Roberto Bolaño: "Cowboygräber"
Drei Erzählungen
Druckfrisches aus dem
literarischen Nachlass des anno 2003 im Alter von 50 Jahren an den
Folgen einer unbehandelten Hepatitis verstorbenen Schriftstellers
Der schmale Band präsentiert stellenweise autobiografisch unterfütterte
Erzählungen, angereichert mit den bekannten typischen Bolaño-Zutaten:
"Vaterland", "Cowboygräber" und "Komödie vom Schrecken von Frankreich".
Der Leser erlebt (wieder einmal - das Oeuvre!?) den Protagonisten Arturo
Belano, diesmal als dezent wohlstandsverwahrlosten Jugendlichen und
literaturbegeisterten Erwachsenen, zwischen familiären Verstrickungen
aufgrund der unterschiedlichen Staatsangehörigkeiten seiner Elternteile.
Außerdem liest man von einem vergeblichen und einem geglückten
Auswanderungsversuch von Chile nach Mexiko, taucht in unverdrossen
dargebotene landschaftliche Impressionen ein, findet mehr oder weniger
beiläufig abgehandelte tagespolitische Ereignisse, unfreiwillig komische
Künstlerzusammenkünfte, intellektuell angehauchte Besäufnisse, erfährt
von allerlei seltsamen (vortrefflich porträtieren!) Vögeln, vom Einbruch
des Obszönen und Tragischen, der Gewalt und des Bösen und - selten aber
doch - auch von tragikomischen Missgeschicken, getragen von einer Logik,
die vielleicht jener von Träumen ähnelt.
Ein aufrüttelnder Text behandelt das entsetzliche Thema des illegalen
Organhandels, er beinhaltet folgenden Satz: "Wenn das Paradies, um
paradiesisch zu sein, einer grenzenlosen Hölle Vorschub leistet, hat
der Dichter die Pflicht, im Paradies die Hölle heiß zu machen."
(S. 127)
Die Erzählung "Komödie vom Schrecken von Frankreich", von Roberto Bolaño
seinen beiden Kindern gewidmet, ist die wohl gelungenste, weil
offenkundig vom Autor selbst fertiggestellte, dieses Buchs. Darin wird
der siebzehnjährige Dichter Diodoro Pilon nach einem mehr oder weniger
literarischen Treffen eines eingeschworenen Zirkels mit verehrtem
Meister auf seinem einsamen Nachtspaziergang durch ein ihm bislang
unbekanntes Stadtviertel in einer Telefonzelle angerufen und erfährt
schier Unglaubliches von einem Anrufer aus Paris: Ausgerechnet er,
Diodoro Pilon aus Französisch-Guayana, sei auserwählt, der von André
Breton begründeten "Surrealistischen Untergrundliga" beizutreten, deren
Mitglieder, finanziell großzügig von zwölf Surrealistenwitwen
unterstützt, zeitweise in der Pariser Kanalisation werken und wirken!
"Der einzige Kanon, der seine Welt vereinigt, ist die Literatur."
(Aus dem Nachwort, S. 182)
Aus den zum Teil recht kurzen und mitunter angesichts der geschilderten
Ereignisse überraschend nüchtern anmutenden Kapiteln, manchmal nur
kurzen Skizzen und Fragmenten, ergibt sich einmal mehr die Darstellung
jener Welt, welche der lateinamerikanischstämmige Autor in seinen
zahlreichen Werken immer wieder wortreich abgebildet hat. Fantasievoll
Herbeigeschriebenes und nachweislich Geschehenes vermischen sich quasi
zu einer literarisch verfremdeten Parallelwirklichkeit, wobei die nicht
selten grundlegende Weltfremdheit der Schriftsteller an sich ihre Poesie
beisteuert, wenn z. B. anhand einprägsamer Szenen sowie mittels des
einen oder anderen alter ego aus der eigenen kleinen Welt eine große
konstruiert wird.
Die "Editorische Notiz" erläutert Art und Weise der Auffindung der in
"Cowboygräber" versammelten Texte sowie deren Aufbereitung und
Datierung.
Das mit "Der 11.
September des Roberto Bolaño" betitelte Nachwort, verfasst vom
wertschätzenden Kenner Heinrich von Berenberg, nähert sich einfühlsam
dem Leben und Werk des Autors und bietet interessante
Hintergrundinformationen.
Die im vorliegenden Buch versammelten Texte sind überwiegend
gleichförmig mäandernde Erzählungen. Liebhaber von Bolaños Büchern
werden manche Figuren, Motive und Versuchsanordnungen wiedererkennen und
den Zuwachs wohl zu schätzen wissen.
Bolaños Werk wurde und wird häufig als "rätselhaft" bezeichnet, was
immer dieses Ausfluchtswort im konkreten Zusammenhang bedeuten mag.
Chaotisch, abenteuerlich, mehrschichtig und mitunter fordernd ist es
jedenfalls, vielleicht sogar stellenweise eine Art Spiegelkabinett, doch
das lässt sich auch über die Werke zahlreicher anderer Autoren mit Recht
sagen. Und dass Bücher manchmal rätselhaft bleiben, liegt wohl einfach
in der Natur der Sache und ist für sich genommen wahrlich noch kein
Qualitätsmerkmal, sondern bisweilen einfach das Ergebnis manischer
(postmoderner?) Vielschreiberei und stilisierter Egozentrik. Daraus
zwangsläufig eine Legende ableiten zu wollen, ist nicht weniger
rätselhaft.
Heinrich von Berenberg merkt in seinem Nachwort an: "Und jene
eigentümliche Pointenlosigkeit, mit der Bolaño seine Leser immer
wieder am Ende zurücklässt - erinnert sie nicht an ein Lieblingsmotiv
des von ihm geschätzten Luis Buñuel: der verbotene Zugang, für den es
keine Begründung gibt?" (S. 187)
Manches muss eben unerklärlich sein und bleiben, ein immerwährendes
Rätsel quasi.
Womöglich könnten noch weitere Veröffentlichungen aus dem angeblich
extrem umfangreichen literarischen Nachlass auftauchen, sodass der
Klappentext mit der Feststellung "die letzte große Entdeckung aus
Bolaños Werk" vielleicht doch keinen endgültigen Schlussstrich
zieht?
(Irmgard Ernst; 09/2020)
Roberto
Bolaño: "Cowboygräber. Drei Erzählungen"
(Originaltitel "Sepulcros De Vaqueros")
Übersetzt aus dem Spanischen von Luis Ruby, Christian Hansen.
Hanser, 2020. 192 Seiten.
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Ein weiteres Buch des
Autors:
"Monsieur Pain"
Im Frühling 1938 wird Monsieur Pain, ein Akupunkteur und Anhänger des Magnetismus,
in ein Pariser Krankenhaus gerufen. Er soll den peruanischen Dichter
César Vallejo von einem rätselhaften Schluckauf heilen.
Doch noch bevor er helfen kann, sieht sich Pain in eine komplexe Intrige
verwickelt. Wer ist dieser Südamerikaner, der dort im Krankenhaus
vor sich hinstirbt? Und warum wünschen sich einige dunkle Kräfte seinen
Tod?
Allein Pain erkennt, was sich hinter den Kulissen abspielt. Dabei ist er
gar kein Held, sondern ein ganz gewöhnlicher Mann: alleinstehend,
heimlich verliebt und offensichtlich auserwählt, sich mit diesem
mysteriösen Fall auseinanderzusetzen. (S. Fischer)
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