Sorj Chalandon: "Wilde Freude"
Gewagt und gewonnen
Sorj Chalandon ist einer jener Schriftsteller, die anscheinend nicht jene große
mediale Aufmerksamkeit erhalten, die ihnen zustehen würde. Nach Meisterwerken
wie "Rückkehr nach Killybegs", "Mein fremder Vater" oder auch "Am Tag davor",
erscheint nun "Wilde Freude" in deutscher Übersetzung. Und das ist ein wahres
Fest.
Das Unterfangen, diesen Roman zu erzählen, ist mehr als riskant.
Nicht nur, dass er aus der Sicht von vier Protagonistinnen erzählt, er lässt sie
auch noch einen Pariser Nobeljuwelier bei einem bewaffneten Überfall ausrauben.
Das sind Tatsachen, die man bereits im ersten Kapitel, das zeitlich kurz vor dem
Ende des Romans angesiedelt ist, präsentiert bekommt. So nimmt er die
Spannungskurve aus dem Spiel, denn dieser Roman ist definitiv kein Kriminalroman
oder gar Thriller. Der Juwelenraub ist nur die etwas abstruse, dennoch
völlig plausibel ins Geschehen integrierte Explosion der Emotionen. Hier zeigt
sich die wahre Kunst des Autors, denn all das hier bereits Angeführte könnte,
nein müsste außerhalb der Genreliteratur eigentlich Schiffbruch erleiden.
Die Pariser Buchhändlerin Jeanne erfährt sieben Monate vor dem Juwelenraub
(nein, hier wird nicht zu viel verraten), dass sie Brustkrebs hat. Ein kleiner
Schmerz in der linken Brust hat sie dazu bewogen, sich untersuchen zu lassen.
Sie ist sicher, dass da nichts ist. Eine Routinekontrolle nur. Und doch, da ist
etwas. Während abgeklärt wird, ob bös- oder gutartig, lernt sie ihren Mann von
einer Seite kennen, die sie zwar vermutet, doch nicht erwartet hat. Er kann den
Schmerz, das Leid seiner Frau nicht ertragen und zieht sich immer mehr von ihr
zurück. Zu viel Schmerz hat er bereits ertragen müssen, unter Anderem den
Verlust des gemeinsamen Sohnes. Dass Jeanne diesen Schmerz nicht minder
durchlebt hat, dringt nicht zu ihm durch. Je tiefer sie in die Unsicherheit
stürzt, je mehr Unterstützung, Zuspruch und Liebe sie brauchen würde, desto
weiter entfernt er sich. Es ist schier beeindruckend, mit welch präzisen Worten
der französische Autor die Feigheit des Mannes aus der Sicht einer Frau
schildert. Seine Sätze sind wie scharfe Schnitte, die ihre Wirkung nicht
verfehlen.
"Sein Blick geradeaus, in den Rückspiegel, auf die linke
Straßenseite. Nie auf seine Frau. Nie. Vom Krankenhaus bis nach Hause schaute er
mir kein einziges Mal ins Gesicht. Kein einziges Mal. Er war dabei, mich
aufzugeben. Seine Flucht vorzubereiten. Bestimmt, da war ich mir sicher. Und
genauso fest war ich vom Gegenteil überzeugt. Matt doch nicht, doch nicht er! Er
war ein schwieriger Charakter mit seinen Einzelgängerallüren, seinen
erstickenden Gewissheiten, voller Geheimnisse und unausgesprochener Dinge. Kalt
wie seine Mutter, seine Schwester, die ganze Familie. Ich redete, er hörte zu.
Ich gestikulierte, er schwieg." (S. 37)
Jeanne lernt bei der
Chemotherapie Brigitte kennen, eine sympathische Frau, die sofort spürt, wie es
Jeanne geht. Die beiden Frauen kommen einander immer näher. Ihre Verbindung ist
nicht nur der Krebs, sondern auch die Enttäuschung über die Kälte, Feigheit und
Grausamkeit der Männer, die ihren Weg gekreuzt haben oder noch kreuzen. Brigitte
lebt in einer Wohngemeinschaft mit Assia und Mélody. Einer Gemeinschaft, in der
sich Jeanne nach anfänglichen Schwierigkeiten, die dadurch entstehen, dass nicht
alles so einfach ist, wenn vier komplett unterschiedliche Gemüter auf engem Raum
aufeinandertreffen, einfügt. Alle Drei haben eine teilweise undurchsichtige
Vergangenheit, entweder als
Opfer männlicher Gewalt, von Straftaten oder
sonstigen Delikten. Alle versuchen sie, ihr Leben neu und sinnvoll zu gestalten.
