Anna Burns: "Milchmann"
Ein den Leser forderndes Meisterwerk
"Der Tag, an dem Irgendwer McIrgendwas mir eine Waffe auf die
Brust setzte, mich ein Flittchen nannte und drohte, mich zu erschießen, war auch
der Tag, an dem der Milchmann starb. Er wurde von einem staatlichen Mordkommando
erschossen, und der Tod dieses Mannes war mir herzlich egal." (S. 7)
So
beginnt der Roman "Milchmann", mit dem Anna Burns anno 2018 den "Man Booker"-Preis, den
wahrscheinlich wichtigsten Literaturpreis im englischsprachigen Raum, gewinnen
konnte. Und das als erste Repräsentantin Nordirlands. Inwiefern dabei politische
Überlegungen eine Rolle gespielt haben mögen, sei dahingestellt, dieser Roman
war im Jahr 2018 jedenfalls der sicherlich originellste und sprachgewaltigste auf
der Vorschlagsliste und somit ein mehr als würdiger Gewinner. Der Rezensent
hat damals bereits die Originalausgabe begeistert gelesen und möchte an dieser
Stelle festhalten, dass Anna-Nina Krolls kongeniale Übersetzung jegliche
Bedenken, wie denn nun bei diesem so von der Sprache abhängigen Roman eine
Übersetzung klappen möge, aus dem Weg geräumt hat.
Ein interessantes
Merkmal dieses Roman ist, dass darin keine Namen oder Orte genannt werden.
Schwager Eins, Zwei und Drei, Milchmann, Bruder und Schwester Eins, Zwei, ebenso
wie die namenlose 18-jährige Icherzählerin. Gerade diese Reduktion auf eine
derart anonymisierte Erzählweise erlaubt es der Autorin, diese Namenlosigkeit
quasi zum Konzept zu erhöhen. So wird dieser Roman zu einem Kreisen um die
Fragen der Identität und deren Verbergen.
"Bei meinem Im-Gehen-Lesen ging es
genau darum: absichtlich nichts wissen wollen. Es war wachsam von mir, nicht
wachsam zu sein, und die Wiederaufnahme des Lauftrainings mit Schwager war
ebenfalls ein Teil meiner Wachsamkeit. Solange ich einen ungewohnten Angriff auf
mein Im-Gehen-Lesen und die extremeren Ausschläge seines gewohnten
Sportgeschwafels aussieben konnte, das vermutlich sein eigener Schutzschild war,
konnte ich mit Schwager laufen und musste mich nicht allein hier im Park
aufhalten." (S. 87)
Alles beginnt damit, dass derjenige, den man
"Milchmann" nennen wird, eines Tages neben der Protagonistin, die im Gehen gerade
"Ivanhoe" liest, (die Protagonistin liest ausschließlich Bücher des 19.
Jahrhunderts, weil sie das 20. Jahrhundert nicht mag), herfährt und ihr
anbietet, sie mitzunehmen. Er deutet an, dass es gefährlich sei, in derart
unruhigen Zeiten lesend herumzugehen. Sie lehnt das Angebot ab, und obwohl sie
keinen Grund sieht, sich belästigt zu fühlen, der Mann war höflich und hat sie
nicht berührt und ist ebenso plötzlich verschwunden, wie er erschienen ist, ist
ihr die Begegnung unangenehm, und sie redet mit niemandem darüber. Wie in einer
Kleinstadt oder einem Wohnviertel üblich, machen dennoch bald
Gerüchte die
Runde, die der Protagonistin ziemlich alles zwischen einem Flirt und dem
Verhältnis zu dem älteren Mann andichten. So hat man bald das Gefühl, dass hier
auf bewundernswert lakonische Art und Weise gezeigt wird, was alles schiefgehen
kann. Natürlich lässt auch derjenige, den man "Milchmann" nennt, nicht locker.
