Elena Ferrante: "Das lügenhafte Leben der Erwachsenen"
Großartiger Auftakt zu
einem neuen Zyklus?
"Zwei Jahre bevor mein Vater von zu Hause wegging, sagte er zu
meiner Mutter, ich sei sehr hässlich." (S. 9)
Mit diesem Paukenschlag von einem ersten Satz beginnt Elena Ferrantes
neuer Roman. Ein Satz, der viel verspricht und viel hält.
Vorweg, dieser Roman ist großartig geschrieben, ebenso gelungen ist die
Übersetzung von Karin Krieger. Auch die Zeichnung der Charaktere ist
Ferrante wieder einmal mehr als nur geglückt, und Neapel steht abermals
im Zentrum einer ihrer so faszinierenden Geschichten. "Das lügenhafte
Leben der Erwachsenen" ist eng mit der berühmten Tetralogie verwandt,
auch hier sind es die zwischenmenschlichen Beziehungen, die
Beobachtungen, die Schilderung der Selbstfindung der pubertierenden
Hauptprotagonistin, die den Roman so stark machen.
Der erste Satz dieses Romans ist der Auslöser für alles, was daraufhin
folgen wird. Giovannas Welt- und Selbstbild gerät gehörig ins Wanken,
sie beginnt zu zweifeln, sieht mit einem Mal, wie die wunderbar
gepflegte Fassade ihrer Eltern Risse bekommt, die immer größer werden,
bis sie die Fassaden komplett zerstört haben. Geschickt lässt Ferrante
die Ich-Erzählerin Giovanna vom Standpunkt der bereits Erwachsenen
erzählen, erlaubt sich dadurch bereits eine reife Sicht der Ereignisse,
die sie nun quasi zu Papier bringt.
Während der Vater im Umgang mit Giovanna immer bemüht ist, einen
zärtlichen, väterlich aufbauenden Tonfalls zu haben, ist dieser Tonfall
im akademischen Rahmen von geschliffenen Reden und Gefühlsausbrüchen
dominiert, im Umgang mit Fremden dafür kurz angebunden, scharf und
unfreundlich. Die Mutter ist die kultivierte Person im Haushalt, ruhig,
besonnen, sehr gut dazu geeignet, hitzige Situationen und Probleme
auszubügeln.
"Diese zwei Väter unterschieden sich erheblich von dem Vater, den
ich liebte, ich hatte ihre Existenz mit sieben oder acht Jahren
entdeckt, als ich ihn mit Freunden und Bekannten diskutieren hörte,
die manchmal zu sehr hitzigen Versammlungen zu uns nach Hause kamen
und über Probleme sprachen, von denen ich nichts verstand." (S.
11)
Als gewisse pubertäre Entwicklungen, unter Anderem auch diverse
Beobachtungen aus dem Haushalt, dazu führen, dass sich die schulischen
Leistungen Giovannas, zumindest in der Wahrnehmung des Vaters,
verschlechtern, überhört das Mädchen einen Streit der Eltern. Bei diesem
lässt ihr Vater den Satz fallen, dass Giovanna nach Vittoria käme. So
lenkt Ferrante kongenial auf eine weitere Achse dieses Romans. Vittoria,
die Tante des Mädchens, (sie ist die Schwester des Vaters), hat die
Schule nach nur fünf Schuljahren verlassen und lebt im proletarischen
Viertel Pascone. Da sie den Vater an die Herkunft seiner Familie
erinnert und darstellt, was er meint, hinter sich gelassen zu haben, ist
sie die Verkörperung des Schlechten. Als das Mädchen Fotos der Tante
sucht, wird sie dabei entdeckt. Die Mutter erzählt ihr vom Neid der
Schwester auf Giovannas Vater, der mit seinem Engagement in der Schule
und an der Universität sowie seiner Intelligenz, seinem Studium die
Hochachtung verdient hat, die ihm entgegengebracht wird. Die Schwester
wäre nur neidisch und hasserfüllt, da niemand so mittelmäßig werden
könne, wie die Leute, die zum Bekanntenkreis Vittorias zählen, sei kein
Kontakt mehr möglich. Natürlich auch keine Versöhnung. Da Giovanna, in
gutbürgerlichem Haus aufgewachsen, nun plötzlich so sein soll wie diese
verhasste Tante, will sie dem natürlich selbst auf den Grund gehen.
Trotzig und stark setzt sie ihr Vorhaben um.
Mit der Tante lernt sie nicht nur eine andere Art des Sprechens kennen,
ein Sprechen, das Gefühle nicht unterdrückt und Mienen nicht wahrt.
