeitete von Mai 1952 bis Juli 1958 an diesem Roman, der im
selben Jahr im Original publiziert wurde. In deutscher Übersetzung
konnte er erst im Jahr 2001 im Verlag "Gustav Kiepenheuer" erscheinen,
weil Hermans in den 1960-er Jahren aufgrund von seiner Ansicht nach bis
dahin völlig missratenenen Übersetzungen seiner Werke verfügt hatte,
dieser Roman solle niemals auf Deutsch das Licht der Welt erblicken.
Sein Sohn Rupert ermöglichte jedoch als Erbe die Übersetzung.
Fons Rademakers' (1920-2007) Verfilmung aus dem Jahr 1963 trägt den
Titel "Als twee druppels water" ("Wie zwei Tropfen Wasser"), wobei
Hermans - wenig überraschend - unzufrieden mit dem Endprodukt war.
Dass Rechteverwalter die Absichten der Erblasser bisweilen mindestens
kreativ uminterpretieren, kennt der gelernte Österreicher ja aufgrund
des "Falls Thomas
Bernhard": Der am 12. Februar 1989 verstorbene Autor hatte in
seinem - letztlich ausgehöhlten - Testament ein weitreichendes Verbot
bezüglich seiner Werke in Österreich für die Dauer von 70 Jahren
festgelegt, sein Erbe und Halbbruder Peter Fabjan sowie der damalige
Leiter des "Suhrkamp Verlags" Siegfried Unseld sahen gewisse Dinge
offenbar bald anders.
Als Dunkelkammer wird eine von speziellem Kunstlicht erhellte
abgeschottete Räumlichkeit bezeichnet, in der mit lichtempfindlichem
Material (Filmen) gearbeitet wird. Damokles war der Legende nach ein mit
seinem Leben unzufriedener Neider, dem eine Lektion hinsichtlich der
Vergänglichkeit sowie der dem Mächtigen ständig drohenden Gefahr erteilt
wurde. Hermans war übrigens auch begeisteter Fotograf, zudem ein
Intellektueller mit unbeirrbarem Stil. Der anspielungsreiche Romantitel
deutet selbstverständlich aufziehendes Unheil an.
In seinem temporeichen Meisterwerk "Die Dunkelkammer des Damokles" sind
Fotografien und eine Kamera Schlüsselobjekte, und sein "Damokles" ist
der junge Tabakhändler Henri Osewoudt, der nach schmachvoller Kindheit
und Jugend jahrelang ein nervenaufreibendes, gehetztes Dasein mitsamt
Licht- und Schattenseiten (endlich: blutige Heldentaten,
verschwörerische Untergrundaktionen, Genugtuung, Rache und
Selbstbewusstsein! Doch dann: Verfolgung und Gefängnis!) als
Auftragsmörder für den ihm zum Verwechseln ähnlichen "Offizier Dorbeck"
(?) führt.
Eine labyrinthische, folgenschwere Doppelgängergeschichte entspinnt sich
in den Niederlanden zur Zeit des Zweiten Weltkriegs.
Vor allem diese eine Frage beschäftigt die Leser, seit "Die Dunkelkammer
des Damokles" erschienen ist: Existiert die Romanfigur des Offiziers
Dorbeck womöglich ausschließlich als Hirngespinst des Protagonisten
Henri Osewoudt, wie es nach Kriegsende den Anschein hat? Allerdings sind
im Roman durchaus handfeste Beweise für die tatsächliche Existenz eines
Mannes, der sich Dorbeck nannte, vorhanden. Doch es bleibt eine gewisse
Unsicherheit, wohl völlig im Interesse des Autors.
Der Protagonist namens Henri Osewoudt muss als erblich vorbelastet
bezeichnet werden, neigte doch bereits seine Mutter zu Wahnvorstellungen
und hat ihren Mann ermordet, als Henri noch ein Knabe war. Hermans'
selbstdefiniertes sadistisches Universum, wie es leibt und lebt eben ...
Hermans schrieb nicht selten über Chaos und Mehrdeutigkeiten, über die
Abwesenheit von verlässlichen Sicherheiten, er betrieb keine
Glorifizierung des Widerstands seiner Landsleute gegen die deutschen
Besatzer.
"Ich hab mir die Haare schwarz färben lassen, damit man mich nicht
wiedererkennt, aber es sieht so aus, als hätte ich es getan, damit man
mich noch leichter mit Dorbeck verwechseln kann. Meine Feinde machen
mich für das verantwortlich, was er getan hat, und meine Freunde sehen
auf den ersten Blick, dass ich nicht ein Mann wie Dorbeck bin. Sie
halten mich für einen Siebzehnjährigen mit einem Mädchengesicht, einen
Schwächling, einen armen Teufel, den die Deutschen mehr aus Routine
verprügelt haben und nicht, weil sie vermuteten, er sei im Besitz
wirklich wichtiger Geheimnisse." (S. 185)
In Zeiten des großzügig geförderten und verdummend bequemen
Schwarzweißdenkens ist das Ausloten der Grauzonen für wahre Denker
Pflicht und Kür zugleich, zudem unerlässlich, und Willem Frederik
Hermans hat eine prinzipiell zeitlose Geschichte über einen
selbsternannten Teilzeithelden geschrieben, die gnadenlos vorführt,
welches Verderben ein opportunistischer, neiderfüllter
Geltungssüchtiger, der zudem ohne irgendetwas zu hinterfragen als
willfähriger Handlanger fremder Interessen agiert, über viele seiner
Zeitgenossen bringen kann.
