Karl-Markus Gauß: "Die unaufhörliche Wanderung"


Dreiundzwanzig Texte zwischen Tatsachentreue und gesellschaftspolitischem Engagement

In erster Linie hat sich Karl-Markus Gauß als Reiseschriftsteller einen Namen gemacht, doch nimmt er gerne auch in diversen Aufsätzen zu gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Fragen Stellung. Eine Zusammenstellung verschiedener Beiträge für Zeitungen und Zeitschriften präsentiert "Die unaufhörliche Wanderung"; wie bei solchen Büchern üblich, ist auch das eine und andere Unveröffentlichte dabei - der älteste Text "In der Unterstadt. Versuch über die Kloake" ist zugleich einer der besten und stammt noch von 1999. Gegliedert wurde in vier Themenbereiche: "Ort und Zeit" - Gegenwartsaufnahmen, "Zu ebener Erde und darunter" - mancherlei gerne Verdrängtes wie die erwähnte kleine Kloakenkulturgeschichte, "Voraus, zurück" - Historisches und vielleicht Zukünftiges und dabei nicht ungegenwärtig, "Lesen und Schreiben" - über die eigenen frühen Lese- und Schreiberfahrungen; eine nicht zwingende Einteilung, da sich die Themen naturgemäß öfter überschneiden.

Der titelgebende Text handelt von einer anscheinend 2009 unternommenen Reise nach Odessa, ein klassischer Reisebericht, der das Bemerkenswerte anschaulich wiedergibt, die breiten, platanen- und kastanienbaumbesetzten Straßen der erst gute zweihundert Jahre alten Stadt, die postsowjetische Lebendigkeit Odessas, die zahlreichen interessanten, fast durchwegs in alten Gebäuden untergebrachten Museen, eine gewisse Polyethnizität, die sich Odessa bewahrt hat (auch wenn man neben Ukrainisch und Russisch mittllerweilen eher asiatische Sprachen als Griechisch oder Deutsch zu hören bekommt). Etliche Fänomene werden durchaus kritisch gesehen, beispielsweise Kurse, in denen Mädchen lernen sollen, mit welcher Haltung, welchen Schrittbewegungen man sich dem Tisch, an welchem der Galan schon wartet, zu nähern habe (die Reiseführerin widerspricht freilich seiner Kritik, indem sie nach der proletarischen Zeit kulturelles Aufholbedürfnis für bitter nötig hält), oder die ungestraft rücksichtslosen Manöver der Halb- und Unterweltautomobile. Kein Wort findet Gauß erstaunlicherweise zu der gnadenlos lauten Beschallung der vielen odessitischen Lokale (etwa Sushirestaurants mit Hardrock-Musik, einem schaurigen Kontrapunkt zu einem vom Autor besonders verklärten Museum für östliche und westliche Kunst).
Eine andere Reise führt nach Albanien und zu einem Kellner, der nicht nur patriotisch, sondern mit wahrer Kennerschaft über einen einheimischen Wein zu referieren weiß, obwohl er als gewissenhafter Moslem keinen Tropfen davon trinkt, nach T
řebič, der ehemaligen Judenstadt im südlichen Mähren mit besonderer Geschichte und Architektur, oder ins Salzburg der Kindheit und zu einer Kreuzung, die dem Knaben früh den Sinn für gesellschaftliche Unterschiede geschärft hat.

Früh auch die Anteilnahme und der Einsatz für Unterprivilegierte aller Art (etwa in "Ein Mädchen namens Nadica", wo durch das traurige Scheitern eines serbischen Roma-Mädchens in Österreich die strukturellen Fehler der Sozialinstitutionen des Landes beleuchtet werden), früh anscheinend leider auch eine gewisse daher rührende Voreingenommenheit, die sich durch seine diesbezüglichen Texte zieht und manche durchaus fragwürdigen Dinge schlicht als geklärt betrachtet, was Leser dieser Glaubensrichtung erfreuen und bestärken, aber auch das eine oder andere Kopfschütteln auslösen wird. So eine Selbstverständlichkeit ist für den Autor beispielsweise eine sogenannte Sozialunion, zu der sich die EU wandeln soll und wozu es offenbar keiner Argumente mehr bedarf. Ebenso wird die Überholtheit, ja Schädlichkeit des Nationalstaates vorausgesetzt, was angesichts des Eintretens Gaußens für kulturelle Werte und die berühmte europäische Sprachenvielfalt doch widersprüchlich erscheint. Wenn er dann, wie derzeit unter englischsprachigen Historikern beliebt, einen kühnen Vergleich zwischen dem alten Österreich-Ungarn und der Europäischen Union unserer Tage anstellt, kommt ihm daher gar nicht in den Sinn, dass es gerade der Nationalstaat ermöglicht hat, sich aus einer Position der Stärke und des (relativen) kulturellen Selbstbewusstseins auf das Risiko einer Teilhabe an dem übernationalen Staatenbund einzulassen.
In anderen Bereichen wiederum ist der Autor sichtlich um eine behutsame Mitte bemüht, wenn er etwa davon abrät, über Entwicklungen und Positionen in Osteuropa, vor allem Ungarn und Polen, vorschnell die Nase zu rümpfen, sondern dazu auffordert, sich lieber zunächst einmal selbstkritisch an derselben zu nehmen.
Und zum Migrationsthema heißt es unter anderem: "In Europa, habe ich manchmal den Eindruck, gibt es bald nur mehr auf der einen Seite die von Angst und Wut Erfüllten, die gegen die vermeintliche Stürmung unseres Kontinents mobilmachen wollen, und sei es, dass sie damit die Grundlagen jener Zivilisation, die sie zu verteidigen behaupten, zu zerstören bereit sind; und auf der anderen Seite jene in ihre moralische Entrüstung geradezu verliebten Kritiker, die Europa gewohnheitsmäßig für alles Elend der Welt verantwortlich machen." (S. 139/140) Außerdem warnt er davor, sich durch die Zuwanderer Heilung von den Beschränktheiten Österreichs zu erwarten, zumal die Fremden natürlich ebenfalls ihre eigenen Beschränktheiten mitbrächten.

Weitgehend frei davon, Fakten aus dem Zusammenhang zu nehmen, den eigenen Wunschvorstellungen dienliche überzubetonen und weniger dienliche unerwähnt zu lassen, zeigt sich der Autor in den Texten über Schreiben und Lesen, über einen geradezu magischen Vorfall in einer Schutzhütte auf dem Monte Pasubio, der ihn zum literarischen Wettergott machte, darüber, wie sein konservativer Deutsch-Lehrer und er einander schätzen zu lernen begannen (wer außer Kafka dabei eine Rolle gespielt hat, wird leider nicht verraten), sowie in "Kurze Autobiographie des Autors als junger Leser", worin die frühen Leseerfahrungen und das schlussendliche Finden des ihm gemäßen Ortes thematisiert werden: Halbdistanz. Mit mir, ohne mich!

Karl-Markus Gauß berichtet, belehrt und regt zu Widerspruch in einem gediegenen Deutsch an, welches hoffen lässt, dass er sich nicht für einfache Sprache einsetzen wird.

(fritz; 12/2020)


Karl-Markus Gauß: "Die unaufhörliche Wanderung"
Zsolnay, 2020. 208 Seiten.
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