Gleich beim allerersten Treffen der beiden erzählt die Tante der in rosa
Strickjacke und mit Schleifchen im Haar gekommenen Nichte von ihrer
großen Liebe Enzo, verheiratet und Polizist, mit dem der Sex so wild und
hart war, dass sie nie wieder einen anderen Mann ansehen könne. Sie
bittet das Mädchen, dem Vater auszurichten, dass sie, wenn sie nicht
ficken könne, wie sie mit Enzo gefickt hätte, nur ein sinnloses Leben
lebe. Dass sie das dem Vater genauso ausrichten soll.
Giovanna entdeckt die großen Unterschiede zwischen den beiden Welten.
Das Derbe, Deftige, Geradlinige der vermeintlich schlechten Welt und das
Zivilisierte, Kultivierte der guten Welt. Da sie bei Eltern aber immer
mehr Lügen
und Geheimnisse entdeckt, die mit diesen moralischen Werten nicht
konform gehen, zieht es sie immer mehr zur ehrlichen, wenn auch niederen
Welt. Auch diese Welt offenbart bald ihre Schwächen, die Tante ist nicht
ohne Abstriche zu genießen. So führt Giovannas Suche zu ihrer Liebe zum
jungen Theologen Roberto, der zu einer wichtigen Bezugsperson für
Giovanna wird. Leider ist Roberto der Verlobte Giulianas, der Tochter
des toten Polizisten Enzo, die viel Kontakt zu Vittoria hat. Während
Giuliana schön ist, versucht Giovanna noch, dem Verdikt des Hässlichen
zu entkommen, das ihr Vater ihr zugedacht hat. Eine schwierige
Konstellation, die Elena Ferrante jedoch fast spektakulär auslotet. Ein
paar minimale Längen sind dabei vernachlässigbar.
"Wir verabschiedeten uns an der Funicolare, und seitdem habe ich ihn
nicht wiedergesehen. Ich hatte mich nicht getraut, nach Roberto zu
fragen, hatte mich nicht erkundigt, ob Vittoria mit ihm über mich
gesprochen hatte, ob sie ihm von der Situation bei mir zu Hause
erzählt hatte. Ich sagte nur beschämt: Ich fühle mich hässlich und
charakterlos, und trotzdem will ich geliebt werden. Doch ich sagte es
zu spät, in einem Atemzug, als er mir schon den Rücken zuwandte."
(S. 241)
Doch diese Gegenüberstellung der bürgerlich-liberalen und der
proletarischen, gemeinen Welt, so interessant sie auch gestaltet ist,
ist nicht das Wesentliche dieses Romans. Es ist auch nicht der Zerfall
der unschuldigen Kinderwelt in der Pubertät. Es ist die suchende Ebene,
die dem Ganzen Farbe, Kraft und literarische Größe gibt. Ferrante
erlaubt nämlich nicht nur ihrer Hauptprotagonisten eine Sinnsuche,
sondern allen interessanten Figuren, die diesen Roman bevölkern. Sie
beleuchtet das Frauwerden ihrer Protagonistin so genau, so präzise, so
schmerzhaft, dass es in einigen Momenten in puncto Intensität an Annie
Ernaux erinnert.
Der Weg in die Selbstbestimmung ist erfolgreich, und am Ende des Romans
reist die Protagonistin mit einer Freundin, einer vielleicht angehenden
Schriftstellerin, nach
Venedig. Ein offenes Ende, das viele Möglichkeiten bietet. Unter
Anderem die, dass dieser Roman der erste einer neuen Serie ist, die sich
mit Giovannas weiterem Leben beschäftigen wird.
Ein ausgezeichneter Roman, der wieder einmal Ferrante in Hochform
bietet. Wer die Tetralogie liebt(e), wird garantiert zufrieden und
rundum begeistert sein. Wer die drei "dunklen" Romane bevorzugte
("Lästige Liebe", "Frau im Dunklen" und den vielleicht genialsten Roman
Elena Ferrantes "Tage des Verlassenwerdens"), dem wird diese abgründige,
dunkle Seite fehlen. Doch wer weiß, was Giovanna noch alles erleben wird
...
(Roland Freisitzer; 09/2020)
Elena
Ferrante: "Das lügenhafte Leben der Erwachsenen"
(Originaltitel "La vita bugiardi degli adulti")
Aus dem
Italienischen von Karin Krieger.
Suhrkamp, 2020. 415 Seiten.
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