Roman Ehrlich: "Malé"


In Zeiten des Klimawandels

Wer denkt bei der Erwähnung der Malediven nicht an endlos scheinende Sandstrände, herrlich türkisblaues Meer, wunderschöne Hotels und Ruhe bis zum Umfallen? Nun, Roman Ehrlich tut es, zumindest in diesem Roman, definitiv nicht.

Davon ausgehend, dass der weltweit so frappant gestiegene Meeresspiegel aus einem großen Teil der Welt unbewohnbare Gebiete gemacht hat, ist Malé, die Hauptstadt der Inselgruppe der Malediven, zu einem Fluchtziel eines äußerst vielfältigen Haufens von Aussteigern geworden. Nur ist Malé auch nicht mehr das Urlaubsziel, das es einmal war. Malé ist sogar beinahe oder vielleicht wirklich zur Stadt mit der dichtesten Besiedlung der Welt geworden. Wir befinden uns ungefähr im Jahr 2040. Auch hier sind die Straßen geflutet. Ramponierte, kaputte Häuser, bröckelnde Flutmauern sind ebenso vorhanden wie eine korrupte paramilitärische Miliz, die das Geschehen auf der Insel kontrolliert. Eine Dystopie?

Das klimaschädigende Benehmen der Menschheit und das damit verbundene Artensterben, all die Verbrechen an der Natur: das sind die großen Themen, die im Mittelpunkt dieses Romans stehen.

Natürlich kann ein Roman mit einer abstrusen Idee (die Flucht aus gefluteten Gegenden in eine eigentlich noch gefährdetere Gegend, in der eine Art Diktatur herrscht) operieren. Sogar sehr erfolgreich, man nehme nur Franz Kafkas "Verwandlung" als sich aufdrängendes Beispiel (wer verwandelt sich schon in ein riesiges Insekt?). Nur ist die abstruse Idee bei Kafka lediglich der Auslöser, der Ausgangspunkt für eine Erzählung, die weit über das Gesagte hinausgeht. Das Beispiel ist nicht einmal an den Haaren herbeigezogen, weil im Roman immer wieder (vermutlich) Anspielungen auf verschiedene Texte aufscheinen. Doch selbst wenn viel in diesem Roman wahrscheinlich "kafkaesk" anmutet, gelingt es Roman Ehrlich leider nicht, die Spannung, die eigentlich darin verborgen liegt, aufrechtzuhalten. Zu distanziert, zu gekünstelt komplex die verschachtelten Sätze, zu repetitiv die Ideen, zu umständlich das, was gesagt werden soll. So verkümmert jeder noch so kleine und hoffnunggebende Spannungsfaden binnen Momenten, nachdem man ihn freudig erkannt hat. Nicht, dass ein einfacher Satz grundsätzlich mehr Aussagekraft hätte, es ist die Verbindung von Handlung, Prosa und Form, die letztendlich darüber entscheidet, ob sich der Leser unbelohnt eine gefühlte Ewigkeit durch nicht einmal 300 Seiten quält, oder man nach dem (gerne auch mühevollen) Anstieg auf einen Berggipfel die Genugtuung eines beeindruckenden Ausblicks hat.

Gleich zu Beginn dieses im auktorialen Präsens erzählten Romans erfährt der Leser von der Pein eines in einem Keller Gefesselten. Ehrlich zeichnet ein wahrlich bekümmerndes Bild dieses Kellerraums, trocken und distanziert. "Ich habe keinen Prozess bekommen, denkt der Gefesselte, fast belustigt von der einfachen Klarheit des Satzes" (S. 10), bevor der Raum offensichtlich geflutet wird. Und sofort, nachdem man einen eigentlich noch nicht gefestigten Eindruck vom bisher Gelesenen (ca. zwei Seiten) hat, wechselt der Autor zu einem neuen Protagonisten, einer gewissen Francis Ford, deren Rolle im Verlauf der nächsten Seiten etwas klarer wird. Sie soll sich mit dem Vater der verstorbenen Schauspielerin Mona Bauch treffen, die dem Lyriker Judy Frank hierher nachgereist ist. Er ist verschwunden, sie tot. Bereits auf diesen Seiten möchte man dazu aufrufen, sich auf die Erzählung einer Geschichte zu konzentrieren und sich nicht in Abschweifungen, die kaum wichtig sind, zu verlieren.
"Der Vater der Schauspielerin Mona Bauch wird zuhause in Deutschland von seinen Angestellten beim Nachnahmen genannt und von seinen Freunden, in Ableitung dieses Nachnamens, schon seit der Schulzeit eigentlich, im milden Spott der Zuneigung: Belly. In der Kneipe, in der man ihn gestern nach seinem Namen gefragt hat, wusste er nicht, wie er sich vorstellen sollte. Bauch war ihm zu förmlich, Belly zu privat und sein eigentlicher Vorname so fremd, als gehöre er einem anderen. Dabei war Elmar Bauch aufgefallen, dass er schon sehr lange niemanden mehr kennengelernt hat oder sich außerhalb der Arbeit einer fremden Person vorstellen musste. Er entschied sich zur Vorstellung in seiner Funktion, die ihn auf die Insel gebracht hat, als Vater der verstorbenen Schauspielerin Mona Bauch, um gleich auch klarzustellen, welche Art von Information er sich von den Leuten hier erhoffte: Klärung, einen Hintergrund, vor dem so etwa wie Trauer überhaupt erst möglich wäre, die dann hoffentlich die dumpfe Betäubung ablösen könnte, die ihn umfängt, seit er über sein Endgerät, von einer Push-Nachricht aus der Kategorie Celebrity Check, über den Tod der eigenen Tochter in Kenntnis gesetzt wurde." (S. 13, 14)