Niemand glaubt der Protagonistin, dass sie nichts mit dem "Milchmann" hat, nicht
einmal ihre eigene Mutter. So wird sie mehr oder weniger zur Passivität
gezwungen. Sie vermeidet übliche Routen, läuft seltener, und obwohl sie spürt,
dass sie immer stärker in diesem Tratsch-Netz gefangen ist, verweigert sie sich
möglichst lange dem geheimnisvollen und mächtigen Mann. Letztendlich zwingt er
die Protagonistin unter Androhung von Gewalt an ihrem Vielleicht-Freund, dass
sie sich ihm hingibt.
Es ist überhaupt so eine Sache mit der männlichen
Autorität in diesem Roman. Fast ausschließlich sind es die Männer, die die
Macht haben, die bestimmen und die allein durch ihre körperliche Überlegenheit
im (gesellschaftlichen) Vorteil sind. Toxische Maskulinität ist hier
allgegenwärtig. Allerdings in eine Zeit versetzt, wo Begriffe wie #metoo,
Stalking, sexuelle Belästigung oder gar Verleumdung zumindest mehr oder weniger
unbekannt waren.
"Die normalen Frauen hatten erwartet, ja, beinahe gefürchtet,
dass die Themenfrauen die
Aufmerksamkeit, wenn sie erst einmal auf ihnen ruhte,
nutzen würden, um lang und enzyklopädisch breit über Diskriminierung und
Verstöße gegen Frauen nicht nur heute, sondern durch alle Jahrhunderte hindurch
zu schwadronieren ... Stattdessen sprachen diese Themenfrauen von hausbackenen,
persönlichen, ganz gewöhnlichen Dingen, wie auf der Straße von einem Mann
geschlagen zu werden, von irgendeinem Mann, im Vorbeigehen, völlig ohne Grund,
nur weil er schlechte Laune und Lust hatte, eine Frau zu schlagen, oder weil
irgendein Soldat von der anderen Seite der See ihm das Leben schwergemacht hatte
und nun er dran war mit Leben schwermachen, also schlug er zu. Oder dass einem
im Vorbeigehen an den Hintern begrapscht wurde. Oder dass die eigenen
körperlichen Merkmale laut von einem Mann kommentiert wurden ..." (S. 208)
Der Roman ist zwar in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in
Nordirland angesiedelt, hat aber genügend Hinweise und Anspielung auf andere
totalitäre (Terror-)Regime, wie den Stalinismus und die Taliban. Ebenso darauf,
was heutzutage mediale Hexenjagden sind, und sogar auf die Vergiftung Skripals.
Die Trennung in Feindbilder wird ebenso zelebriert, es gibt "diese Seite der
Hauptstraße" und "die andere Seite der Hauptstraße". Genau diese Übertragbarkeit
macht auch die immense Größe dieses Romans aus.
Besonders wirksam ist die
Erzählstimme, die aus der Ich-Perspektive munter draufloserzählt, wie ihr der
Schnabel gewachsen ist. So entstehen teilweise sehr lange Sätze, mit Ideen, die
vielleicht im ersten Moment sprunghaft wirken, die letztendlich aber sehr klug
in ein formales Gerüst eingebettet sind. Zu Beginn ist es nicht leicht, in den
Rhythmus dieses erzählerischen Parlandos hineinzukommen, weil man das, was die
Protagonistin sagen will, hauptsächlich indirekt, also über das Erzählte, (das
sich auf die unmittelbaren Ereignisse konzentriert), hinaus mitbekommt. So ist
man als Leser von Anfang an gefordert, wird aber im Verlauf des Romans
ausgiebig belohnt. Überraschend ist überdies, wie ironisch und auch witzig die
(Selbst-)Betrachtungen der jungen Protagonistin teilweise sind. So hat man nie
das Gefühl, von der Schwere der Themen und Geschehnisse erdrückt zu werden und
schwebt vermeintlich naiv hoffnungsvoll durch die Seiten. Dass einem dabei die
Heiterkeit im Hals stecken bleibt, ist natürlich ebenso klar. Ein starker und
gelungener Kunstgriff der Autorin, der ein weiter Grund dafür ist, dass
"Milchmann" zu einem höchst überzeugenden literarischen Meisterwerk wird.
(Roland Freisitzer; 02/2020)
Anna Burns: "Milchmann"
(Originaltitel "Milkman")
Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll.
Tropen bei Klett-Cotta, 2020. 452 Seiten.
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