Wenn da nur der Krebs von Brigitte und Jeanne nicht wäre. Nachdem die Frauen
Freundschaft geschlossen haben, nachdem die Fronten abgesteckt sind, weihen die
Frauen Jeanne in ihr Geheimnis ein.
Mélody hat ein Kind, das ihr
Expartner nach Russland entführt hat. Dort lebt es gemeinsam mit seinen Eltern.
Es ist "das schönste Mädchen der Welt", eine Tatsache, die zu
Verstrickungen führen wird, die der Rezensent hier doch nicht weiter andeuten
möchte. Ihr Ziel ist es, das Mädchen zurück
nach Frankreich zu holen, in die
Gemeinschaft der Frauen. Nur will der Vater des Mädchens Geld dafür, es seiner
Mutter zurückzugeben. Da er einhunderttausend Euro verlangt, haben sie den Plan
ins Auge gefasst, Trittbrettfahrerinnen einer notorischen Damenbande zu werden,
die in unregelmäßigen Abständen Juweliere in Frankreich überfällt. Sie studieren
die Taten der Frauen, dabei macht sich der Kontakt Brigittes zu einem damit
betrauten Polizeibeamten bezahlt, bereiten alles minutiös vor. Mit Jeanne hätten
sie die Bande komplett. Allerdings muss Jeanne erst überzeugt werden.
"Die Frauen waren mir voraus. Seit dem Winter planten sie ihren Coup. Und
vergaßen gelegentlich, dass ich nicht über alles im Bilde war. Wie um sich zu
entschuldigen, erklärte mir Assia den Ablauf. Mit besänftigtem Blick. Wir gehen
rein, die Colliers sind da. Die Prinzessin zögert. Sie muss noch ihren Bruder
fragen. Kein Kaffee, kein Tee, die Handschuhe anlassen, auch wenn es heiß ist.
An ihrem Finger, unter der Seide, diesmal ein falscher Solitär. Nur damit die
Verkäuferin die Silhouette mit ihren Blicken streicheln kann. In diesem Moment
schickt Assia die SMS. Gibt Brigitte und Mélody grünes Licht. Ein paar Minuten
später klingeln die beiden an der Eingangstür. Und der Überfall beginnt."
(S. 192)
Während die Folgen der Chemotherapien und die Entwicklung des
Krebses wie eine sich konstant verschlechternde Kurve im Mittelpunkt stehen, ist
alles, was mit der Planung des Überfalls zu tun hat, eine dem entgegenlaufende
Aufwärtskurve.
Es ist ebenso beeindruckend, wie viel Kraft Chalandon beim
Umgang mit der tückischen Krankheit findet, wie er sich jeglicher Larmoyanz
verweigert. Was nicht heißen soll, dass die Figuren immer drüberstehen. Obschon
es den Frauen also immer schlechter geht, Assia leidet unter der
Verschlechterung ihrer Freundin Brigitte, Jeanne spürt die Folgen der Chemo auch
immer stärker, und Mélody leidet täglich mehr unter der Trennung von ihrer
Tochter, gibt ihnen der Überfall nicht nur einen Adrenalinschub, sondern hilft
ihnen dabei, ihr persönliches Leiden immer weiter in den Hintergrund zu
verdrängen. Dass nicht alles so ist, wie es scheint, ist ein Kunstgriff, den der
Autor genau im richtigen Moment tätigt. Wie er das weiterentwickelt, ist
daraufhin schlicht überwältigend.
Großartig übersetzt von Brigitte Große,
ist "Wilde Freude" eine wahre Freude. Es ist ein Roman, der viel wagt und noch
mehr gewinnt. Und Sorj Chalandon ein Autor, dem man eine viel größere
Leserschaft im deutschsprachigen Raum wünschen möchte.
(Roland Freisitzer; 08/2020)
Sorj Chalandon: "Wilde
Freude"
(Originaltitel "Une joie féroce")
Aus dem Französischen von Brigitte Große.
dtv, 2020. 286 Seiten.
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Sorj Chalandon, geboren 1952 in Tunis, gilt als einer der bedeutendsten Journalisten und Schriftsteller Frankreichs. Viele Jahre lang schrieb er für die Zeitung "Libération", seit 2009 ist er Journalist bei der Wochenzeitung "Le Canard enchaîné". Für seine Reportagen über Nordirland und den Prozess gegen Klaus Barbie wurde er mit dem "Albert-Londres-Preis" ausgezeichnet. Auch sein schriftstellerisches Schaffen wurde mit zahlreichen Literaturpreisen gewürdigt, unter Anderen dem "Prix Medicis" und dem großen Romanpreis der Académie française.