Und so geht es auch weiter, Frances Ford erklärt dem Vater der Schauspielerin Mona Bauch, aus welcher Gegend in den Vereinigten Staaten sie komme, welche Abschlüsse sie gemacht habe, welche Lyrikerinnen sie interessieren und so weiter. Auf diese umständliche Tour gelangt der Leser zu Erkenntnissen, die ihm nahelegen, dass hier auch auf die DDR, genauer vielleicht sogar Berlin als "geschwemmte Insel" nach der Wende angespielt werden soll. Während der Vater der Schauspielerin Mona Bauch (dabei bleibt es zumeist) "der amerikanischen Literarturwissenschaftlerin Frances Ford mit einer ihm selbst unbekannten Geduld bei ihren Ausführungen zuhört" (S. 15), war die Geduld des Rezensenten bereits an dieser Stelle angeschlagen. Danach nimmt der Roman doch zuerst recht behäbig Fahrt auf.
Der 1983 geborene Autor Roman Ehrlich kann es ja auch, das steht außer Frage, sein Roman "Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens" ist trotz einiger stilistischer Ähnlichkeiten wahrlich beeindruckend, doch in "Malé" scheint es fast so, als müsse jede Bewegung, jede Auflockerung, jedes Ausatmen sofort unterbunden werden.
Es gibt natürlich auch großartige Momente, beispielsweise, wenn die Literaturwissenschaftlerin auf der verlassenen Terrasse des "Royal Ramaan Residence Hotels" steht, den Vater der Schauspielerin Mona Bauch ausblendet und sich dabei erinnert, wie sehnsuchtsvoll ihr der Ort in der Beschreibung des Lyrikers Judy Frank vorgekommen ist.

Die mit Abstand am besten besuchte Kneipe der Innenstadt, "Zum Blauen Heinrich", scheint eine Art Schaltzentrale zu sein, deren Stimmung der Autor u. A. wie folgt beschreibt: "In der Regel herrscht im Blauen Heinrich eine ausgelassene Kneipenfröhlichkeit, die all den wirklichen und wahnhaften Stürmen zum Trotz festhält am Leben unter Menschen, das schließlich schon immer kompliziert gewesen ist, widersprüchlich und bedrohlich." (S. 23)

Man erfährt viel über die Einrichtung, darüber, dass die Gäste aufgereiht stehen, ihre Getränke bestellen und entgegennehmen und mit den verschiedenen Bargeldsorten bezahlen, die auf der Insel akzeptiert werden, dass man direkt in ein Endgerät überweisen oder in der im "Blauen Heinrich" präferierten Kryptowährung bezahlen kann. Ebenso, wie man erfährt, dass die Gespräche an der Bar und in den Gasträumen in allen erdenklichen Sprachen stattfinden, "wobei häufig der Versuch unternommen wird, einem in der eigenen Sprache ohnmächtigen Gegenüber die relevanten Vokabeln einzeln und sehr deutlich ins Gesicht zu brüllen, aus didaktischen Gründen oder um so vielleicht die Rezeptoren eines tieferliegenden Sprachzentrums, das die Bedeutung aller Worte der Welt ohnehin schon kennt, erreichen zu können." (S. 23)
Ein Gefühl, das jeder Leser sich schon am eigenen Leib erlebt hat, auch wenn er das nicht gleich erkennen konnte …

Während der Vater der toten Schauspielerin weiter nach Antworten sucht, lernt man umständlich weitere Protagonistinnen kennen, die sich in ihrem Verhalten der allgemeinen Stimmung anpassen. Mit der Literaturwissenschaftlerin Frances Ford suchen sie zwar unterschiedliche Antworten, doch hoffen beide auf Überschneidungen, die sie in den Ideen und Bewegungen des verschollenen Lyrikers Judy Frank finden möchten.

Selbst die wohl offenste Protagonistin darf nicht einfach nur im Schwimmbad des ehemaligen Krankenhauses am Westrand der Insel schwimmen und das Wasser genießen, man erfährt dabei vielerlei über die Wasserverhältnisse, die Bewegungen der Schwimmerin, ihr Glucksen, die Physik des Widerstands ihres Körpers im Wasser und sogar über die Zusammensetzung der Chemikalien im Schwimmbad.

Währenddessen fährt ein dystopischer Charon mit dem Amphibienfahrzeug durch die Stadt und sammelt Müll und Leichen auf. Die Einzelgänger, die hier abhängen, stammen aus allen Teilen der Welt. Obwohl sie eigentlich nicht leben, schreiben sie alle. Entweder Literatur oder Tagebücher. Zusätzlich gibt es "Die Eigentlichen", eine autokratische Gruppierung, die das Geschehen von einem Kreuzfahrtschiff aus leitet und die Bevölkerung mit Drogen versorgt.

Was Roman Ehrlich mit "Malé" will, ist klar. Sein Zivilisationsendpunkt Malé ist furchteinflößend und brutal. Immer verliert man sich an diesem abgewrackten Ort in Nebenschauplätzen, Nebensträngen, die summa summarum natürlich ein erschreckend postapokalyptisches Bild einer verlorenen Welt zeichnen, die allerdings, so scheint es beinahe, oft nicht einmal selbst weiß, was hier wo versinkt. Die womöglich im Raum stehende Idee, diesen zugemüllten, versinkenden Ort literarisch durch eine derartige Inszenierung literarisch umzusetzen, die wäre allerdings gelungen.

(Roland Freisitzer; 09/2020)


Roman Ehrlich: "Malé"
S. Fischer, 2020. 288 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Digitalbuch bei amazon.de bestellen