Doch eben auch, welches Schicksal einen solchen selbsternannten
Teilzeithelden erwartet, wohl damals wie heute. Denn jede Zeit
beheimatet Verräter, Spione, Kollaborateure und Widerstandskämpfer,
Opfer und Täter; auch ohne offensichtliche Kriegswirren. Immer gibt es
verblendete Fanatiker und willfährige Handlanger, die weitgehend auf
Basis eines letztlich nur scheinbaren "Wir"-Gefühls agieren.
Nach Kriegsende stellen sich schlagartig viele Ereignisse in gänzlich
anderem Licht dar, Osewoudt kann sich in keiner Dunkelkammer mehr
verkriechen, er muss Farbe bekennen, Rechenschaft ablegen. Es gibt
zahlreiche belastende Beweise und Aussagen gegen ihn, und möglicherweise
zur Entlastung Geeignetes verläuft im Sand oder endet in einer
Sackgasse. Betrogen von der Welt, letztlich auch er! Seine Klagen und
Einsichten kommen zu spät.
Niemand ist mehr, wer er vor Kriegsausbruch war, man kann niemandem
trauen, weiß kaum jemals, wer gerade die Guten (oder zumindest die
weniger Schlechten) sind, die zunehmend brutaler werdende Gegenwart ist
die einzige Gewissheit, und jeder muss sehen, wie er sich darin
zurechtfindet und einrichtet. Kollateralschäden gehören dazu.
In "Le Monde des Livres" erschien am 26. Jänner 2007 ein begeisterter
Artikel von Milan
Kundera, der, nachdem er "Die Dunkelkammer des Damokles" in
französischer Übersetzung gelesen hatte, meinte, einen (freilich bereits
verstorbenen) Geistesverwandten entdeckt zu haben.
Hermans
holte sie wieder alle vor den Vorhang: Verblendete, Mitläufer,
Opportunisten, Kollaborateure und Widerstandskämpfer, Schüchterne und
Draufgänger, Verräter und Ignoranten. Festzustellen ist: Kriegshelden
ohne Schuld sind reine Fantasiegebilde, Verschwörungsszenarien entstehen
schnell, Moral ist nicht mehr als das hinfällige Produkt der jeweiligen
Zeitumstände.
Freilich beinhaltet der ungeheuer ereignisreiche, turbulente Roman auch
heitere Stellen, z.B. als homosexuelle Deutsche größtes Interesse an
Osewoudt zeigen, der einmal belästigt wird, als er getarnt in
Schwesterntracht unterwegs ist. Überdies hat Hermans auch tragische
autobiografische Geschehnisse einfließen lassen, beispielsweise die
Totgeburt eines Kindes.
Als Osewoudt am 29. Juni 1945 aus britischer Kriegsgefangenschaft einen
Brief an Wilhelmina, Königin der Niederlande, verfasst, ist der Zweite
Weltkrieg vorüber: "(...) Ich bin der Ansicht, ein Recht darauf zu
haben, von niederländischen Instanzen zu dieser Angelegenheit befragt
zu werden; ich habe mich 1940 nach dem Einmarsch der Deutschen
vollkommen freiwillig in den Dienst des Vaterlands gestellt. Auf die
Kompetenz eines niederländischen Offiziers vertrauend, habe ich
blindlings die Befehle und Anweisungen Dorbecks, eines Offiziers der
niederländischen Armee, befolgt. Viele meiner Mitstreiter und Freunde,
meine Mutter, mein Onkel und meine Verlobte wurden von den Deutschen
ermordet. Das wäre vielleicht nicht geschehen, wenn ich, wie so viele
Niederländer, passiv geblieben wäre." (S. 295)
Der facettenreiche, komplexe Roman versetzt den Leser in düstere Zeiten,
er bildet das individuelle und allgemeine Chaos in Kriegszeiten
eindringlich ab und veranschaulicht, wie kompliziert oder auch unmöglich
ein wie auch immer gearteter (von den Siegern bestimmter) Neuanfang sich
gestalten kann, wenn aufgrund der inneren und äußeren Verheerungen
lediglich geringe Aussichten auf eine Rückkehr zu Bekanntem besteht.
Interessant ist, dass Hermans im Jahr 1971 ein Zitat Ludwig
Wittgensteins an das bisherige Romanende anfügte.
Ein kurzes Nachwort von Cees
Nooteboom komplettiert das beeindruckende Buch.
(kre; 11/2020)
Willem
Frederik Hermans: "Die Dunkelkammer des Damokles"
(Originaltitel "De donkere kamer van Damokles")
Aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert.
Mit einem Nachwort von Cees Nooteboom.
Aufbau, 2016. 383 Seiten.
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